Katzelmacher (1969)
Liebe ist kälter als der Tod (1969)
Der amerikanische Soldat (1970)
Götter der Pest (1970)
Warum läuft Herr R. Amok? (1970)
Händler der vier Jahreszeiten (1972)
Die bitteren Tränen der Petra von Kant (1972)
Martha (1974)
Angst essen Seele auf (1974)

Katzelmacher
Deutschland 1969, 88 Minuten
Regie: Rainer Werner Fassbinder


Drehbuch: Rainer Werner Fassbinder, nach seinem Bühnenstück
Musik: Peer Raben, nach Franz Schuberts „Sehnsuchtswalzer“
Director of Photography: Dietrich Lohmann
Schnitt: Franz Walsch (= Rainer Werner Fassbinder)
Darsteller: Hanna Schygulla (Marie), Lilith Ungerer (Helga), Elga Sorbas (Rosy), Doris Mattes (Gunda), Rainer Werner Fassbinder (Jorges), Rudolf Waldemar Brem (Paul), Hans Hirschmüller (Erich), Harry Baer (Franz), Peter Moland (Peter), Hannes Gromball (Klaus), Irm Hermann (Elisabeth), Katrin Schaake (Frau im Restaurant)

„Ist auch egal eigentlich, wo man hinkommt“

„Eigentlich hätte dies ein Stück
über ältere Leute werden müssen.
Aber es sollte am ‘antitheater’ (1)
realisiert werden.
Jetzt sind sie alle jung.“
(Rainer Werber Fassbinder)

Marie (Hanna Schygulla) geht mit Erich (Hans Hirschmüller), Paul (Rudolf Waldemar Brem) schläft mit Helga (Lilith Ungerer), Elisabeth (Irm Hermann) gestattet Peter (Peter Moland) den Aufenthalt in der von ihr finanzierten Wohnung mit den von ihr finanzierten Lebensmitteln und Kleidern, Rosy (Elga Sorbas) träumt von einer Fernsehkarriere und schläft mit Franz (Harry Baer) – für Geld. Gunda (Doris Mattes) ist allein, ihr Freund irgendwo auf Montage. Paul treibt es zudem mit Klaus (Hannes Gromball) und zwar für Geld.

Eine Hauswand, zwei kleine und ein großes Fenster; Geranien und irgendein Gestrüpp zieren die Blumenkästen. Vor der Wand zieht sich eine Absperrung, hinter der es wohl in den Keller geht. Wie die Vögel sitzen Marie, Erich und die anderen auf der Stange der Absperrung, mal geht einer, mal kommt einer. Sie schauen nach vorne, in Richtung Publikum, aber sie schauen, stieren eigentlich ins Nichts, der eine dort hin, die andere da hin. Die Besetzung der Stange wechselt. Was gesagt wird, bedeutet nichts, was nicht gesagt wird, bedeutet alles. Die Kamera ist statisch und damit bewusst immer als solche präsent. Sie fängt dieses Bild von den genannten Figuren wie für ein Fotoalbum ein. Knips. Wie durch ein Guckloch blickt man die Personen an, als ob man von der Straßenseite gegenüber hierher schaue. Auch wenn sie am Tisch sitzen und Karten spielen, die Plätze wechseln, zwei Männer auf die Toilette gehen, die anderen sich wieder anders gruppieren – die Bewegungen, die sie vollziehen, haben mit Bewegung kaum etwas zu tun.

Die Beziehungen der Personen sind eindeutig bestimmt durch Geld und Gewalt. Erich schlägt Marie, Paul Helga, Peter lässt sich von Elisabeth aushalten, Rosy lässt sich von Franz, der Arbeit hat und Geld, für Sex bezahlen. Der Sex der anderen ist nicht anders. Wenn Helga danach Paul, der sich gerade die Hose anzieht, am Bein festzuhalten versucht, um mehr zu bekommen als Tauschhandlung, wird sie mehr als unsanft zurückgestoßen. Nackt und gekrümmt liegt sie im Bett, gibt aber keinen Ton von sich, sagt nichts, schreit nicht, protestiert nicht. Später legt sie ihren Kopf wieder an seine Schulter. Das ist eingespielt, eingefahren. Es gibt kaum einen Unterschied zwischen Tätern und Opfern, ihre Rollen wechseln in der Mechanik und Vorgeschriebenheit ihres eigenen Verhaltens.

In der Luft der jungen Leute liegt zudem Kriminalität. Erich und Paul denken über das große Geld nach. Daraus wird nichts. Nichts, was irgendwie fassbar wäre.

„Es ist besser, neue Fehler zu machen,
als die alten bis zur allgemeinen
Bewusstlosigkeit zu konstituieren“,

zitiert Fassbinder anfangs des Films Yaak Karsunke (2). Als Jorges (Rainer Werner Fassbinder) von Elisabeth als Untermieter aufgenommen wird, ändert sich einiges und letztlich ändert sich nichts. Die Männer halten wie Pech und Schwefel gegen den griechischen „Fremdarbeiter“ zusammen, er bezieht sogar ordentlich Prügel. Auch Gunda zieht über ihn her und verbreitet, er habe sie am Kinderspielplatz vergewaltigt. Schnell ist Jorges auch noch Kommunist. Man zimmert sich aus seiner Anwesenheit ein wunderbares Feindbild. Und wieder läuft alles über Gewalt, Sex und Macht. Jorges, erzählt Peter den anderen Männern, sei besser gebaut als sie, „vor allem am Schwanz“. Er wolle Geld und er sei verdorben, behaupten andere.

Marie: „Im Sommer nimmt er mich mit nach Griechenland.“
Helga: „Und seine Frau?“
Marie: „Das macht nichts. In Griechenland ist alles anders wie da.“
Helga: „Ich weiß nicht. Einfach wegfahren. Und so weit.“

Die Verhältnisse scheinen nur durcheinander geraten. Scheinen. Peter glaubt, Elisabeth schlafe mit Jorges, geht zu Rosy mit Geld, um auch mit ihr zu schlafen. Sex ist hier nichts anderes als der Versuch, eigene Macht zu gewinnen. Aber Rosy will nicht, hat ein Angebot für eine Rolle beim Fernsehen, sagt sie. Erich treibt’s mit Helga. Peter trifft eine Frau (Katrin Schaake), die was hermacht: sie ist gut angezogen und hat ein Auto. Marie verlässt Erich und geht mit Jorges. Sie träumt von einem anderen Leben in Griechenland. Aber die Träume haben nichts Handfestes, sind schwache Sehnsüchte, unterentwickelt, eigentlich fast gar nicht entwickelt – wie die Spaziergänge der Paare, die in den Film eingestreut sind, begleitet von Schuberts „Sehnsuchtswalzer“ (überarbeit von Peer Raaben).

Der Grieche bringt nur scheinbar Unordnung in die öde Welt und die Tristesse des Lebens – und bezieht dafür die Prügel, dass er nicht so ist, wie die anderen ihn beschimpfen, sondern dass alle anderen so sind, wie sie es von Jorges behaupten. Die Welt dieser jungen Leute ist eine ohne Gefühle. Selbst die Gewalt hat kaum etwas Emotionales, sondern dient bei Schläger und Geschlagenen nur der Wiederherstellung der Ordnung der Bindungslosigkeit und kalten Abhängigkeit. „Der Grieche muss weg, eine Ordnung muss wieder her. Rache muss sein.“ Zuvor waren sie alle über Rosy hergezogen, die sich für Geld verkauft. Der Polizei müsse man das melden, hatte Gunda gemeint. Jetzt ist es der Grieche und morgen?

Die ewige Wiederkehr dieser Abfolgen, die Aufrechterhaltung dieses psychisch eingefahrenen, aber nicht verrosteten, sondern gut geschmierten Mechanismus aus den Elementen Geld und Gewalt, der die Beziehungen der Charaktere vollkommen zu beherrschen scheint, beinhaltet eine noch kaum sichtbare, aber vor dem Hintergrund seiner späteren Filme in der Rückschau doch erkennbare Verbindung zwischen zwei Elementen in Fassbinders Werk. Die Art und Weise, wie er seine Geschichten auf die von einzelnen Personen fokussiert, führt uns zu einer Geschichte auch des Landes, in dem sie spielen – insbesondere vor dem Hintergrund der NS-Vergangenheit.

Fassbinder zeigt zudem, wie das vermeintlich „Fremde“ in das vermeintlich „Eigene“ „eindringt“ – um in der Sprache der Rassisten zu bleiben –, aufgenommen, verarbeitet wird, bis es zu einem Teil des „Eigenen“ wird, in dem das „Fremde“ zwar noch aufgehoben, aber zu weiten Teilen verhackstückt ist. Jorges wird vielleicht bleiben, vielleicht nicht. Das lässt der Film offen, und muss es im Jahr 1969 offen lassen. Neben das Prophetische in bezug auf die gut zehn Jahre später einsetzende Welle ausländerfeindlicher Kampagnen zu Beginn der Ära Kohl und die visuelle Verarbeitung der „Kritischen Theorie“ bezüglich des von ihr behaupteten „autoritären Charakters“, der zum Gutteil den Faschismus hervorgebracht habe, tritt eine geradezu tragische, durch die statische Kamera immer wieder hervorgehobene Visualisierung einer Gesellschaft, in der sich „nichts tut“, sich alles im Kreis bewegt, sich nichts ändern kann.

„Katzelmacher“ – übrigens ein bayerisch-österreichisches Schimpfwort für Fremde – deutet schon hin auf die späteren Filme, in denen das Melodramatische im Rückbezug auf Fassbinders „Vorbild“ Douglas Sirk die Beziehungen zwischen Personen und Gesellschaft noch deutlicher konturiert. In „Katzelmacher“ ist es vor allem die minimalistische Sprache, eine fast tote Sprache, die zum Ausdruck von Verhalten wird, dessen sich die Handelnden nicht (mehr) bewusst sind. Die Gesellschaft, die sie repräsentieren, ist erstarrt und dreht sich in immer gleichen Bahnen.

(1) Theater in Frankfurt, an dem Fassbinder einige Zeit experimentierte. Später wurde ihm gekündigt. Seine Feinde hatten gewonnen (vgl. dazu: Gerhard Zwerenz, Der langsame Tod des Rainer Werner Fassbinder. Ein Bericht, München 1982).

(2) Yaak Karsunke wurde am 4. Juni 1934 in Berlin geboren. Nachdem er eine kurze Zeit Jura studiert hatte, begann er eine Schauspielausbildung und hielt sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser. In München war er 1965 bis 1968 Chefredakteur der alternativen, linken Zeitschrift kürbiskern, die er mit begründet hatte. 1976 bis 1979 lehrte er an der Deutschen Film- und Fernsehakademie, seit 1981 an der Berliner Hochschule der Künste im Fach Schauspiel.



Liebe ist kälter als der Tod
Deutschland 1969, 85 Minuten
Regie: Rainer Werner Fassbinder

Drehbuch: Rainer Werner Fassbinder
Musik: Peer Raaben, Holger Münzer
Director of Photography: Dietrich Lohmann
Schnitt: Franz Walsch (Rainer Werner Fassbinder)
Produktionsdesign: Rainer Werner Fassbinder, Ulli Lommel

Darsteller: Rainer Werner Fassbinder (Franz), Ulli Lommel (Bruno), Hanna Schygulla (Joanna), Katrin Schaake (Dame im Zug), Gisela Otto, Ingrid Caven, Ursula Strätz (drei Prostituierte), Monika Nüchtern (Erika, Kellnerin beim Türken), Hans Hirschmüller (Peter), Les Olvides (Georges), Peer Raaben (Jürgen), Howard Gaines (Raoul), Irm Hermann (Verkäuferin), Peter Moland (Syndikatsvertreter), Kurt Raab (Aufsichtsperson im Kaufhaus), Peter Berling (Schuhmacher und Waffenhändler), Anastassios Karalas (Türke), Rudolf Waldemar Brem (Polizist auf Motorrad), Yaak Karsunke (Kommissar), Hannes Gromball (Kunde von Joanna)

Man hat, was man liebt ...

„Es sind Leute, die, um leben zu können,
was ihnen lebenswert erscheint,
sich halt in Rollen begeben, die
eigentlich nicht die ihren sind. Das
ist natürlich etwas Trauriges
oder auch etwas Schönes.“
(Rainer Werner Fassbinder)

Weiße Wände, kahl, doch das Licht bringt ein bisschen Wärme in den Raum, in dem sich vier Personen aufhalten, gefangen, schweigend, wartend. „Das Syndikat wünscht, dass Sie für uns arbeiten.” Vor einem mehr oder weniger modernen Ölgemälde, das so gar nicht in den Verhörraum passt, befragt ein Angestellter des Syndikats (Peter Moland), flankiert von zwei dunklen Gestalten mit ebenso dunklen Sonnenbrillen, Georges (Les Olvides) und Raoul (Howard Gaines), Franz the Pimp (Rainer Werner Fassbinder). Franz ist ein kleiner, erbärmlicher Zuhälter, der seine Freundin Joanna (Hanna Schygulla) auf den Strich schickt. Er liebt Joanna. Er will frei sein und daher nicht für das Syndikat arbeiten. Prügel durch Raoul sind die Folgen dieser Weigerung.

Vier Männer warten. Einer kommt dazu, ein junger smarter Bursche mit klaren Augen, ein Gangster wie aus dem Buch, mit Mantel und Hut und Sonnenbrille. Bruno gesellt sich zu Franz und Peter (Hans Hirschmüller). Bruno scheint dem amerikanischen Gangsterfilm der 30er und 40er Jahre entsprungen. Er hat sich einer Geschmacksrichtung verschrieben, einer Mentalität und dem entsprechenden Outfit. Bruno lacht kaum. Niemand lacht hier eigentlich. Bruno geht auf Franz zu, fragt ihn aus. Bruno ist ein Lockvogel, einer, den das Syndikat auf Franz ansetzt, um ihn zu ködern, zu zwingen, mit denen, die Franz nicht kennt, die unsichtbar bleiben, zu kooperieren. Fünf Männer legen sich schlafen, auf Decken, die sie in dem karg eingerichteten Raum, den niemand verlassen darf, ausgebreitet haben. Zum Schein haben sie Bruno verprügelt. Das schafft Nähe zu Franz, und Franz mag Bruno, lädt ihn nach München ein, in sein Milieu, sein merkwürdiges Zuhause zwischen Strich und kleinen Verbrechen.

