La Strada - das Lied der Straße (1954)
Das süße Leben (1960)
Satyricon (1969)





La Strada – das Lied der Straße
(La Strada)
Italien 1954, 98 Minuten
Regie: Federico Fellini

Drehbuch: Federico Fellini, Tullio Pinelli
Musik: Nino Rota
Director of Photography: Otello Martelli, Carlo Carlini
Montage: Leo Cattozzo
Produktionsdesign: Mario Ravasco, E. Cervelli, Brunello Rondi

Darsteller: Anthony Quinn (Zampanó), Giulietta Masina (Gelsomina), Richard Baseheart (Il Matto), Aldo Silvani (Il Signor Giraffa), Marcella Rovere (La Vedova), Livia Venturini (La Suorina), sowie Gustavo Giorgi, Kamadeva Yami, Mario Passante, Anna Primula

Wege ...

Schon in diesem Film, in dem Fellinis (1920-1993) Frau Giulietta Masina (1921-1994) die weibliche Hauptrolle spielt (ebenso in „Die Schwindler“, 1955; „Julia und die Geister“, 1966; „Ginger and Fred“, 1986), kündigt sich Fellinis Liebe für die Darstellung des Lebens und der inneren Zustände von Menschen als Absurdität an, später deutlicher in Filmen wie „Satyricon“ (1969) oder auch „Stadt der Frauen“ (1980). In „La Strada“ spürt man noch Reste des Neorealismus, die aber bereits verfremdet erscheinen, sowohl was Figuren, als auch was den Ort der Handlung anbetrifft. Es ist die Welt der Gaukler, des fahrenden Volkes, der Clowns und Artisten, aber auch anderer, hoffnungsloser Menschen, die in „La Strada“ Schauplatz einer Geschichte ist, von der Fellini selbst sagte, sie sei entstanden „aus der Vorstellung von einem Mann und einer Frau, die äußerlich zusammenleben, aber in ihrem Innern durch astronomische Weiten voneinander getrennt sind“. „La Strada“ sei sein persönlichstes Werk, „gerade ein Stück meiner selbst“.

Das Meer ist Anfang und Ende der Straße. Dort kauft der ruppige, emotional gepanzerte Gaukler Zampanó (Anthony Quinn) von einer armen Frau für 10.000 Lire deren Tochter Gelsomina (Giulietta Masina), die für ihn arbeiten soll. Sie soll für ihn trommeln, wenn er vor Publikum die um seine Brust gelegten Ketten zerbrechen lässt, als Clown auftreten und ihm auch ansonsten zur Hand gehen. Gelsomina spielt aber nicht nur den Clown. Mit ihrem „Rettichkopf“ und ihren großen Augen wandert sie als Clown durch die Welt – liebenswürdig und verletzlich, freundlich und nach Zuneigung dürstend glaubt sie, in Zampanó einen Freund, vielleicht einen Mann gefunden zu haben. Aber Zampanó interessiert Gelsomina nicht als Frau. Der Gaukler ist wüst, trinkt über die Maßen und an jedem Ort, an dem die beiden mit seinem von einem Motorrad gelenkten Wagen auftauchen, jagt er Frauen hinterher.

Gelsomina ist tief enttäuscht, und als sie in einer Stadt nach einer Prozession den Seiltänzer Il Matto (Richard Baseheart) sieht, glaubt sie, ein bisschen Glück gefunden zu haben. Zampanó tritt eine Zeitlang im selben Zirkus von Il Signor Giraffa (Aldo Silvani) auf wie Il Matto, ein sarkastischer Zeitgenosse, der Zampanó vor dem Publikum und auch sonst verspottet. Am liebsten würde Gelsomina bei Il Matto bleiben. Doch der geht weg und schenkt ihr zum Abschied eine Kette.

Gelsomina lernt, Trompete zu spielen, versucht, Zampanós Herz zu gewinnen, wird von ihm aber immer wieder zurückgewiesen. Als beide eines Tages wieder auf Il Matto treffen, kommt es zum Streit zwischen beiden und Zampanó erschlägt Il Matto. Gelsomina ist verzweifelt, nichts ist für sie mehr so wie vor der Tat. In diesem Zustand lässt Zampanó Gelsomina zurück.

Jahre Später erfährt er von einer Frau, die das Lied singt, das Gelsomina immer auf der Trompete gespielt hatte, dass sie tot ist ...

Die Linke in Italien warf Fellini angesichts von „La Strada“ vor, den „gemeinsamen Kampf“ wie den Neorealismus des italienischen Films verraten zu haben. Aber Fellini drückte mit „La Strada“ eigentlich nur aus, dass er sich in die Konfrontation zwischen der Linken und dem katholischen Lager von keiner Seite vereinnahmen lassen wollte. „La Strada“ zeigt Menschen ohne Perspektive und einen Regisseur, der sich eine selbständige Sicht der Welt erhalten hat. Fellini zeigt Prozessionen, ein Kloster, Nonnen, aber diese inszenierte Sicherheit einer schon fast obsolet gewordenen Heilsideologie berührt die Figuren in diesem Spiel kaum. Man übernachtet bei den Nonnen, fragt freundlich danach, aber die emotionalen Konflikte von Gelsomina und Zampanó stehen fast völlig unvermittelt neben diesem Geschehen. Als Gelsomina Il Matto hoch oben zwischen zwei Häusern auf dem Seil sieht, ist alles andere egal. Das Marienbild der Prozession steht abseits von ihr, fast leblos. Für sie und Zampanó ist das Leben – wenn auch auf unterschiedliche Weise – ein Prozess voller Trennungen und Abschiede. Es beginnt am Meer und endet am Meer. Rom, alle anderen Orte, die sie entlang fahren, kommen nur am Rande vor. Entscheidend für beide sind das Weiterfahren und das Abschiednehmen, das Schmerzliche, das darin zum Vorschein kommt, für beide auf unterschiedliche Weise.

Gelsomina ist ein zerbrechlicher und fröhlicher Mensch, der Mensch als Clown, nicht als alberner Schalk, sondern ein Clown im Sinne von Lebenskraft und Urvertrauen, von der Einheit von Tragik und Komik. Sie sucht nach einem ebensolchen Menschen. Zampanó ist ein lebendiger Panzer, der, wenn es sein muss, aus allen Rohren schießt, ein Rohling, der seine Gefühle in ein Gefängnis gesperrt hat. An ihm scheitert Gelsomina an dem Punkt, als Il Matto, dieser ganz andere, spottende, aber herzliche Mensch von Zampanó getötet wird. Mit seinem Tod stirbt in Gelsomina die Freude, die Hoffnung und letztlich das Leben. Zampanó löscht es aus, und als er Jahre später von Gelsominas Tod erfährt, weint er zum ersten Mal, unbewusst dessen, was er sich und anderen angetan hat. Am Meer liegt er im Sand, nachdem er seine Wut, die er nicht gegen sich selbst richten kann, in einer Kneipe an anderen ausgelassen hat.

Wenn Gelsomina die Seele, die Wärme, das Lebendige versinnbildlicht, so Zampanó das Körperliche, das Unförmige, Robuste, Äußerliche, an das Gelsomina nicht herankommt. „La Strada“ zeigt die Welt der Gaukler, aber auch eine Welt der Spelunken, der verfallenen Häuser, der armen Vorstädte, nur eben nicht im Korsett der marxistischen Ideologie oder der katholischen Doktrin. Fellinis Inszenierung deutet eher auf die Absurdität dieses Lebens, nicht auf ein mit viel Trara inszeniertes Programm der Veränderung, auf die Perspektivlosigkeit, der man kaum mit am „runden Tisch“ entstandenen Heilslehren beikommen kann. Die Straße, die Wege, die Abzweigungen, die der Film zeigt, repräsentieren insofern auch die tendenzielle Ziellosigkeit und Zufälligkeit des Geschehens, des Lebens der Figuren.

Im nachhinein gesehen, ist „La Strada“ filmhistorisch und in bezug auf die (politischen) Auseinandersetzungen im Italien der 50er und 60er Jahre auch ein Abschied vom Prokrustesbett der Ideologien und des bisherigen Neorealismus, ohne diesen vollständig über Bord zu werfen. Die zunächst geäußerte Sympathie katholischer Kreise für „La Strada“ verwandelte sich schnell wieder in Distanz, als Fellini 1960 „Das süße Leben“ inszenierte, einem Film, in dem er die Dekadenz von römischer Schickeria, Regenbogenpresse u.a. zeigt, eine Welt der Bedeutungslosigkeit, der Jagd nach Ekstasen, einer lieblosen Welt, in der sich Marcello Mastroianni als Klatschkolumnist mit anderen als Müßiggänger bewegt.

Die Dramatik in „La Strada“ wird übrigens durch die Musik Nino Rotas vehement unterstützt. Die Abschiedsszenen, die Trennungen erhalten hierdurch eine Ausdruckskraft, die durch noch so geschliffene Dialoge kaum zu erzielen wäre.