„Mir geht es darum, dass das
Publikum, das diesen Film sieht,
die eigenen, ganz privaten Gefühle
überprüft [...] Das finde ich politischer
oder politisch aggressiver und
aktiver, als wenn ich jemandem
die Polizei als die großen
Unterdrücker zeige.“
(Rainer Werner Fassbinder)

Bruno sitzt im Zug nach München. Ihm gegenüber sitzt eine schöne Frau (Katrin Schaake), eine blonde, die ihn ständig ansieht, ihm einen Apfel gibt, die ihre linke Schulter frei macht, mit der Hand an ihrem Hals entlang fährt. Wieder so eine Frau, die Zärtlichkeit will, Liebe, Zuneigung? Bruno antwortet. Schon als Jugendlicher habe er einen Jungen tot geprügelt. Er nimmt aus der Handtasche der Dame, die diese auf die Ablage am Fenster gelegt hat, Geld. Bruno wird bezahlt, aber nicht für Zuneigung.

Bruno sucht Franz. Drei Prostituierte (Gisela Otto, Ingrid Caven, Ursula Strätz) weisen ihm den Weg. Alle wollten etwas anderes von Bruno, aber der will nur zu Franz. Ferne, kaum merkbare Sehnsüchte machen sich in den Gesichtern der drei Frauen breit. Sie müssten bezahlt werden, die drei Frauen, aber sie wollen auch anderes. „Wieso Joanna, wieso nicht mich?” Prostitution ist bei Fassbinder nie nur Geschäft. Es ist die letzte Station von Sehnsucht und Hoffnung.

„Wie war’s?” fragt Franz seine Joanna. Sie legt ihm die Tageseinnahmen hin. Ihren Anteil steckt sie ein.

Franz zu Bruno:
„Bin aus München. Ich hab’ ‘nen
Mädchen da. Die hab’ ich lieb.“
Joanna zu Franz:
„Wir sollten eine Wohnung
haben, wo wir bleiben können –
und ein Kind – und Ruhe.“

Franz schweigt. Auch Franz hat sich einen Habitus zugelegt. Er nennt sich frei. Er macht, was er will, meint er. „Man hat, was man liebt, weil man liebt, was man hat” (Pierre Bourdieu). Franz hat seinen miesen Gangsterhabitus und er hat Joanna, die Prostituierte. Er liebt beides, weil er es hat. Warum hat er es?

Bruno kommt. Franz mag Bruno, weil er Bruno „hat”. Er erzählt Bruno, man beschuldige ihn zu Unrecht, einen Türken getötet zu haben, und nun seien dessen Freunde hinter ihm her. Bruno verführt Franz. Aber eigentlich ist das keine Verführung. Denn dass Franz nun Bruno folgt, ergibt sich logisch aus seinem Habitus. Man kauft eine Waffe bei einem Schumacher (Peter Berling). Bruno tötet ihn. Er tötet den Freund des Türken, auch ein Türke (Anastassios Karalas), und auch die Zeugin im Lokal des Türken (Monika Nüchtern). Später schlägt Franz noch einen Kunden (Hannes Gromball) von Joanna zusammen, den Bruno auf eine Müllkippe bringt und erschießt. Immer enger zieht Bruno Franz in seine Nähe durch Mord. Bruno erschießt einen Polizisten (Rudolf Waldemar Brem) während eines Spaziergangs, weil der nach den Papieren von Franz, Bruno und Joanna fragt. Die gemeinsame Gewalt ist für Bruno Mittel zum Zweck, für Franz Ausdruck einer Gangsterfreundschaft. Er bietet Joanna Bruno an. Er merkt nicht, dass er sie ihm zum Fraß vorwirft. Joanna mag Bruno nicht. Sie lacht ihn aus, als er vor Franz Augen ihre Bluse öffnet. Franz haut ihr eine runter. „Warum hast Du das getan?” „Weil Du Bruno ausgelacht hast. Und Bruno ist mein Freund.” „Und ich?” „Du? Du liebst mich sowieso.”

Die Polizei vernimmt Franz wegen der Morde an dem Türken und der Kellnerin, aber am nächsten Tag müssen sie ihn wieder freilassen. Nur Joanna erkennt, wie weit sie und Franz sich in die Abhängigkeit von Bruno begeben haben. Als Franz durch den Kommissar (Yaak Karsunke) vernommen wird, schläft sie mit Bruno, geht mit ihm einkaufen. Wie ein Ehepaar gehen sie durch den Supermarkt – begleitet von einer verfremdet gespielten Arie aus Strauß’ „Rosenkavalier”.

Eine Scheinehe, ein Schein-Ehepaar, ein Schein von Ehepaar, denn sie sind keines und werden nie eines sein. Bruno schleicht sich in das Vertrauen von Joanna, aber er begreift nicht, dass Joanna ihn längst durchschaut hat und durch ihre scheinbare Nähe zu ihm Bruno austricksen will. Sie verrät den von Franz und Bruno geplanten Bankraub an den Kommissar.

Was bleibt? Bruno wird erschossen. Der Killer, den Bruno auf Joanna angesetzt hatte, sucht das Weite, als er die Polizei bemerkt. Franz und Joanna flüchten im Auto mit dem toten Bruno, den sie irgendwo unterwegs den Verfolgern, der Polizei, vor das Auto werfen. „Ich habe die Polizei angerufen”, gesteht Joanna. Franz Antwort: „Nutte.” Beide fahren durch die triste Landschaft, die sich langsam in einem blendenden Weiß auflöst – ins Ungewisse? Oder ins Gewisse?

„Was übrig bleibt, wenn man
diesen Film gesehen hat, das ist
nicht, dass hier jemand sechs Leute
ermordet hat, dass es hier ein paar
Tote gegeben hat, sondern dass hier
arme Leute waren, die nichts mit
sich anfangen konnten, die einfach
so hingesetzt wurden wie sie sind,
und denen keine Möglichkeit gegeben
wurde – so weit wollen wir da gar
nicht gehen – die einfach keine haben,
die schlichtweg keine Möglichkeit haben.
Das ist meiner Ansicht nach das,
was übrig bleibt. Denn die anderen,
die Szenen ohne Gewalttätigkeit, sind
ungeheuer viel länger. Das sind etwa
70 Minuten gegen nur 10 Minuten Totschlag.“
(Rainer Werner Fassbinder)

„Liebe ist kälter als der Tod”, sein erster Spielfilm, gehört zu einer Reihe von Gangsterfilmen (u.a. „Götter der Pest”, 1970, und „Der amerikanische Soldat”, 1970), in denen Fassbinder aus seiner Sympathie für den alten amerikanischen Gangsterfilm, aber vor allem für Godard und Melville („Der eiskalte Engel”, 1967) kein Hehl macht. Der Film ist Chabrol, Rohmer, Straub und zwei Gangsterfiguren in einem Western von Damiani („Töte Amigo”) von 1966 gewidmet. Aber Fassbinder lässt schon hier spüren, dass es ihm nicht um Selbstverliebtheit in das Kino geht. Das Zitieren des Genres ist bei ihm kein Selbstzweck. Er schildert diejenigen, die ihm am Herzen liegen, die er arme Leute nennt, die keine Wahl haben, weil sie sich anscheinend freiwillig eine Attitüde zugelegt haben, in der sie voll aufgehen, hier der Gangstermentalität, im Innern wie im Äußeren.

Obwohl die Inszenierung manchmal etwas unbeholfen und steif wirkt, tut dies der Wirkung des Films keinen Abbruch. Fassbinder stellt die Frage nach Freiheit und Notwendigkeit, nach Selbstbestimmung und Zwang nicht als Frage der individuellen Wahl, denn dann würde er sie als Frage der Freiheit stellen und die Frage selbst ad absurdum führen. Schon dieser Erstlingsfilm vermittelt die in späteren Filmen noch präziser visualisierte Frage nach unserer Kultur und dem individuellen Empfinden dieser Kultur, auch in bezug auf das Publikum. Freiheit und Zwang sind bei Fassbinder eher Ausdruck einer kulturell tradierten und vermittelten Verbundenheit, denn „Gegenpositionen”, zwei Seiten einer Medaille. Der Habitus des Gangsters, noch dazu des (durch das Kino) inszenierten Gangsters „verkommt” in den Gestalten des Franz und des Bruno zu einer Attitüde aus „zweiter Hand” (Hans Günther Pflaum). Was man wählt, ist schon vorhanden und täuscht Freiheit vor. Das kulturelle „Angebot” ist schon da und die Alternativen sind kein Ausdruck von Freiheit, sondern von Freiheit als Zwang.

Die Kommunikationsdefizite der Personen, ihre Sprachlosigkeit angesichts dessen, was sie an Emotion und Bedürfnis formulieren „müssten”, aber nicht können, deutet auf den Zwang einer Kultur, die in ihrer grenzenlos liberalen oder auch libertinären Ausrichtung nur einen Schein produziert, an dem so einige zugrunde gehen. „Man hat, was man liebt, weil man liebt, was man hat.” Das, was man „hat”, simuliert den Schein von Besitz. Das, was man liebt, erzeugt den Schein von Freiheit. Wenn Franz am Schluss auf den Verrat von Joanna, der nur Ausdruck des Bedürfnisses nach Liebe war, antwortet: „Nutte”, so zeugt dies davon, dass Franz nichts wirklich erkannt hat. Schon in diesem ersten Film Fassbinders sind es die Frauen, Joanna, aber auch die drei Prostituierten, die für die Sehnsucht und die Liebe jenseits kultureller Schranken stehen. In der Figur der Joanna drückt sich aus, was nicht nur in „Lili Marleen” wieder aufgenommen wird.

(1) Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main, 1982, S. 195



Der amerikanische Soldat
Deutschland 1970, 77 Minuten
Regie: Rainer Werner Fassbinder

Drehbuch: Rainer Werner Fassbinder
Musik: Peer Raaben, Rainer Werner Fassbinder („So much tenderness“; gesungen von Günter Kaufmann)
Director of Photography: Dietrich Lohmann
Schnitt: Thea Eymesz
Produktionsdesign: Rainer Werner Fassbinder, Kurt Raab

Darsteller: Karl Scheydt (Ricky), Elga Sorbas (Rosa von Praunheim), Jan George (Jan), Hark Bohm (Doc), Marius Aicher (Max), Margarethe von Trotta (Zimmermädchen), Ulli Lommel (Zigeuner), Katrin Schaake (Magdalena Fuller), Ingrid Caven (Inga, Sängerin), Eva Ingeborg Scholz (Rickys Mutter), Kurt Raab (Kurt, Rickys Bruder), Irm Hermann (Hure), Gustl Datz (Polizeipräsident), Marquard Bohm (Privatdetektiv), Rainer Werner Fassbinder (Franz Walsch)

Tote in München ...

Ist Ricky cool? Kaum. Ricky (Karl Scheydt) stammt aus München, heißt eigentlich Richard, aber Amerika machte aus ihm Ricky und einen Soldaten in Vietnam. Als sein Jugendfreund Franz Walsch (Rainer Werner Fassbinder) ihn nach seiner zeitweisen, beruflich bedingten Rückkehr nach München fragt: „Wie war’s in Vietnam?“ – so, als ob er fragen würde, wie war’s im Spielcasino –, antwortet Ricky kurz und trocken: „Laut.“ „Ah ja?“ erwidert Franz. „Hier ist nix passiert.“ „In Deutschland passiert nie was.“ Die beiden besuchen das Haus, in dem sie aufgewaschen sind, trinken Bier, treffen auf eine Nachbarin, die sie wiedererkennt, und gehen mit der Feststellung: „Hier hat sich nichts verändert.“

Der Dialog, das Outfit der Figuren, die ganze Szenerie von „Der amerikanische Soldat“ erinnern eindeutig an den amerikanischen Gangsterfilm der 40er Jahre, an die Coolness und Abgefeimtheit der visuell in Szene gesetzten Mafiosi und Polizisten. Helle Anzüge, Bogart-Hüte, schmale Krawatten, weiße Hemden. Ricky war es in Vietnam zu laut. Jetzt hat er einen Beruf, in dem es leise zugeht, bedächtig fast. Das Töten hat er nicht aufgegeben; er ist Auftragsmörder. Aber das Morden findet in aller Stille statt, im Kämmerlein ohne Zeugen, nicht auf dem Feld der Ehre, mit der handlichen Pistole, nicht mit Mörsern und Maschinengewehren.

Der filmische Gangsterlook der 40er Jahre scheint „Der amerikanische Soldat“ zu beherrschen. Das Verhalten der Spielenden scheint dies zu untermauern. Von einer Hommage an das Genre wird in Filmbesprechungen geredet. Aber Fassbinder wäre nicht Fassbinder gewesen, wenn es ihm darum gegangen wäre.

Ricky ist gekauft worden. Nicht von irgend jemand. Nein, von den drei Polizisten der Münchner Kripo Jan (Jan George), Doc (Hark Bohm) und Max (Marius Aicher), die sich einiger Verdächtiger entledigen wollen. Sie können nicht einfach selbst Hand anlegen. So einfach ist das für einen Polizisten nicht, Verbrecher einfach selbst zu töten. Die drei warten, ruhig am Tisch sitzend und Karten spielend, aber innerlich gespannt, wann Ricky endlich erscheinen wird. Rosa (Elga Sorbas) darf zuschauen. Frauen haben in dieser Männerangelegenheit und -welt nichts zu sagen. „Halts Maul“ ist die ultimative Aufforderung an die Frauen zu gehorchen. Die drei pokern, auf den Karten nackte Frauen und eindeutige Szenen. Da wechseln große Scheine den Besitzer und Jan geht meist als Sieger hervor, Hark träumt von den Nackten auf den Karten.

Ricky fährt derweil in einem Auto zum Hotel – ganz Ami. Neben ihm sitzt eine Hure (Irm Hermann), die kichert, und mehr von Ricky zu wollen scheint, als eine Hure von ihrem Freier will. Was soll Ricky anderes tun, als sie rauszuwerfen? An einer dunklen Stelle, irgendwo auf dem Weg zum Hotel, schmeißt er sie zu Boden und schießt dreimal auf sie – mit Platzpatronen; sie erschreckt, er lacht. Ricky kann jede haben und jede wegschmeißen, auch das Zimmermädchen (Margarethe von Trotta) im Hotel, das ihm eine Flasche Whiskey, Marke Valentine, aufs Zimmer bringt, später ein Steak mit Ketchup und einen Tomatensaft. Ricky packt und küsst sie, dann schmeißt er sie raus.

Ricky soll einen Zigeuner (Ulli Lommel) für die drei Bullen töten. Ricky soll auch die zumeist betrunkene Informantin Magdalena Fuller (Katrin Schaake) töten, die in einer Bar Pornoheftchen verkauft und Ricky für 500 Mark verrät, wo sich der Zigeuner, der von drei Männern beschützt wird, aufhält. Dort trifft er Inga (Ingrid Caven) wieder, die ein trauriges Liebeslied singt. Auch sie hat er einmal gehabt. „Was machst du so“, fragt er sie, „Ich bin verheiratet ... mit ihm“, antwortet sie und zeigt auf den Barkeeper. Ricky geht wieder.

Ricky kennt keine Skrupel. In der Zigeunersiedlung trifft er auf den schwulen Zigeuner, den er töten soll, der davon nichts ahnt, der in Ricky einen Partner fürs Bett sieht. Das wird ihm zum Verhängnis. Ricky tötet auch Magdalena und ihren Freier. Ricky besucht seine Mutter (Eva Ingeborg Scholz) und seinen Bruder Kurt (Kurt Raab). Kurt, der seinen Bruder zugleich abgöttisch zu lieben und abgrundtief zu hassen scheint, bricht zusammen, als Ricky wieder geht. Die Mutter beauftragt einen Privatdetektiv, Ricky zu beobachten.

Als Ricky nach zwei Morden ins Hotel zurückkehrt, bestellt er über den Portier, einen Informanten der drei Polizisten, eine Hure. Jan, vom Portier informiert, schickt ihm Rosa. Ricky verspricht ihr, sie mit nach Japan zu nehmen. Als die beiden nackt im Bett liegen, kommt das Zimmermädchen herein, sieht sie uns setzt sich auf den Rand des Bettes. Sie erzählt die Geschichte einer verlorenen Liebe. Als das Telefon klingelt, verlässt sie das Zimmer. Als Ricky und Rosa das Zimmer verlassen, sehen sie, wie das Zimmermädchen telefoniert. Sie spricht mit einem Mann, der sie verlassen will. Sie hängt auf und stößt sich ein Messer in den Bauch. Ricky und Rosa sehen wie sie schreit und stirbt – und verlassen das Hotel, als ob sie das alles nichts angehe. Was geht es sie auch an?

Als Jan erfährt, dass Rosa ihn verlassen will, beauftragt er Ricky, Rosa ebenfalls zu töten. Ricky erfüllt seinen Auftrag. „Glaubst du wirklich, ich wäre zum Bahnhof gekommen?“ fragt er Rosa, bevor er sie in die Arme nimmt und erschießt.

Der Detektiv meldet Rickys Mutter die geplante Abfahrt des Killers. Auf dem Bahnhof kommt es zum Showdown. Als Ricky das Geld für die Morde aus einem Schließfach holen will, stehen die Polizisten mit gezogener Waffe vor ihm. Ricky, der seinen Freund Franz zum Bahnhof bestellt hat, weil er vorsichtig ist, scheint verloren. Doch Franz erscheint mit einer Waffe im Rücken der Polizisten. Für Ricky scheint alles wieder in Ordnung, bis seine Mutter und Kurt auftauchen. Als sich Ricky und Franz unachtsam zu ihnen umdrehen, werden sie von Jan erschossen. Kurt stürzt sich auf den sterbenden Bruder, wälzt sich auf ihm, hält ihn in den Armen. Beider Mutter steht regungslos da.

Kein anderer deutscher Regisseur hat menschliche Beziehungsgeflechte derart gründlich seziert wie Rainer Werner Fassbinder, für mich der letzte bedeutende deutsche Nachkriegsregisseur von Weltformat. Nicht nur in „Der amerikanische Soldat“ visualisiert Fassbinder die Unmöglichkeit dauerhafter positiver Gefühlswelten angesichts der Überwölbung menschlicher Beziehungen durch Geld und Macht. Ricky ist der Prototyp des amerikanischen Kinogangsters, aber bei Fassbinder wird er mehr, zum Aushängeschild einer fast gefühllosen Regelung des Lebens. Ricky handelt geradezu mechanisch. Für ihn existiert nur der Auftrag und dessen Bezahlung. Was er braucht, Valentine-Whisky oder Frauen, nimmt er sich. Erinnerungen an die Jugend, die Familie, den Freund Franz haben rein instrumentellen Charakter. Sie sind in ihrer Bedeutung zur Bedeutungslosigkeit und Funktionalität im Hinblick auf seinen „Beruf“ verkommen. Der Besuch bei Mutter und Bruder hat nicht mehr zu bedeuten als die Beziehung zu Rosa – Ereignisse unter vielen, im Rahmen von Geben und Nehmen.

Frauen und Schwule stehen auf verlorenem Posten. Das Zimmermädchen bringt sich um. Rosa von Praunheim, die nicht umsonst den Namen des schwulen Filmemachers trägt, dessen „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“ 1971 für Aufsehen sorgte, wird ermordet, die Barsängerin Inga lebt in Ödnis mit dem Barkeeper, der nie verstehen wird, wie sie meint, was sie mit Ricky verbunden hat, die Mutter Rickys muss zusehen, wie ihr Sohn erschossen wird, der schwule Zigeuner wird erschossen und Rickys Bruder Kurt (gespielt vom 1988 verstorbenen Kurt Raab, dem ersten prominenten AIDS-Opfer) verzweifelt angesichts des Todes seines Bruders. Frauen und Schwule träumen von der Liebe, sehnen sich nach Zuneigung, selbst die Hure, die Ricky aus dem Auto wirft. Vergeblich.

Wenn überhaupt Gefühle ansonsten zum Vorschein kommen, dann Angst und Rachegelüste. Max, der Polizist, hat Angst davor, dass die vor den Augen des Polizeipräsidenten verdeckte Beauftragung eines Berufskillers ihm die Karriere kosten könnte, wenn alles auffliegt. Jan beauftragt den Killer aus Rache an Rosa, die ihn verlassen will, zum Mord an ihr. Macht beherrscht die Szenerie.

Macht auch in dem Sinne, dass die staatliche Gewalt über die Gangstergewalt obsiegt, wie Fassbinder selbst seinen Film kommentierte. Ricky hat im Grunde keine Chance. Staatliche wie Gangstergewalt bedienen sich derselben Mittel, in ihrem Verhalten unterscheiden sich Polizisten wie Gangster nicht. Aber die staatliche Gewalt sitzt am längeren Hebel.

So geht es Fassbinder in „Der amerikanische Soldat“ also kaum um eine Dekonstruktion des amerikanischen Gangsterfilms. Das Genre ist nur die Hülle, unter der er die Unmöglichkeit der Entwicklung privater Gefühle frei vom Prinzip Herrschaft und Knechtschaft in aller Offenheit, das kann man schon sagen, visualisierte.



Götter der Pest
Deutschland 1970, 91 (88) Minuten
Regie: Rainer Werner Fassbinder

Drehbuch: Rainer Werner Fassbinder
Musik: Peer Raaben
Director of Photography: Dietrich Lohmann
Schnitt: Rainer Werner Fassbinder
Produktionsdesign: Kurt Raab

Darsteller: Hanna Schygulla (Johanna), Margarethe von Trotta (Margarethe), Harry Baer (Franz), Günter Kaufmann (Günther), Carla Egerer (Carla), Ingrid Caven (Magdalena Fuller), Jan George (Polizist), Lilo Pempeit (Mutter), Marian Seidowsky (Marian), Micha Cochina (Joe), Yaak Karsunke (Kommissar), Hannes Gromball (Supermarkt-Chef), Rainer Werner Fassbinder (Porno-Kunde), Kurt Raab (Kneipengast), Katrin Schaake (Wirtin), Lilith Ungerer (Mädchen im Café)

That there's no way to win ...

„Here we go again
She's back in town again
I'll take her back again
One more time
Here we go again
The phone will ring again
I'll be her fool again
One more time.“ (1)

„Götter der Pest“ gehört zu jenen Frühwerken Fassbinders, in denen er an den film noir anknüpfend den Gangsterfilm zum Ausgangspunkt einer „einfachen“ Geschichte nimmt, die von „einfachen“ Menschen erzählt, die sich „einfach“ aus ihrem Milieu nicht lösen können. Doch schon in diesen frühen Filmen werden die „großen“ Themen der späteren, den Melodramen von Douglas Sirk ähnelnden Filme wie etwa die der so genannten „BRD-Trilogie“ („Lola“, „Die Ehe der Maria Braun“, „Die Sehnsucht der Veronika Voss“), angedeutet: die Unmöglichkeit einer Liebe frei von Zwängen, Fassbinders (Ver-)Zweifeln daran, die Geschlechterbeziehungen, in denen Frauen oft stärker als Männer sind – und auch sensibler für alles mögliche –, und, wenn man so will, auch die fast schicksalhafte Verstrickung von Personen in die Geschichte und die Verstrickung der Geschichte in die Personen, die Analogie zwischen Geschichte und Biografie usw.

„Götter der Pest“ ist nicht frei von einem gewissen Sarkasmus, etwa wenn Franz kurz vor seinem Tod den Satz röchelt „Schuster bleib bei deinen Leisten“. Oder wenn Fassbinder den Decknamen des Gangsterbosses mit „Schlöndorff oder so ähnlich“ angibt (Bezugnahme auf den Regisseur Volker Schlöndorff). Auch eines seiner größten Projekte kündigt sich in gewisser Weise in „Götter der Pest“ schon an, wenn Franz in einem Hotel seinen Namen mit „Franz Biberkopf“ angibt. Später wird Fassbinder in einem Monumentalwerk für das Fernsehen Döblins Roman „Berlin Alexanderplatz“ in 13 Folgen und einem Epilog in einer Gesamtlänge von 887 Minuten inszenieren (1979/80). Franz (Walsch) ist der Name für Fassbinder, der auch in anderen Filmen auftaucht, und für Döblins Franz Biberkopf.

München, Stadelheim. Franz Walsch (Harry Baer) wird entlassen. „Bis zum nächsten Mal“, hört man eine Stimme. Der Franz trägt eine Lederjacke, einen Schnurrbart und lange Koteletten. Meist schweigt er, wirkt niedergeschlagen. Wie eine Maschine scheint er zu funktionieren, der Franz. In einem Café erkundigt er sich telefonisch nach Johanna (Hanna Schygulla). Die Johanna arbeitet in einer Bar, sie singt dort. Der Franz holt sie ab. Sie gehen was essen, in irgendeinem Restaurant. Dort sieht der Franz die Margarethe (Margarethe von Trotta). Kurz schauen sich die beiden in die Augen. „Jetzt bist du da“, sagt die Johanna und liebkost ihn. „War’s schlimm?“ fragt sie ihn. „Auch nicht anders als draußen“, antwortet der Franz.

Was soll er machen, der Franz? Er sucht seine alten Kumpels, seinen Bruder Marian (Marian Seidowsky) und dessen Freundin Magdalena (Ingrid Caven), er mietet sich in einem Hotel ein unter dem Namen Franz Biberkopf, zahlt nicht und türmt. Magdalena nimmt ihn mit zu sich. Marian ist verschwunden. Sie zieht ihn aus, und der Franz lässt es mit sich geschehen, wie er fast alles mit sich und überhaupt geschehen lässt.

Inzwischen ist die Polizei auf seiner Fährte. Der Kommissar (Yaak Karsunke) und der Polizist (Jan George) wollen an den Kopf der Bande heran, den „Gorilla“. Der Polizist will es über Johanna versuchen, an die er sich ranmacht. Währenddessen erfährt Franz von der Carla (Carla Egerer), die Pornoheftchen verkauft und immer informiert ist, wo der „Gorilla“ wohnen soll. „Er nennt sich Schlöndorff oder so ähnlich.“ Er geht hin, aber in der Wohnung liegt nur ein Toter – sein Bruder Marian. Der Franz nimmt auch das gelassen, geht zu Margarethe, in die er sich verliebt hat, weil die Johanna wollt er sowieso los werden, weil sie sich zu sehr an ihn hängt, ihm keine Freiheit lässt. Dabei weiß der Franz gar nicht so recht, was das ist: Freiheit.

Als die beiden die Wohnung verlassen, trifft der Franz auf seinen alten Kumpel Günther (Günther Kaufmann), und zu dritt fahren sie zu Joe (Micha Cochina) und verbringen einen Nachmittag auf dessen Bauernhof. Franz kann nicht anders: Mit Joe plant er erneut einen Überfall. Es wird Tote geben ...