Das süße Leben
(La Dolce Vita)
Italien 1960, 174 Minuten
Regie: Federico Fellini

Drehbuch: Federico Fellini
Musik: Nino Rota
Director of Photography: Otello Martelli
Montage: Leo Cattozo
Produktionsdesign: Piero Gherardi

Darsteller: Marcello Mastroianni (Marcello Rubini), Anita Ekberg (Sylvia), Anouk Aimée (Maddalena), Yvonne Furneaux (Emma), Magali Noël (Fanny), Alain Cuny (Steiner), Annibale Ninchi (Marcellos Vater), Walter Santesso (Paparazzo), Valeria Ciangottini (Paola), Riccardo Garrone (Ricardo, Villenbesitzer), Lex Barker (Robert), Polidor (Clown), Alain Dijon (Frankie Stout), Adriana Moneta (Ninni, Prostituierte)

Der morbide Geschmack des Verfalls

„Das erbärmlichste Leben in
Freiheit ist besser als eine in dieser
Gesellschaftsordnung verankerte
Existenz, ein Leben, in dem alles
organisiert ist, in dem alles festgelegt
ist.” (Steiner zu Marcello)

Es ist süß, dieses Leben, das in der Via Veneto sein Zentrum gefunden zu haben scheint, in dem das Vergnügen zum Inbegriff des Lebens geworden ist – süß, aber mit einem morbiden Beigeschmack, der sich kaum leugnen lässt. Es ist ein Leben, das sich im Kreis dreht – von einem Cabaret zum nächsten Nightclub, von einem scoop zur nächsten Sensation. Ein Leben, das die Pressemeute bebildert und genüsslich kommentierend festhält, als ob es darum gehe, Geschichte zu schreiben. Doch die Geschichten, die Marcello Rubini (Marcello Mastroianni) und seine Paparazzi-Kollegen aufschreiben und mit Fotos garnieren, haben keine längere Halbwertzeit als ein paar Tage. Wie auch, denn was dort geschieht und sich in den Klatschspalten der römischen Presse verbogen oder auch mal getreu wiederfindet, ist Ausdruck einer Art Inzucht der römischen Schickeria, all jener Möchtegern-Künstler und -Intellektuellen, verwöhnten und gelangweilten Reichen, deren Leben sich zwischen Bedeutungslosigkeit und Sinnfreiheit abspielt.

Als Marcello den Schriftsteller Steiner (Alain Cuny) nach langer Zeit in einer Kirche wieder trifft, glaubt er in ihm ein Gegenbild all dessen gefunden zu haben, einen Mann, der nachdenkt, der es zu etwas gebracht hat, der die Welt nicht nimmt, wie sie ist, dem ein festgelegtes Leben ein Graus ist, einen Mann, der mit seiner Frau und seinen zwei kleinen Kindern glücklich zu sein scheint. Steiner – hat er nicht das, was Marcello immer sein wollte?

„Manchmal bedrückt mich die
Nacht, diese Dunkelheit, dieses
Schweigen. Dieser Frieden macht
mir Angst. Diesen Frieden fürchte
ich mehr als alles andere. Ich habe
das Gefühl, als wäre er ein Trugbild,
hinter dem sich die Hölle versteckt.”
(Steiner zu Marcello)

Und Marcello? Er jagt hinterher – hinter den Frauen, den Sensationen der Via Veneto, den Knüllern. Auf einer Party trifft er die reiche und schöne Maddalena (Anouk Aimée), die sich langweilt, die ihn mitnimmt, mit der er bei einer Prostituierten, die beide unterwegs treffen, eine Nacht verbringt, irgendwo in den schmuddeligen, öden Außenbezirken Roms. Ober er wirklich mit ihr geschlafen hat, weiß man nicht. Später wird Maddalena Marcello fragen, ob er sie heiraten will. In einer Art Schloss spricht sie von einem Raum aus durch eine Art Hörgang in einen anderen Raum, in dem Marcello sitzt. Gleichzeitig lässt sie sich von einem anderen Mann verführen. Nie würde Marcello mit ihr glücklich werden, denn sie liebe ihn, wolle ihm treu sein, aber sie sei eben doch eine Hure, sagt Maddalena zu ihm.