„I've been there before
And I'll try it again
But any fool knows
That there's no way to win
Here we go again
She'll break my heart again
I'll play the part again
One more time.“ (1)

Die Geschichte vom Franz, der aus seiner Haut nicht heraus kann, der sich im Gefängnis nicht besser oder schlechter fühlt als draußen, ist in ihrer Art derart minimalistisch inszeniert, dass sie fast schon zu einem eineinhalbstündigen Klischee gerät. Doch dieses Klischee ist letztlich nichts anderes als ein auf ein absolut Notwendiges reduzierter film noir. Fassbinder erspart sich sozusagen jeden Schnörkel, jede Nebenhandlung, jedes Wort, das „zu viel“ wäre, jede optische „Überreizung“, ja sogar jede Überpointierung seines Helden oder irgendeiner anderen Figur. Nur so konnte der Film im übrigen auch im Münchner Unterschicht-Milieu spielen, so dass er als eigenartige Form des film noir glaubwürdig bleibt. Der Held ist ein armer Tropf, sprachlos der Welt, seiner Welt wie der, der er nicht zugehört, gegenüberstehend – ein Melodrama ohne bombastische Auswüchse, reduziert auf den Franz und die Johanna und die Margarethe und ein paar andere.

Die Welt, in der Franz groß geworden ist und lebt und aus der er nicht heraus kommt („but any fool knows that there’s no way to win“, wie es in dem Titelsong heißt), ist eine merkwürdig gefühllose Welt, wenn es um den Tod des Bruders, das Verlassen von Johanna, die Aktionen der Polizei usw. geht. Eine Männerwelt, in der diese Männer fast schon schematisch ihrem Muster folgen, das sie mit anderen verbindet: hier Franz und Günther und Joe, dort der Kommissar und sein ermittelnder Polizist. Den Frauen bleibt es vorbehalten, emotional zu reagieren. Johanna will ihren Franz wieder haben. Ihre enttäuschte Liebe (nachdem Franz zu Margarethe gegangen ist) treibt sie in den Verrat, so, wie Margarethes Liebe diese zum Verrat des letzten „großen Coup“ von Franz und Günther bewegt. Wieder einmal sind es die Frauen, die die Handlung entscheidend lenken, auch Carla, die die entscheidenden Informationen weiterleitet.

Doch es sind auch die Frauen, die sich täuschen, sich selbst etwas vormachen. Als Franz zeitweise bei Magdalena unterkommt, taucht Johanna bei ihr auf. Franz gehöre ihr. Ihre Begründung drückt ihre Verzweiflung und ihre Selbsttäuschung aus: „Er mag blond, das weiß doch jeder.“ Auch Margarethe täuscht sich in den Männern und sich selbst. Sie will ein Geschäft aufmachen, ist zur Not bereit, für Franz auf den Strich zu gehen, alles, um an Geld zu kommen, ohne in das Verbrechen zurückzukehren; aber Franz lässt sich nicht abhalten. Und Carla? Die Pornoheftchen-Verkäuferin? Sie muss mit ihrem Leben dafür bezahlen, dass sie Informationen an Johanna weitergegeben hat.

„Götter der Pest“ ist sozusagen – wenn man im nachhinein auf Fassbinders Gesamtwerk zurückschaut – eine Art vorbereitende Übung, eine Annäherung an den von ihm selbst gesuchten Film seiner Filme. Ich vermute, dass „Berlin Alexanderplatz“ tatsächlich „der“ Fassbinder-Film ist, wenn man es aus seiner Sicht betrachten würde, zumindest in einem vorläufigen Sinn, wenn man davon absieht, was er nach seinem letzten Film „Querelle“ noch vor hatte.

Die in „Götter der Pest“ visualisierten gescheiterten Existenzen aus der Unterwelt, die Verlierer, die ihrem Verlorensein nichts entgegenzusetzen haben, weil sie es nicht können oder wollen, sind andererseits auch bereits hier „nur“ eine Art Spiegelbild gesellschaftlicher Verhältnisse der Nachkriegszeit, die für Fassbinder zum zentralen Thema etlicher seiner Filme wurde.

(1) Text und Musik von Steagall and Lanier.
 

Warum läuft Herr R. Amok?
Deutschland 1970, 84 Minuten
Regie: Rainer Werner Fassbinder, Michael Fengler

Drehbuch: Rainer Werner Fassbinder, Michael Fengler
Musik: Peer Raben, Joachim Heider („Geh’ nicht vorbei”)
Director of Photography: Dietrich Lohmann
Schnitt: Rainer Werner Fassbinder
Produktionsdesign: Kurt Raab

Darsteller: Lilith Ungerer (Frau R.), Kurt Raab (Herr R.), Lilo Pempeit (Kollegin im Büro), Franz Maron (Chef), Harry Baer (Kollege im Büro), Peter Moland (Kollege im Büro), Hanna Schygulla (Schulfreundin), Ingrid Caven, Irm Hermann, Doris Mattes (Nachbarinnen), Hannes Gromball (Nachbar), Vinzenz Sterr (Opa Raab), Maria Sterr (Oma Raab), Peer Raben (Schulfreund), Eva Pampuch, Carla Egerer (Verkäuferinnen im Schallplattengeschäft), Hanna Axmann-Rezzori (Lehrerin), Peter Hamm (Kommissar), Amadeus Fengler (Sohn der R.s)

¿¡ Mord bleibt Mord ?!

„Als ich dich fand, ging eine Sonne auf.
Und der Himmel war so nah.
Und deine Augen versprachen mir so viel,
was ich noch nie, niemals sah.
Wir glaubten beide an die Liebe.
Warum brach sie entzwei, sie entzwei?” (1)

Die Kamera als unser Auge, scheinbar jedenfalls. Eher: unser Auge wird verführt, an die Linse gelegt. Das Auge schwankt durch die Szenen einer Ehe, eines Alltags, eines Jobs, einer Familie, früherer Bekanntschaften, indem die Kamera uns zu ihnen hinführt, hautnah meistens und wie in einem Alltagshorrorfilm. Diese Nähe trägt oft klaustrophobische Züge. Ob Dietrich Lohmann, der den Film fotografierte, in den Räumen des Betriebs, in dem Herr R. arbeitet, oder in dessen Wohnung filmt: immer sind wir in beängstigender Nähe von Personen, die sich nichts zu sagen haben, obwohl sie, außer Herrn R. (Kurt Raab) selbst, der meistens schweigt, viel reden.

Vor allem Frau R. (Lilith Ungerer) scheint redselig, scheint auch etwas chaotisch, weil sie schon wieder einen leichten Unfall mit dem Auto hatte und auch ansonsten sehr lebendig wirkt. Doch der Schein trügt. Frau R. hat nichts zu bieten, nichts. Sie wie die anderen Akteure in diesem Film leben in einer dieser Strukturen, die man mit dem Begriff „Monotonie” nur schwerlich umschreiben kann. Langeweile, Verkrustung, ja, auch so könnte man den Prozess, der eigentlich ein Zustand ist, oder noch eher ein ewig gleicher Kreislauf, beschreiben.

Herr R., seine Kollegin, die Frau Eder (Lilo Pempeit, Fassbinders Mutter), und die namenlosen Kollegen (Harry Baer, Peter Moland), arbeiten in Herrn Marons (Franz Maron) Ingenieurbüro. Die Herren zeichnen Pläne, die Dame tippt. Die drei erzählen sich geradezu belanglos langweilige Witze, während sie das Bürogebäude verlassen und der Herr R. schweigt und seines Weges geht. Herr R. ist meist ein ruhiger Mensch. Ein arrivierter Mensch, denn er hat eine „gewisse Position” und die Chance zu einem „gewissen” Aufstieg. Seine Frau ist erfreut darüber, eine andere Wohnung könnte man sich leisten.

„No, no, geh' nicht vorbei, als wär’ nichts gescheh’n.
Es ist zu spät, um zu lügen.
Komm und verzeih, ich werd’ mit dir geh’n,
wohin dein Weg auch führt.
Und die Welt, sie wird schön.” (1)

Herr R. aber ist manchmal auch redselig, etwa als er die ehemalige Schulfreundin seiner Frau (Hanna Schygulla) sieht, die seiner Meinung etwas zu vulgär herumläuft, etwas zu sehr angemalt und etwas zu viele Haare auf dem Kopf hat. So könnte seine Frau nicht herumlaufen, denn schließlich habe man gesellschaftliche Verpflichtungen.

Dann schweigt Herr R. wieder, denn seine Eltern (Vinzenz Sterr, Maria Sterr) sind zu Besuch, und er sitzt etwas abseits, raucht, viel zu viel, an die 80 Zigaretten am Tag, während sich seine Mutter mit seiner Frau unterhält und der Opa mit dem Enkel (Amadeus Fengler), der ein ruhiger, verschlossener Bengel ist und in der Schule Schwierigkeiten hat, vor allem mit Mathematik. Beim familiären Winterspaziergang ist der Junge plötzlich verschwunden, der Vater findet ihn, dessen Mutter schimpft über Frau R., die nicht aufgepasst habe, und Frau R. verteidigt sich, das könne ja mal passieren, und so weiter und so fort.

Da kommt keine Freude auf, keine Kurzweil, ebensowenig, als drei Nachbarinnen (Ingrid Caven, Irm Hermann, Doris Mattes) und ein Nachbar (Hannes Gromball) zum Kaffeenachmittag erscheinen und sich mit Frau R. über Belangloses und Nichtssagendes unterhalten und ab und zu eine Spitze unter freundlichem Lächeln den einen oder anderen trifft. Auch eher harmlos, aber mit unterschwelliger Aggression verbunden.

Eine heile, kranke Welt, eine Welt, in der nichts passiert, obwohl sich alles bewegt, alle reden, alle arbeiten. Nur hier und da kommt ein wenig Leben in diese tote Welt, etwa wenn Herr R. in einem Schallplattengeschäft die beiden Verkäuferinnen (Eva Pampuch, Carla Egerer) nach einer Platte fragt, deren Titel und Interpreten er vergessen hat, ein Stück das am Vorabend in der Hitparade im Radio gelaufen ist. Die beiden Frauen können sich kaum zurückhalten, die eine muss sich umdrehen, um zu lachen, weil der Herr R. plötzlich versucht, den Anfang des Hits zu summen. Aber immerhin hat er Erfolg und man findet Christian Anders Hit „Geh’ nicht vorbei”. Dieser Erfolg ist auch schon das einzige, was Herr R. als Erfolg verbuchen kann. Vielleicht noch die Anmaßung auf einer Betriebsfeier, im betrunkenen Zustand Brüderschaft mit seinem Chef schließen zu wollen. Vielleicht noch der Besuch eines alten Schulfreundes (Peer Raaben), mit dem er in Erinnerungen an die eklige Schulzeit schwelgt, über die man jetzt lachen kann, und an die ebenso verhassten und erzwungenen Kirchenbesuche, in denen man aus dem Gesangbuch lesen musste, während man jetzt vor Freude eines dieser frommen Lieder trällern kann.

„Wo ich auch bin, seh’ ich dein Bild vor mir.
Dich vergessen fällt mir schwer.
Die grauen Tage vergehen ohne Sinn.
Die Nacht ist lang und so leer.
Ich bin allein.” (1)

Der Herr R. ist ein etwas merkwürdiger Mensch, aber eigentlich nicht außergewöhnlich, nichts besonders, nicht herausragend aus der Gruppe, kein Elitärer, kein Snob, weiß Gott nicht, kein Sonderling. Er lebt sein Leben, indem er es nicht lebt – wie alle anderen auch, selbst sein Sohn, der sich in sich zurückgezogen zu haben scheint, wie seine Frau, die die Öde ihres Lebens durch rein äußerliches Temperament zu verkleiden weiß. Herr R. ist nicht absonderlicher als alle anderen, und doch reißt es in ihm mehr als in den anderen. Es zerrt, nicht nur an seinen Nerven, die er mit Massen von Zigaretten zu beruhigen versucht, nicht nur an dem bisschen Seele, das er noch hat. Es zerreißt ihn fast.

Als eine der Nachbarinnen (Irm Hermann) Frau R. besucht und beide sich lautstark über Skifahren und anderes unterhalten, während Herr R. Fernsehen schaut, bemerkt man das erste Mal, wie diese Zerrissenheit Herrn R. quält, ohne dass ihm bewusst ist, was mit ihm und um ihn herum passiert. Als seine Frau in die Küche geht und die Nachbarin – noch lauter – weiter erzählt, was gar nichts mit Erzählung zu tun hat, steht der Herr R. auf, nimmt einen verzierten Kerzenhalter, zündet die Kerze an, so, als wolle er das weihen, was er jetzt tut, und erschlägt mit dem Kerzenhalter erst die Nachbarin, dann seine Frau und schließlich seinen Sohn im Bett. Am nächsten Tag geht der Herr R. ins Büro. Keiner merkt ihm etwas an. Dann geht er auf die Toilette und erhängt sich.

„Nein, so kannst du nicht geh’n.
Bleib’, bitte bleib' doch steh’n.
Du musst doch fühlen,
dass ich dich, ja dich, ja dich nur liebe.” (1)

Warum läuft denn der Herr R. Amok, fragt man sich. Wird es nicht deutlich, warum er dies tut? Oder darf man kein Verständnis für ihn haben, den Herrn R., weil es unmoralisch wäre, ihn zu verstehen, weil er unmoralisch gehandelt hat. Nur, wo war die Moral in dieser Geschichte, wer verkörpert sie? Wer verkörpert hier überhaupt irgend etwas? Mord bleibt Mord. Die einen sterben langsam, weil sie nicht wirklich leben – ohne es zu merken. Herr R. zieht eine logische Konsequenz: Er beendet das Leben seiner Familie einschließlich seines eigenen. Dies ist eine „innere” Logik, eine, die den Strukturen dieses leblosen Lebens inhärent ist – ob man das nun mag oder nicht, wahrhaben will oder nicht.

Fassbinder nimmt in „Warum läuft Herr R. Amok?” vieles von diesem langsamen, siechenden Leben vorweg, dieser Quälerei, die er später in „Händler der vier Jahreszeiten” (1971) noch deutlicher in Szene gesetzt hat. Die furchtbare Sprachlosigkeit der Sprache der Personen, die versteckten Aggressionen und Auto-Aggressionen, die unter der Oberfläche einer Welt bedrohlich warten, sich zu entladen, sind Ausdruck einer fast völlig erstarrten Gesellschaft. Und es wird im Rückblick auf diesen Film deutlich, was es heißen könnte, dass die Normalität, jedenfalls eine bestimmte, es ist, die die Gewalt in extremer Form hervorbringt – so oder so, als Ausdruck der Tat eines einzelnen oder als Exzess ganzer Gruppen gegen andere.

„Warum läuft Herr R. Amok?” ist einer jener Fassbinder-Filme, in denen Kurt Raab eine exzellente Hauptrolle spielt – neben etwa „Bolwieser” (1976) und „Satansbraten” (1975) –, und zwar in dem Sinne, dass er in dieser Rolle fast vollständig aufgeht.

(1) „Geh’ nicht vorbei”, Autor: Joachim Heider; 1969 gesungen von Christian Anders.



Händler der vier Jahreszeiten
Deutschland 1972, 85 Minuten
Regie: Rainer Werner Fassbinder

Drehbuch: Rainer Werner Fassbinder
Musik: Rocco Granata („Buona Notte Bambino“)
Director of Photography: Dietrich Lohmann
Schnitt: Thea Eymèsz
Produktionsdesign: Kurt Raab

Darsteller: Hans Hirschmüller (Hans Epp, Obsthändler), Irm Hermann (Irmgard, seine Frau), Hanna Schygulla (Anna, Schwester von Hans), Andrea Schober (Renate, Tochter der Epps), Gusti Kreissl (Mutter von Hans), Heide Simon (Heide, Hans zweiter Schwester), Kurt Raab (Kurt, Heides Mann), Klaus Löwitsch (Harry Radek), Karl Scheydt (Anzell), Ingrid Caven (Hans große Liebe), Peter Chatel (Dr. Harlach), Lilo Pempeit (Kundin), Walter Sedlmayr (Verkäufer eines Obstkarrens), El Hei ben Salem (Araber), Hark Bohm (Polizist), Daniel Schmidt, Harry Baer, Marian Seidowski (drei Bewerber), Michael Fengler (Playboy), Rainer Werner Fassbinder (Zucker), Elga Sorbas (Marile Kosemund, Prostituierte)

„Wenn du viel hast willst du noch mehr ...“

„Deine Sehnsucht kann keiner stillen
wenn die Träume sich auch erfüllen.
Wenn du viel hast willst du noch mehr
oh Mama mia ich denk' oft an dein Lied.“ (1)

Hans Epp (Hans Hirschmüller) flieht in den Krieg. Er flieht vor seiner Mutter (Gusti Kreissl), einer hartherzigen Frau, die ihre Kinder – die Hans liebende und verstehende Schwester Anna (Hanna Schygulla) und die der Mutter zugewandte Heide (Heide Simon) – allein aufziehen musste. Sie will, dass aus Hans einmal etwas wird, dass er sich bei dem, was er tut, nicht die Hände schmutzig macht. Hans erträgt diesen moralischen und erniedrigenden Druck nicht und geht zur Fremdenlegion.

Seine Mutter ist die erste Frau, die Hans enttäuschte, weil er sie enttäuschte. Diese beiden Enttäuschungen sind unterschiedlicher Art. Die Mutter drängt auf das Äußere, das Vermittelte und Mittelbare, das Herrschende, das Etwas-Her-Machende. Hans folgt ihr nicht. Diametral entgegengesetzt ist seine eigene, innere, tief bohrende Enttäuschung über die Mutter, die ihn weniger zu lieben scheint, als zu formen versucht. Doch weitere Frauen in Hans Leben perpetuieren diese Enttäuschung, bauen in Hans Herz und Gemüt ein düsteres Bild vom Menschen, zunächst die Frau, die im Film keinen Namen trägt (Ingrid Caven), die Frau, die Hans immer geliebt hat, die Frau, die anscheinend so ganz anders ist wie seine Mutter, die seinen Heiratsantrag aber ablehnt, weil Hans, als er aus der Legion zurückkehrt, Obsthändler wird, nachdem er aus dem Polizeidienst, den er zunächst als Beruf gewählt hatte, entlassen worden war. Die große Liebe kann das mit ihrer eigenen Herkunft und Familie nicht vereinbaren. Obwohl anders in ihrer Art als die Mutter, knüpft sie den roten Faden weiter, der sich durch Hans Leben zieht: den von ihm geforderten Erfolg als Gegenleistung für Liebe. Das Leben ist für Hans ständiges Herausgefordertsein.

Hans hat Irmgard (Irm Hermann) geheiratet, die Frau, die er nicht liebt. Die Frau, die er auch liebt und die ihn versteht und vor dem Rest der Familie verteidigt, seine Schwester Anna, kann er ja nicht heiraten. Und eine weitere Frau, Marile Kosemund (Elga Sorbas), eine Prostituierte, sorgt unbeabsichtigt dafür, dass Hans aus dem Polizeidienst geworfen wird, weil sie ihn nach ihrer Festnahme auf dem Revier zu verführen versucht und der Vorgesetzte von Hans (Hark Bohm) dies bemerkt.

Frauen scheinen den Obsthändler zu zerstören. Und sicher ist dies ein Teil der Wahrheit über den Obsthändler Hans Epp, aber eben nur ein Teil. Fassbinder selbst äußerte sich zu seinem Film u.a. in diese Richtung: „Hans stirbt, von Frauen zerstört und vom System allein gelassen. Er weiß, was er tut.“ Fassbinder wäre allerdings nicht Fassbinder, wenn am Ende des Films das Resümee gezogen werden müsste: Die Frauen sind alle schuld. Der Film setzt nicht auf einseitiges Mitleid, auf Konfrontation gegen die fünf Frauen. „Händler der vier Jahreszeiten“ eröffnet einen neuen Reigen Fassbinderscher Filme, in denen der Regisseur seinem großen Vorbild Douglas Sirk und dessen Melodramen der 50er Jahre (u.a. „Was der Himmel erlaubt“, 1956; „Zeit zu leben und Zeit zu sterben“, 1958) folgt. Der Film ist ein deutsches, besser ein Münchner Melodrama, allerdings doch in ganz anderer Manier als bei Sirk, einig in der Aussage, oder vielleicht besser: erhärteten Vermutung, dass Glück und Liebe in den herrschenden familiären Banden nicht möglich sei.

„Buona Buona Buona Notte Bambino mio
alles was man will das kann man nicht haben.
Buona Buona Notte schlaf ein mein Junge
Sehnsucht wirst du immer im Herzen tragen.
Das hat mir Mamia abends immer vorgesungen
wenn ich von meinem Bett aus
durch ein kleines Fenster
alle Sterne sehen wollte
und nicht einschlafen konnte.“ (1)

Zugleich hat die Geschichte von Hans und den anderen sowohl einen zeitlich klar umrissenen, historischen Bezug: die Nachkriegszeit der 50er Jahre und die Auswirkungen der nationalsozialistischen „Vorzeit“, als auch einen ebenso deutlich strukturierten Realitätsbezug im Hinblick auf die Verhaltensmuster der Handelnden: Das Milieu, das Fassbinder uns zeigt, ist stimmig. Der Kitt, der die Personen zusammenhält, ist das ökonomische Gesetz, das Geld, der geldliche Zwang. Hans ist Obstverkäufer und leidet unter der zänkischen, kontrollierenden Art seiner Frau Irmgard, die in ihm jeden Ansatz von Freiheit und Zartheit, von positiven Gefühlen ignoriert, ja zu zerstören sucht. Hans flüchtet zu seinen Trinkgenossen in die Kneipe. Und als er eines Tages betrunken nachts nach Hause kommt, verprügelt er im Suff Irmgard vor den Augen der Tochter. Als Irmgard am nächsten Tag zu seiner Familie flieht – so stellt sie diesen Schritt dar, so wirbt sie für sich –, wird das ganze Ausmaß an Fremdbestimmung fassbar, der Hans unterworfen ist und gegen die er nichts tun kann, weil er nicht gelernt hat, mit solchen Konflikten in einer Weise umzugehen, die es ihm ermöglicht, wieder zu atmen. Der Mutter entkommt er nur durch Flucht in den Krieg. Dem Rausschmiss bei der Polizei entkommt er durch vordergründige Akzeptanz der Maßnahme, wenn er vor seinen Saufkumpanen von Verständnis für seine Vorgesetzten spricht. Der mit Scheidung drohenden Irmgard aber entkommt Hans nur durch einen Herzinfarkt.

Die Konflikte in der Geschichte um Hans und Irmgard und die anderen bilden eine Art für die Figuren unerreichbares Zentrum, um das sie sich gruppieren, anstatt diese zu lösen. Wie traumatisiert kreisen sie um ihre eigenen Widersprüche, ohne in ihnen selbst sich zu erkennen. Ein Verhalten gibt ein anderes und löst wieder ein drittes aus. Ein Wort gibt das andere und produziert ein drittes. Die einen, wie Hans, fallen aus dem Kreislauf heraus, weil sie ihn durchbrechen wollen, aber nicht können, denn dazu bedürfte es der anderen oder wenigstens eines anderen. Die anderen aber reproduzieren durch ihr Verhalten nur die Systematik des Regelwerks, das sie nicht durchschauen können. Der Verlust, der dabei entsteht, ist Resultat des permanenten Verlierens, das sie als Aufrechterhaltung ihrer Subjektivität missverstehen. Wenn Irmgard nach der Beerdigung von Hans das Pferd einfach wechselt und Harry vereinnahmt, dann ist das nicht in erster Linie Boshaftigkeit, Skrupellosigkeit oder Gefühlskälte. Sie reproduziert „nur“ die Mechanismen, die sie gelernt hat, weil sie keine anderen kennt. Die Kälte ist ihr nicht bewusst; sie ist Teil des Beziehungssystems. Und Fassbinder erweist sich in dieser Hinsicht Freud näher als etwa Marx.

Hans ist am Ende. Er darf nichts Schweres mehr tragen nach seinem Herzinfarkt. Er darf nicht mehr trinken. Irmgard, die sich während seines Aufenthalts in eine kurze Affäre mit einem gewissen Anzell (Karl Scheydt) eingelassen hat, kommt auf die Idee, jemanden einzustellen, der mit dem Obstwagen durch die Hinterhöfe zieht. Irmgard setzt auf die Aufrechterhaltung der wirtschaftlichen Basis der Familie, die allein Anerkennung und Konsistenz der Subjektivität zu versprechen scheint. Sie hat momentan keine Alternative. Anzell ist verheiratet. Und als sich eben dieser bei Hans meldet, um als Obstverkäufer von ihm eingestellt zu werden, lockt Irmgard Anzell in eine Falle: Er, der in den ersten Wochen korrekt abgerechnet hatte, soll ein bisschen mehr pro Kilo Äpfel, Birnen usw. verlangen; den Überschuss würde sie sich dann mit ihm teilen. Was Anzell nicht weiß: Hans beobachtet ihn, ob er korrekt abrechnet, und kommt dahinter. Anzell ist für Irmgard jetzt eine Bedrohung.

Alle kalkulieren. Es sind die Kalkulationen eines hierarchischen, auf „kaltblütige“ Leistung und Erfolg gestützten Systems, in dem Betrug, Intrige, Egoismus, Gewalt und die Warenform der Beziehungen die Regel sind. Man gibt nicht einfach her, ohne etwas dafür zu bekommen. Und ein Mehrwert muss auch dabei sein. Das kurzzeitige Glück nach der Einstellung zunächst von Anzell, später von Hans altem Freund Harry (Klaus Löwitsch), den er zufällig in einer Kneipe wieder trifft, ist trügerisch. Irmgard hat sich längst mit diesen Regeln abgefunden; sie ist Teil dieses Systems, dessen Funktionsweise ihr nur praktisch bewusst ist. Sie handelt danach, ohne zu wissen, was sie da eigentlich tut. Die Zärtlichkeit hat in der Beziehung von Irmgard und Hans aus verschiedenen Gründen keine Chance. Irmgard weiß von Hans großer Liebe. Hans kalkuliert auch, aber in anderer Weise. Er hat Sehnsüchte, Träume und lebt sporadisch in ihnen. Er setzt sein ganzes Leben auf diese Sehnsüchte, im Film wunderbar ausgedrückt durch das Lied von Rocco Granata, dessen Text selbst die Widersprüchlichkeit von Wunsch und Wunscherfüllung dokumentiert.

„Aus der Heimat trieb mich das Fernweh
und da draußen fand ich das Heimweh.
Ja die Sehnsucht ist mir geblieben.
Oh Mama mia heut kann ich dich versteh'n.
Buona Buona Buona Notte ...“ (1)

Doch gleichzeitig herrscht nicht nur Sympathie für den Protagonisten des Films, für Hans. Denn sowohl seine Mutter, als auch seine Frau handeln aus einem instinktiven Gefühl der Sorge heraus, um sich, um ihre Familie. Aus dem Spannungsverhältnis zwischen dieser Sorge und den damit verbundenen Ängsten hier, der „kulturellen Verarbeitung“ dieser Gefühle durch die herrschende Mentalität einer von Geld und Gewalt beherrschten Gesellschaft dort – ein sich bedingendes, teils eruptiv, teils depressiv sich äußerndes Verhältnis – gewinnt Fassbinder die (Melo-)Dramatik der Handlung. Eruptiver Ausbruch (Hans verprügelt Irmgard) und Herzinfarkt (der Wendepunkt in der Geschichte, ab dem ein Zurück, oder besser ein „Vor“ zu anderen Ufern nicht mehr möglich ist) kennzeichnen die melodramatischen Schnittpunkte des Films, unterfüttert durch die „einfache“ Sprache der Figuren und den visuellen Realismus der Handlung.

In der Figur der Anna, der Schwester von Hans, finden wir scheinbar eine Stütze, einen Punkt des Widerstands, der Rebellion gegen die herrschende Moral der Unmoral und der kalten Berechnung. Und tatsächlich ist Anna die einzige, die Hans verteidigt und ihre Schwester, ihre Mutter und ihren Schwager (Kurt Raab) bezichtigt, Hans zu verachten. Im entscheidenden Moment allerdings, als Hans seine große Liebe noch einmal aufsucht, aber nicht mit ihr schlafen kann, und dann seine Schwester, die unter Zeitdruck ein Manuskript fertigstellen muss, versagt auch Anna. Anna, ob sie es will oder nicht, schält sich einzig als Kommentator der Verhältnisse heraus, nicht als Rebell gegen sie. Der ökonomische Druck wirkt bis in die letzten Winkel und verhindert, dass Anna erkennt, welchen Weg Hans nun gehen wird: Er trinkt in der Kneipe einen Schnaps nach dem anderen – auf seine Mutter, den Rest der Familie, seine Frau usw. Irmgard, Harry und die Männer, mit denen Hans immer gesoffen hat, schauen zu, bis er tot ist. Keiner steht auf, um ihn zurückzuholen, weil keiner fähig ist, die Situation überhaupt zu begreifen. Harry wird im wahrsten Sinn des Wortes Hans Nachfolger als Ehemann und Geschäftsmann des Obsthandels. Selbst die kleine Renate scheint damit einverstanden, hat er ihr doch bei den Hausaufgaben geholfen.

Auf dem Friedhof steht etwas abseits nur eine, Hans große Liebe, die um ihn trauert. Und nicht nur diese Schlussszene lässt deutlich werden, wie die Gefühle der Charaktere gnadenlos fremdbestimmt werden – so gnadenlos, dass dieses Fremde längst zum Eigenen geworden ist. Hans, aus dessen Perspektive auch diese Schlussszene gedreht wurde, so, als ob er seiner eigenen Beerdigung und dem Verhalten der anderen zuschauen würde, ist bewusst in den Tod gegangen. Dieser Schritt ist tatsächlich selbstbestimmt. Und das Tragische, was sich darin manifestiert, ist die Tatsache, dass sich Freiheit für ihn erst im Tod herstellt. Die Binnenperspektive des Films erlaubt sowohl den Realismus der Milieuschilderung, als auch die Melodramatik der Geschichte, die Fassbinder erzählt.

(1) Rocco Granata: Buona Notte Bambino (1963). Granata, Jahrgang 1938, in Belgien lebender Schlagersänger italienischer Herkunft, hatte 1959 einen Welthit: „Marina“. Ende der 80er Jahre erlebte er ein Comeback, auch mit deutschsprachigen Titeln.



Die bitteren Tränen der Petra von Kant
Deutschland 1972, 119 Minuten
Regie: Rainer Werner Fassbinder

Drehbuch: Rainer Werner Fassbinder
Musik: „Smoke Gets in Your Eyes“, „The Great Pretender“, gesungen von „The Platters“, „In My Room“, gesungen von „The Walker Brothers“
Director of Photography: Michael Ballhaus
Schnitt: Thea Eymesz
Produktionsdesign: Kurt Raab

Darsteller: Margit Carstensen (Petra von Kant), Hanna Schygulla (Karin Thimm), Katrin Schaake (Sidonie von Grasenabb), Eva Mattes (Gabriele von Kant), Gisela Fackeldey (Valerie von Kant), Irm Hermann (Marlene)

„Wen du begreifst, den musst du nicht bedauern“

„They asked me how I knew
My true love was true
Oh’ I of course replied
Something here inside cannot be denied.
They said someday you’ll find
All who love are blind
Oh’ when your heart’s on fire
You must realize
Smoke gets in your eyes.“ (1)

Eine Dachgeschosswohnung, irgendwo in Bremen; aber der Ort ist unwichtig. Überall stehen oder liegen Schaufensterpuppen herum, oder Teile von ihnen. Die Wände sind zum Teil mit Holz verkleidet; die Fensterfront ziert ein modernes Rollo aus Kunststoff. Den Raum, in dem wir uns befinden und den wir nicht verlassen werden, wird durch dunkelbraune Holzbalken durchzogen. Eine vielleicht zwei- oder dreistufige Treppe führt im Raum zu einer Staffelei, auf der sich momentan eine noch unfertige Modezeichnung in roter Farbe befindet. An der Wand links von der Fensterfront, neben dem Ausgang, den wir nie benutzen werden, prangt ein riesiges Gemälde von Poussin, das Midas und Bacchus zeigt, ein Bild in Rot, Weiß, Brauntönen und ein wenig Blau. Mitten im Raum steht ein breites Bett. Der Plattenspieler gibt „Smoke Gets In Your Eyes“ von „The Platters“ wieder.

Die Modedesignerin Petra von Kant (Margit Carstensen) hat Besuch. Ihre alte Freundin Sidonie von Grasenabb (ein Name, den Fassbinder Fontanes „Effi Briest“ entliehen hat, gespielt von Katrin Schaake) hört sich an, wie die Trennung zwischen Petra und ihrem zweiten Mann Frank verlaufen ist. Ihr Erfolg habe Frank eifersüchtig gemacht, und sie habe sich vor ihm immer stärker geekelt, weil Frank seine Gefühle der Ohnmacht in der Sexualität durch Macht zu kompensieren versucht habe. Petra hat einen weißen Morgenmantel an und trägt eine schwarze Perücke. Sidonie trägt eine Frisur wie Frauen in den 20er Jahren, schwarze, glatte, in die Stirn gelegte Haare, und eine Pelzstola. Die Szene wirkt grotesk, wie eine Karikatur, in der Frauen aus den 70er Jahren in einer Mischung aus Kitsch und Kunst eine Szene aus den 20er Jahren darstellen würden. Nichts passt zueinander, die Farben nicht, die Gegenstände der Einrichtung nicht, die beiden Frauen nicht. Und doch passt irgendwie doch alles, wenn man den Frauen zuhört.

Aber halt, noch eine dritte Frau befindet sich im Raum, still, und sie wird nie einen Ton sagen, sich nicht räuspern, kaum irgendein Gefühl zeigen, keine Reaktion. Sie wird nur stumm blicken, schauen, ab und zu an der Staffelei zeichnen, auf einer alten Schreibmaschine herumhacken, Sekt bringen, Tee servieren, aber vor allem sich erniedrigen lassen – von Petra. Marlene (Irm Hermann) ist Petras Sekretärin, vor allem jedoch ihr Aggressionsobjekt, ein „Mädchen für alles“, eine Dienstbotin, eine Magd in der Stadt. Marlene beobachtet, sie registriert – unkommentiert und doch wissend, was hier geschieht.

„So I chaffed them and I gaily laughed
To think they could doubt my love
Yet today my love has flown away
I am without my love.
Now laughing friends deride
Tears I can not hide
Oh’ so I smile and say
When a lovely flame dies
Smoke gets in your eyes
Smoke gets in your eyes.“ (1)

„Wen du begreifst, den musst du nicht bedauern“, sagt Petra zu Sidonie, die sich mit ihrer Ehe offenbar abgefunden hat wie mit dem Schicksal. Und: „Der Mensch ist so gemacht, dass er den anderen Menschen braucht. Doch er hat nicht gelernt, wie man zusammen ist.“ Petra glaubt an diesen Satz. Er steht fest – unverbrüchlich. Brauchen – das ist das Thema dieses frühen Films von Rainer Werner Fassbinder.

Sidonie hat jemanden mitgebracht, eine schöne Frau, eine aus Australien, die ihren Mann verlassen hat, eine, die in Deutschland Karriere als Mannequin machen will, eine aus einer proletarischen Familie. Der Vater war Werkzeugmacher, und als er nach undenklichen Zeiten entlassen wurde, hat er sich besoffen, hat seine Frau erschlagen und sich selbst aufgehängt. Das Leben hatte für ihn seinen Wert verloren, die Familie hatte ihren Wert verloren, nur die beiden Töchter hat er leben gelassen, vielleicht in irgendeiner Hoffnung. Eine steht jetzt vor Petra: Karin Thimm (Hanna Schygulla), und Petra verliebt sich in diese junge, schöne Frau, lädt sie für den nächsten Abend ein.

Die Kleider wechseln. Petra sieht aus wie eine moderne Cleopatra, die aber nicht in diesen Raum und nicht in diese Zeit passt, trägt eine andere, schwarze Perücke als tags zuvor, ein knappes Abendkleid. Ihr Oberkörper ist umhängt mit Ketten. Karin trägt hell. Petra will ihr helfen, Mannequin zu werden, bietet ihr an, bei sich einzuziehen, das Geld für das teure Hotel zu sparen. Karin erkennt ihre Chance. Sie schläft mit Petra, um diese Chance zu verwirklichen. Sie handelt proletarisch so wie Petra bürgerlich. Karin nimmt, was Petra hat: Geld, Einfluss. Aber sie ist ehrlich, schläft ab und zu mit Männern und erzählt dies Petra auch. Petra nimmt, was Karin hat: Sex und das, was sie Liebe nennt und doch nur eine schwächliche Kompensation für Einsamkeit und die Unfähigkeit zu lieben darstellt. Petra ist auch ehrlich: Sie braucht diese Frau, sie will sie für sich allein, sie besitzen.

„Oh-oh, yes I’m the great pretender
Pretending that I’m doing well
My need is such I pretend too much
I’m lonely but no one can tell
Oh-oh, yes I’m the great pretender
Adrift in a world of my own
I’ve played the game but to my real shame
You’ve left me to grieve all alone.“ (2)

Petra steht am Bett, gibt Marlene den Befehl, ihre Schuhe zu suchen. Marlene kraucht auf dem Boden her, um die Schuhe zu finden. Karin liegt im Bett, trinkt Gin. Beide Frauen saufen, Karin aus Langeweile, Petra aus Verzweiflung, die sich schon bald in Hysterie verwandeln wird, wenn Karin die Anwesenheit ihres Mannes in Zürich als Gelegenheit nutzen wird, Petra zu verlassen. Karin handelt proletarisch. Petra hat nicht den Nutzen für sie, den sie sich erhofft hat. Petra handelt bürgerlich: Sie bricht in Hysterie aus, sie wird krank, beschimpft Karin als miese kleine Hure, um im nächsten Atemzug zu sagen: „Ich liebe dich.“

Karin geht. Petras Mutter (Gisela Fackeldey) und Tochter (Eva Mattes) kommen, lange nach Karins Auszug, zum Geburtstag Petras. Sie hat die Farben gewechselt, trägt eine blonde Perücke, ein grell grünes Kleid und eine rote Blume um den Hals. Ihre Tochter trägt ein gelbes Kleid mit weißen Streifen und eine lila Krawatte. Petra beschimpft ihre Mutter, ihre Tochter und Sidonie, die ihr eine nackte Puppe mit blonder Perücke schenkt. Petra wirkt jetzt wie eine der vielen Puppen in ihrer Wohnung, so fahl im Gesicht, so krank.

Irgendwann danach wird Petra zu ihrer Mutter sagen: „Man muss lernen zu lieben, ohne zu fordern.“ Als sie sich bei Marlene entschuldigt für die Erniedrigungen, die sie ihr zugefügt hat, und ihr Freundschaft und ein gemeinsames Leben offeriert, packt Marlene – still wie immer – ihre Koffer und geht.

„Too real is this feeling of make-believe
Too real when I feel what my heart can’t conceal
Yes I’m the great pretender
Just laughin’ and gay like a clown
I seem to be what I’m not, you see
I’m wearing my heart like a crown
Pretending that you’re still around.“ (2)

„Die bitteren Tränen ...“ ist kein Film über lesbische oder bisexuelle Liebe, nicht einmal nur über Frauen, obwohl in dem Film kein einziger Mann auftaucht, höchstens der auf dem Gemälde von Poussin. Doch der ist wichtig. Das Bild mit dem nackten Mann vermittelt die permanente Anwesenheit des Männlichen, des Herrschsüchtigen, der Macht und der Gewalt.

Vor diesem Gemälde spielen sich etliche Szenen des Films ab, nicht umsonst. Der von Michael Ballhaus (3) fotografierte Film handelt auch nicht „einfach“ von Besitzansprüchen einer bürgerlichen Frau. Fassbinder wollte mehr und er inszenierte mehr in diesem ganz streng und unverhohlen als Theaterstück in fünf Akten gedrehten Film. Was in seinen späteren Filmen wie u.a. „Lili Marleen“, „Die Ehe der Maria Braun“, „Lola“, und „Die Sehnsucht der Veronika Voss“ ausgebreitet wird, deutet sich schon hier an. Es ist die Spur zurück in die deutsche Geschichte, die Fassbinder verfolgt, genauer: die Geschichte des Bürgertums. Was an Petra von Kant in einem subjektiven Sinn demonstriert wird, stellenweise mit bitterer Ironie, ist die Vereinsamung eines Menschen durch den Verlust seiner Identität und seiner Fähigkeit zu lieben. Margit Carstensen erweist sich hier als exzellente Darstellerin (4).

Eine andere Spur allerdings führt von dem oben zitierten Satz („Der Mensch ist so gemacht, dass er den anderen Menschen braucht. Doch er hat nicht gelernt, wie man zusammen ist.“) direkt in die Geschichte des (Groß-)Bürgertums. Diesen Satz könnte man auch mit Erich Fromms „Fangfrage“ kombinieren: „Liebst du ihn (sie), weil du ihn (sie) brauchst, oder brauchst du ihn (sie), weil du ihn (sie) liebst?“

Die Ausstaffierung des Raums, diese Ästhetik zwischen Kitsch und Kunst, diese aufgemotzte Scheinwelt, verschleiert ebenso wie Petra durch ihre diversen, manchmal einer Diva ähnlichen, Kostümierungen die Gebrauchwertstruktur, in die sie ihre Gefühle und die der anderen presst. Ihre oft langsam, fast bedächtig vorgetragenen Worttiraden über die Liebe und ihre Bedingungen sind ihr im wahrsten Sinn des Wortes ideologisches Rüstzeug, das nur eine Bedeutung hat: Sich jemanden nutzbar zu machen.

Der Raum wird nie verlassen. Er gibt den klaren Rahmen vor, die Grenzen, in denen sich alles abzuspielen hat. Es herrscht eine klaustrophobische Atmosphäre, in der das Atmen und das Leben immer schwieriger wird, auch für Petra, auch für den Zuschauer dieser Szenerie. Die Abgeschiedenheit dieses „Panic Room“ schnürt einem die Kehle zu. Petra von Kant will die um sich herum zurechtbiegen, vor allem Karin, während sie ihre Tochter und ihre Mutter, die keinen Gebrauchswert für sie (mehr) zu haben scheinen, desavouiert. Das Lockmittel Petras für Karin ist ihre Schein-Selbständigkeit, ja Pseudo-Emanzipation, der blättrige Glanz ihres Designerinnen-Daseins, die Vortäuschung von etwas Kultiviertem, Arrivierten, dessen, was man mondän nennen könnte. Die Assoziationen zur Weimarer Republik und damit zur Vor-Zeit des Nationalsozialismus sind offensichtlich.

„Too real is this feeling of make-believe
Too real when I feel what my heart can’t conceal
Yes I’m the great pretender
Just laughin’ and gay like a clown
I seem to be what I’m not, you see
I’m wearing my heart like a crown
Pretending that you’re still around.“ (2)

Nur, während Karin und am Schluss auch Marlene sich der Zwangssituation, der Ver-Nutzung, durch Petra entziehen können, während Petra nur die Chance bleibt, an ihrer „Krankengeschichte“ zugrunde zu gehen oder sich zu erkennen (sie sagt: „Man muss lernen zu lieben, ohne zu fordern.“ Aber kann man Liebe „lernen“?), bleibt dies auf einer „Makroebene“ schier unmöglich. Karin passt sich an, Petra „ge-braucht“ sie. Hinter diesen individuellen Verhaltensweisen jedoch steckt ein Prinzip, das keinem erlaubt, sich durch eine Tür zu entziehen. Die Melodramatik der von Fassbinder erzählten Geschichte gewinnt unter dem Aspekt gesellschaftlicher und historischer Fragestellungen eine noch ganz andere Dimension: Tragik. Dabei geht es Fassbinder kaum um eine politische Konfrontation im Sinne der Zeit, in der der Film entstand, also eine sozialistische Perspektive oder ähnliches, nach dem Motto „Proletarier aller Länder vereinigt euch!“ Fassbinder stand der in vielem all zu alt(ehrwürdig)en „Neuen Linken“ eher distanziert gegenüber.

Es geht ihm eher um ein Nachzeichnen der Mechanismen, die die Geschichte des Bürgertums und des Proletariats bestimmen: die über Geld vermittelte Nützlichkeitsphilosophie und -praxis im großen Rahmen als Zentrum, um das sich moderne Gesellschaften gruppieren, und ihre Auswirkungen auf die „private“ und „individuelle Ebene“, besonders in puncto Eindringen des Warenfetisches in die Gefühlswelt und die intimen Beziehungen von Menschen. In diesem Kontext kann man selbst das „Weggehen“ Karins „nur“ als individuellen Aus-Weg begreifen, kaum als Lösung des zentralen Problems. Karin wird immer wieder auf Menschen treffen, die sie lieben, weil sie sie brauchen und nicht umgekehrt. „Liebe“ – von der man hier im strengen Sinn nicht mehr reden kann – verkehrt sich ein instrumentelles Verhältnis, das selbst dem „Gebrauchten“ inhärent wird.

An jeder Produktionsstätte aber, in jedem Winkel der sozialen Realität lauert in Permanenz der durch den Tauschwert vermittelte Nützlichkeitsgedanke und die entsprechende Praxis gesellschaftlicher Beziehungen. Man kann das verfolgen bis in den „realen Sozialismus“ – die schlechte und verquere, letztlich misslungene Kopie des Kapitalismus –, wenn etwa ein Erich Mielke in seiner letzten Rede vor der Volkskammer in bedauerndem Ton und 40 Jahre DDR „resümierend“ – die Niederlage seinesgleichen nicht verstehend – ausruft, er habe doch alle geliebt – auch die, die er foltern ließ. Man vergleiche das, wenn es auch letztlich in seiner Dimension und ganzen Qualität nicht vergleichbar ist – mit dem Verhalten Petras. Der Unterschied ist, dass Petras Macht keine Staatsmacht ist. Sie ist eine „Mächtige“ neben vielen anderen in einem Universum, in dem eben die Staatsmacht letztlich immer das letzte Wort hat – jene die geldvermittelten Verhältnisse schützende, denkwürdige Institution.

Noch hat Fassbinder dies alles nicht bewusst in eine Geschichte des deutschen Bürgertums integriert. „Die bitteren Tränen ...“ ist insofern – wenn auch dramaturgisch streng durchkomponiertes – Experimentierfeld. Die Zeichen der Geschichte weisen allerdings schon in diese Richtung, bis hin zur „opulent“ visualisierten Ästhetik, die sich um das Handeln der Personen wie ein Mantel legt und die dann später in „Lili Marleen“ (1980) zu einem zentralen Bestandteil des Films und der mit ihm und in ihm stattfindenden Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus werden sollte.

(1) The Platters: „Smoke Gets In Your Eyes“
(2) The Platters: „The Great Pretender“
(3) Michael Ballhaus fotografierte u.a. auch folgende Filme Fassbinders: „Warnung vor einer heiligen Nutte“ (1971), „Martha“ (1974), „Faustrecht der Freiheit“ (1975), „Mutter Küsters Fahrt zum Himmel“ (1975), „Bolwieser“ (1977), „Despair“ (1978), „Die Ehe der Maria Braun“ (1979) und „Lili Marleen“ (1981). Später wurde er bekannt durch Filme wie „Dracula“ (1992), „Mit aller Macht“ (1998), „Goodfellas“ (1990), „Gangs of New York“ (2002) u.v.a.
(4) Margit Carstensen und Eva Mattes, die hier allerdings nur in einer Nebenrolle auftritt, erhielten für ihre Rollen 1973 den Bundesfilmpreis, Michael Ballhaus den Kamera-Bundesfilmpreis.



Martha
Deutschland 1974, 112 Minuten
Regie: Rainer Werner Fassbinder

Drehbuch: Rainer Werner Fassbinder, Cornell Wollrich
Musik: Max Bruch (Violinkonzert Nr. 1), Gaetano Donizetti (Lucia di Lammermoor), Orlando di Lasso
Director of Photography: Michael Ballhaus
Schnitt: Liesgret Schmitt-Klink
Produktionsdesign: Kurt Raab

Darsteller: Margit Carstensen (Martha Hyer / Salomon), Karlheinz Böhm (Helmut Salomon), Barbara Valentin (Marianne), Peter Chatel (Kaiser), Gisela Fackeldey (Mutter Marthas), Adrian Hoven (Vater Marthas), Ortrud Beginnen (Erna), Wolfgang Schenck (Chef Marthas), Günter Lamprecht (Dr. Salomon), Le Hedi ben Salem (Hotelgast), Rudolf Lenz (Portier), Kurt Raab (Sekretär deutsche Botschaft), Elma Karlowa (Kellnerin), Ingrid Caven (Ilse)

Quälen und Leiden

„Die meisten Männer können nur
nicht so perfekt unterdrücken,
wie die Frauen es gerne hätten.”
(Rainer Werner Fassbinder)

Martha ist zum Weinen. Martha erweckt Mitleid. Martha macht einen wütend. Martha ist perfekt – perfekt im Leiden, im Ertragen, im Hinnehmen. Martha ist das Sinnbild des Masochismus, der genial-wahnsinnigen Selbsttäuschung. Martha ist das Symbol für einen Menschen, der in seiner Welt alles erträgt und zugleich aggressiv auf alles reagiert, was von außen die eigene Welt in Frage stellt.

In der Blütezeit der Emanzipationsbewegung dreht Fassbinder einen Film, der seiner zutiefst skeptischen Haltung zur Liebe mehr als jeder andere seiner Filme Ausdruck verleiht. Dass er die Hauptrollen zu diesem Melodrama ausgerechnet mit Margit Carstensen und Karlheinz Böhm besetzt, ist kaum Zufall. Michael Ballhaus meint in einem Interview auf der DVD, dass diese Besetzung mit einer emanzipierten Schauspielerin und einem Mimen wie Böhm, der durch „Sissi” bekannt geworden war, neben anderem auf absurde Weise die Schärfe dessen dokumentiert, mit der Fassbinder die Tragödie in ihrer Reinheit und in ihrem Minimalismus inszenieren wollte und inszenierte.

Der Tod des autoritären, dominanten Vaters (Adrian Hoven) auf der „Spanischen Treppe” in Rom ist für die 31-jährige Martha, die noch nie mit einem Mann geschlafen hat, keine Tragödie, kein Verlust, kein Schmerz. Die Tatsache, dass ihr bei dem Ereignis die Handtasche gestohlen wird, regt Martha mehr auf. Martha hat das Leidenkönnen und Leidenwollen von ihren Eltern in Reinkultur beigebracht bekommen – ohne dass ihr dies bewusst ist. Während sie der Vater nicht nur streng, sondern abhängig erzogen hat, lernte sie von der Mutter (Gisela Fackeldey) die Hysterie. Vor der deutschen Botschaft in Rom, bei der Martha die Überführung des Leichnams des Vaters regelt, trifft sie zum ersten Mal auf Helmut Salomon (Karlheinz Böhm), einen Ingenieur. Unvergessen diese Szene, in der Michael Ballhaus eine 360̊-Fahrt mit der Kamera um die sich um sich selbst drehenden beiden Hauptdarsteller absolviert. Das Gefühl, das Martha und Helmut hierbei haben, scheint Liebe auf den ersten Blick zu sein. Doch man wird gewahr, dass sich Sadismus und Masochismus als zwei Seiten einer Medaille hier das erste Mal in den Bann gezogen fühlten.

Martha heiratet Helmut, den sadistischen Ersatz für ihren Vater. Und Helmut beginnt, immer mit einem Lächeln, Martha sich mehr und mehr voll und ganz zu unterwerfen. Martha beginnt, sich voll und ganz zu unterwerfen. Beide ergänzen sich in ihrem Willen zu quälen und zu leiden. Helmut kauft eine Villa und sperrt Martha ein. Er meldet das Telefon ab, er wünscht sich von Martha, dass sie das Haus nicht mehr verlässt, während er tagelang beruflich unterwegs ist, er will, dass sie ein Buch über Brückenbau liest, er will, dass sie seine Musik hört und ihre nicht mehr, er kündigt ihre Stellung als Bibliothekarin. Martha erträgt es – und je mehr man sieht, umso unerträglicher wird, was man sieht.

Zu den schrecklichsten Szenen des Films gehört etwa jene, als Martha während der Hochzeitsreise sich einen Sonnenbrand holt, sie nackt auf dem Bett im Hotelzimmer liegt und Helmut zuerst mit den Fingernägeln über ihren Bauch fährt und sich dann auf sie stürzt. Ballhaus fährt mit der Kamera weg von den beiden und zeigt das Meer im hellen Licht der Sonne. Man hört Marthas Schreie. In einer anderen Szene hält Helmut die schwarze Katze, die sich Martha besorgt hat, am Nacken hoch. Der ganze Hass steht ihm im Gesicht, weil Martha sich dieses Tier ins Haus geholt hat. Er lächelt in seinem Hass, und wenig später platziert er die tote Katze im Eingangsbereich der Villa.

Dieser Masochismus vergegenständlicht sich als eine Mentalität, in der jemand die eigenen Qualen nicht nur erträgt, sondern ertragen will. Dies manifestiert sich darin, dass Martha aus der Qual eine Art Tugend macht: Sie gehorcht ihrem Peiniger und illusioniert die Qual zur Notwendigkeit, zur „Freude”, zur Bereitschaft, alles für ihre Ehe zu tun.

Ballhaus drehte fast ausschließlich mit einer 16-mm-Kamera, bewusst, wie er sagt, weil Fassbinder die dadurch entstehenden Begrenzungen absichtlich in Kauf nehmen wollte. Diese Begrenzungen entsprechen, könnte man sagen, den Begrenzungen der handelnden Personen. Ballhaus filmt Martha zwischen den Blättern einer Pflanze hindurch, bricht das Bild der beiden Hauptdarsteller, analog zu deren Beziehung, einer gebrochenen Beziehung, zum Beispiel auch durch den Teil einer verglasten Tür zur Veranda. Dem entspricht die dramaturgische Schärfe, die Fassbinder durchweg der Geschichte auferlegt und die sich teilweise in Absurdität äußert. Helmut zwingt Martha zu einer Fahrt in der Achterbahn. Als sie sich danach erbricht, macht Helmut ihr ausgerechnet in diesem Moment einen Heiratsantrag. Doch diese Absurdität ist nur Schein, wenn man die Beziehung der beiden in Betracht zieht. Helmut kann nun in einer solchen Situation einen Heiratsantrag machen, in einer Situation, in der Martha leidet. Die Pein des anderen wird zum eigenen „Glück”, zur eigenen Befriedigung.

Besieht man den Film als solchen, isoliert vom Gesamtwerk Fassbinders, handelt es sich um eine extrem scharfe Kritik an Beziehungen, in denen sich Sadismus und Masochismus die Klinke in die Hand geben. Erst ganz zum Schluss keimt in Martha die Angst, ja Todesangst vor diesem Helmut, den sie geheiratet hat – zu spät, wie sich erweist.

Zieht man Fassbinders Gesamtwerk in Betracht, erhält diese (übrigens in Konstanz, Kreuzlingen, Ottobeuren und Rom gedrehte) Geschichte weit über eine Kritik bürgerlicher Geschlechterbeziehungen hinaus eine weitere Bedeutung. Wenn man Fassbinders Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte kennt, so stehen Helmut und Martha „nur” für Prototypen dieser Geschichte. Der Sadist Helmut hat sich im Griff; nur ein einziges Mal fährt er vor Martha aus der Haut – ausgerechnet, weil Martha „Lucia di Lammermoor” gefällt (eine „Rome und Julia” ähnliche Geschichte, in der sich eine Frau verzweifelt gegen die Konvenienz-Ehe mit einem ungeliebten Mann wehrt [1]). Nach außen ist Helmut freundlich, zuvorkommend – eben ein lächelnder Sadist, der skrupellos handelt. Martha leidet, weil sie leiden will, und sie empfindet jede auch noch so kleine Einmischung von außen als ungerechtfertigte Störung, begegnet dem mit Aggression und Selbstschutz.

Diese Paarung eines „leisen”, „sympathischen”, „lächelnden” Sadismus und eines selbst gewählten, weil selbst erlernten Masochismus kennzeichnet eben auch Fassbinders Sicht eines Deutschlands des Holocaust und der darauf folgenden Jahrzehnte. Es sind die Folgen einer deutschen Geschichte die in Masochismus („wir” leiden unter dem „Diktat von Versailles”) und Sadismus (die „Täter” der „bolschewistisch-jüdischen Weltverschwörung”) ihren Stellenwert zu erkennen geglaubt hatte, mit denen sich Fassbinder vor allem beschäftigt. Unter anderem seine Filme über die 50er Jahre (etwa „Lola” oder „Die Sehnsucht der Veronika Voss”), aber auch seine ersten Filme über die 60er Jahre („Händler der Vierjahreszeiten”, „Katzelmacher”, „Die bitteren Tränen der Petra von Kant”) sind gelungene Versuche in diese Richtung einer „Nacherzählung” deutscher Geschichte – allerdings ohne den in den 70er Jahren üblichen Weg der pauschalen und pauschalisierten Verurteilung. Fassbinder erweist sich in diesen Filmen, und auch in „Martha”, als Regisseur des „Nahe-dran” und nicht des „Nieder-mit”, was die Identifizierung mit den Figuren – im positiven oder negativen Sinne – umso schwieriger macht, weil sie sofort mit dem eigenen Ich in Verbindung gerät.

Karlheinz Böhm und Margit Carstensen spielen in „Martha” einfach glänzend. Die restlichen Schauspieler stehen eher im Hintergrund dieser Geschichte.

[1] Zu Donizettis Oper: „Lucia soll nach dem Willen ihres Bruders Enrico zur Rettung des Familienbesitzes den einflussreichen Arturo heiraten. Sie liebt jedoch heimlich Edgardo, den ärgsten Feind der Familie, und die beiden schwören sich ewige Treue, bevor Edgardo nach Frankreich reist. Enrico, erbost über diese für ihn gefährliche Entwicklung, fängt die Briefe der beiden ab und überredet die bereits innerlich gebrochene Lucia schließlich unter dem Hinweis auf die offensichtliche Untreue des Geliebten, der Ehe zuzustimmen. Bei der Unterzeichnung des Ehevertrages erscheint Edgardo, und es kommt zur großen Auseinandersetzung aller Beteiligten. In Unkenntnis der Hintergründe wirft Edgardo Lucia den Ring vor die Füße und schwört Rache. Enrico fordert ihn zum Duell, um einen lästigen Störenfried loszuwerden, während sich das Brautpaar zurückzieht. Kurz danach ersticht Lucia ihren ungeliebten Ehemann im Brautbett und verfällt dem Wahnsinn. Der auf das Duell wartende Edgardo hört hiervon und will zu ihr. Als er jedoch von dem Priester Raimondo von ihrem Tod erfährt, bringt er sich um.”
Quelle:
http://www.egotrip.de/theater/9899/9899_llammerm.html



Angst essen Seele auf
(int. Titel: Fear Eats the Soul)
Deutschland 1974, 89 Minuten
Regie: Rainer Werner Fassbinder

Drehbuch: Rainer Werner Fassbinder
Musik: Rainer Werner Fassbinder
Director of Photography: Jürgen Jürges
Montage: Thea Eymèsz
Produktionsdesign: Rainer Werner Fassbinder

Darsteller: Brigitte Mira (Emmi Kurowski), El Hedi ben Salem (Ali), Barbara Valentin (Barbara), Irm Hermann (Krista), Elma Karlowa (Frau Kargus), Anita Bucher (Frau Ellis), Gusti Kreissl (Paula), Doris Mattes (Frau Angermeyer), Margit Symo (Hedwig), Katharine Herberg neidische Frau in Kneipe), Lilo Pempeit (Frau Münchmeyer), Peter Gauhe (Bruno), Marquard Bohm (Gruber), Walter Sedlmayr (Angermayer), Hannes Gromball (Kellner), Hark Bohm (Arzt), Rudolf Waldemar Brem (Kneipengast), Karl Scheydt (Albert), Peter Moland (Chef einer Autowerkstatt), Helga Ballhaus (Yolanda), Ingrid Caven, Rainer Werner Fassbinder, Wolfgang Hess, Kurt Raab

Liebe in den Zeiten des Hasses

„Das Glück ist nicht immer lustig.”
(Aus dem Vorspann des Films)

Ein Raum. Die Tür öffnet sich. Eine Frau tritt herein, bleibt eine Weile stehen. Auf der anderen Seite des Raums stehen oder sitzen sieben Personen, nahezu unbeweglich starren sie die Frau an. Die Szene wirkt wie versteinert. Das Starren drückt aus, was die Personen empfinden. Sie bewegen sich nicht, nicht nur nicht körperlich, auch nicht in ihrem Verhalten oder in ihrem Denken. Eine Fremde steht da! Einige Sekunden später kommt Bewegung in die Situation. Die Frau setzt sich vorsichtig an den Tisch gleich neben der Tür. Noch immer starren die sieben Personen – bis die Wirtin Barbara (Barbara Valentin) hinter ihrem Tresen hervorkommt und sich vor den neuen Gast stellt, ohne etwas zu sagen. Die Frau, etwa 60 Jahre alt, heißt Emmi Kurowski (Brigitte Mira), und erzählt, sie sei nur herein gekommen, weil es so stark regne. Die Wirtin wird leicht ungeduldig; sie will nur wissen, was Emmi trinken will. Eine Cola.

In bestimmter Hinsicht ist Fassbinders Film durchweg so wie in dieser Anfangsszene. Er schwankt zwischen manchmal erschreckender Starre und Stille – oder eher tödlichem Schweigen – und Bewegung und Gespräch. Es ist vor allen anderen Emmi, die mit Bewegung und Worten die Verkrustungen und die starren Verhältnisse aufbricht und das Schweigen beendet. Emmi ist Putzfrau, seit langem Witwe, war verheiratet mit einem ehemaligen polnischen Zwangsarbeiter, der nach 1945 in Deutschland geblieben war.

Jürgen Jürges arbeitet konsequent mit einer fast durchweg statischen Kameraführung. Er hält die Erstarrungen fest, die sich im Laufe der Geschichte abzeichnen: Zum Beispiel die neugierige und neidische Nachbarin Emmis, Frau Kargus (Elma Karlowa), die stets hinter dem Gitter ihrer Wohnungstür steht, um nichts zu verpassen, was sich im Treppenhaus ereignet. Das, was diese Menschen auszeichnet, ist nicht Interesse am anderen, sondern die Suche nach Projektionsflächen für ihre negativen Gefühle. Meist durch Türen wie in einem Rahmen werden die Personen gefilmt, um die Grenzen ihrer Möglichkeiten aufzuzeigen – woher sie auch rühren.

Und dann passiert etwas, was die Alltagssituation in Barbaras Kneipe völlig verändern wird. Der marokkanische Kfz-Mechaniker Ali (El Hedi ben Salem) geht auf Emmi zu und fordert sie auf, mit ihm zu tanzen. Sie tanzen. Und Ali bringt Emmi nach Hause. Es regnet stark. Beide stehen im Treppenhaus und Emmi erzählt von sich und Ali hört zu. Es regnet noch immer. Weil Ali so freundlich war, bittet Emmi ihn zu sich hinauf zu einer Tasse Kaffee.

„Immer sagt man ‚Aber’ im Leben –
‚Aber’ – und alles bleibt beim Alten.”
(Emmi zu Ali)

Emmi sagt nicht „Aber”. Und Ali ebenfalls nicht. Ali bleibt, nicht nur zum Kaffee. Er übernachtet bei Emmi, und als er nicht schlafen kann, geht er zu ihr. Ali und Emmi schlafen miteinander. Am nächsten Morgen frühstücken sie. Emmi ist aufgeregt, ängstlich. Was ist geschehen? Was soll daraus werden. Und Ali sagt: „Nix weinen. Nix Angst. Angst essen Seele auf.” Das Unmögliche geschieht. Es geschieht, was alle anderen für unmöglich halten. Ali, mehr als zwanzig Jahre jünger, Marokkaner, verliebt sich in Emmi und Emmi in Ali.

Was nun geschieht? Das Schlachtfest wird eröffnet. Emmi und Ali sollen geschlachtet werden. Die Nachbarinnen, die Arbeitskolleginnen von Emmi, ihre Kinder, ein Teil der Kneipengäste – alle fallen sie über die beiden her. Die Nachbarinnen Frau Kargus, Frau Ellis und Frau Münchmeyer sehen den Schmutz, die Hurerei, das Schamlose genauso wie die Putzfrauen Paula, Hedwig und Frieda und die Söhne Albert und Bruno und die Tochter Krista und ihr Mann Eugen. Der Kleinkrämer Angermayer (Walter Sedlmayr) weigert sich, Ali zu bedienen.

Sie schicken die Polizei, den Vermieter, aber vor allem den Hass, den Neid und die eigenen projizierten Ängste gegen das „Unnatürliche”. Als der Sohn des Vermieters (Marquard Bohm), aufgestachelt durch die Nachbarinnen, Emmi auffordert, ihren Untermieter Ali aus der Wohnung zu entfernen, behauptet Emmi – eigentlich nur um Ali zu schützen –, sie wolle ihn heiraten. Herr Gruber gibt sich damit zufrieden. Und Ali nimmt es ernst. Und Emmi nimmt das dann auch ernst. Sie heiraten – gemieden von allen, angefeindet von allen. Und als Emmi nicht mehr kann, fahren beide an den Steinsee in Urlaub.

Danach scheint alles anders. Aber Fassbinder sieht nicht nur genau hin, er zeigt auch genau, was anders ist. Der Kleinkrämer will Emmi als Kundin wieder, weil er die Konkurrenz des Supermarkts fürchtet. Sohn Bruno braucht Emmi, um seine Tochter aus dem Kindergarten zu holen, weil seine Frau jetzt arbeitet. Frau Ellis braucht Emmis Keller, um die Sachen ihres Sohnes unterbringen zu können. Und eine Arbeitskollegin wurde wegen Diebstahls entlassen und durch die Jugoslawin Yolanda ersetzt, und Emmis Kolleginnen brauchen sie, um einen um 20 Pfennig höheren Lohn zu verlangen, der schon lange versprochen war.

So scheint sich alles funktionell zu regeln. Nur Ali hat plötzlich Probleme, braucht Zeit für sich, hat Probleme mit der Anpassung, die Emmi verlangt,  und schläft mit der Wirtin Barbara. Ali und Emmi überstehen auch dies.

Fassbinders formal sehr stark an den Melodramen Douglas Sirks orientierter Film bringt im exakten Wortsinn etwas sehr Exaktes auf den Punkt. „Angst essen Seele auf” ist sicherlich und vor allem ein Film gegen den blühenden Rassismus – und insofern ist dieser über 30 Jahre alte Film (leider) so aktuell wie 1974. Doch der Film geht weit darüber hinaus. Fassbinders extrem minimalistische Form des Filmens, der Dialoge, der Szenerie, der Gestik und Mimik fokussiert die Geschichte nicht nur auf das Wesentliche, das Konzentrat, das Eingemachte. Er zeigt, wie subjektive Befindlichkeit, Unzufriedenheit, Ängste gepaart mit einer erlernten, anerzogenen (deutschen) Tradition, die sich auf alles „Fremde”, „Andere”, „Andersartige” negativ bezieht, Projektionsflächen schafft, um diesem Negativen in den Projizierenden selbst einen personalen Ausdruck im anderen zu verschaffen: in der Konstruktion dessen, was man gemeinhin und gemeiner Weise (in diesem Fall und in dieser Geschichte) „Ausländer” nennt.

Emmis Mut, Unverdrossenheit, ja Urvertrauen führt beide, Ali wie Emmi, in eine Situation, in der sie anfangs zum Abschuss freigegeben zu sein scheinen. Die Blockwarte der 70er Jahre scheinen Oberwasser zu gewinnen. Doch beide widerstehen, trotz subjektiver Hindernisse und Rückschläge, diese Situation. Emmi hat nämlich etwas anders gelernt als die Neider um sie herum, und Ali auch. Aber nicht nur das. Fassbinder beabsichtigte zunächst, den Film mit einem tragischen Ende ausklingen zu lassen. Er hat es – in diesem Fall zum Glück – gelassen. Diese positive Wende, dieses Festhalten aneinander am Schluss – gegen jegliche Hürden – hat in keiner Weise den Geruch des Rührseligen, Kitschigen oder Unrealistischen. Es ist eher die Inanspruchnahme des der Realität sehr nahen Utopischen (im Gegensatz zu utopischen Schwärmereien), das den Film über das Ende hinaus fruchtbar, statt furchtbar in den Konsequenzen der Geschichte werden lässt. Die Neider stehen im Abseits, sind schachmatt. Eine Schlacht ist gewonnen, wenn auch nicht der Krieg.

Ali, der Angst vor der Anpassung bekommt, könnte als eigentlich tragische Figur des Films erscheinen. In gewisser Weise ist er das auch. Aber diese Tragik ist keine absolute, kein starre, festgefahrene Größe. Der Schluss des Films offenbart die Chance für Emmi und Ali und beider Bereitschaft, diese Chance für sich wahrzunehmen: eine eigentlich unmögliche Liebe möglich werden zu lassen. Angesichts der Zweifel Fassbinders an „normalen” Beziehungen ist dieses Ende eben kein Ende, sondern eher ein Anfang.


 

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Angst essen Seele auf-Emmi
Angst Essen Seele auf-Ali