Kaum ist Maddalena in Marcellos Leben getreten, ist sie auch schon wieder weg – wie ein Hauch, ein flüchtiger Wink. Dafür erscheint die Schauspielerin Sylvia (Anita Ekberg), die üppige Blonde, die Diva, die sich am Flughafen in all ihrer Pracht ablichten lässt, die sich badet im Blitzlicht der Papparazzi. Sie verfolgt Marcello nun, die Treppen hinauf in den Petersdom, durch Rom hindurch, bis er sie aus den Augen verliert und im Trevi-Brunnen wiederfindet. Dort steht dieses erträumte Urbild einer Frau und Marcello bewundert sie, sucht in dieser Frau jede Frau. Doch genauso abrupt wie mit Maddalena endet die Traumreise mit Sylvia. Ihr Verlobter Robert (Lex Barker) schickt sie auf ihr Zimmer und verpasst Marcello einen Kinnhaken.

Marcello sucht nicht wirklich. Er vertreibt sich die Zeit. Seine Verlobte Emma (Yvonne Furneaux), die Marcello liebt, ihn bei sich haben will, klammert, aus Verzweiflung Tabletten schluckt, ihn verabscheut und sich dann wieder nach ihm sehnt, hat keine Chance. Sie klammert sich an ein Bild wie sich Marcello an Bilder klammert. Eine Welt der trügerischen und betrügerischen Bilder, die Fellini – wie später übrigens ähnlich in „Satyricon” (1969) – in einer Szenerie entfaltet, die so realistisch und doch gleichzeitig so alptraumhaft wirkt.

„Ich frage mich, was die Zukunft
meinen Kindern bringen wird. Die
Welt wird wunderbar sein, sagen sie.
Aber wie kann sie wunderbar sein,
wenn jemand nur auf einen Knopf
zu drücken braucht, um sie in ein
Chaos zu verwandeln.”
(Steiner zu Marcello)

Es sind die Zeichen, die diese Welt scheinbar zusammenhält, Zeichen, die auf Verlust und Leere hindeuten. Die Religion hat längst ihre Macht verloren. In der Anfangsszene transportiert ein Hubschrauber eine Jesus-Statue über Rom, einen Jesus der freundlich lächelnd die Arme ausbreitet, einen Jesus aber, der nicht mehr verankert ist. Als zwei Kinder behaupten, ihnen sei die Madonna erschienen, sammeln sich Fernsehen, Paparazzi und fanatische Wundergläubige an der Stelle, Lahme und Blinde folgen den Kindern zur Wunderwiese und zum Wunderbaum – bis die ganze mediale Zeremonie im prasselnden Sommerregen ein Ende findet. Bis zur Groteske steigert Fellini hier die Entwertung aller Werte. Die religiösen Zeichen sind schon deutlich, und es spricht viel dafür, dass etwa die sieben Todsünden (Zorn, Neid, Habsucht, Hochmut, Wollust, Völlerei und Trägheit) zu den markanten Kennzeichen der Protagonisten des Films gehören. Aber es geht Fellini wohl kaum um eine Renaissance der Religion, sondern eher um die Weltfremdheit einer Welt, in der die Religion kaum noch eine Bedeutung spielt, ebenso zur Ware verkommt wie alles andere, eine Welt ohne Halt. Ein toter Fisch, den Marcello und einige andere nach einer jener sinnlosen, kollabierenden Partys am Schluss aus dem Meer ziehen, starrt aus seinen Augen und ist ebenfalls Symbol für eine sterbende Welt. Ein vielleicht 13jähriges Mädchen, Paola (Valeria Ciangottini), das Marcello beim Schreiben am Stand kennen gelernt hatte, lächelt und winkt zu ihm herüber. Paola – die Unschuld, die Unberührte, stellt noch Fragen, will wissen, doch Marcello versteht sie nicht.

Auch das Treffen mit seinem Vater (Annibale Ninchi) gestaltet sich wie ein Alptraum. Der Vater, den er nie richtig kennen gelernt hatte, weil er als Handlungsreisender unterwegs war, will „etwas erleben” in Rom. Im Morgengrauen erleidet er einen Schwächeanfall. Marcello bittet ihn, noch zu bleiben, aber sein Vater will nach Hause – eine Episode im Leben Marcellos wie jede andere.

„Man sollte fern aller Leidenschaft,
jenseits aller Gefühle leben, in
jener Harmonie, wie sie nur ein
vollendetes Kunstwerk besitzt,
in einer solchen verzauberten
Ordnung. Man müsste so sehr lieben
können, um außerhalb der Zeit
zu leben, losgelöst, losgelöst.”
(Steiner zu Marcello)

Und selbst als Marcello erfährt, dass Steiner, der Intellektuelle, der Schriftsteller, der die Dinge angeblich so ernst nimmt, seine beiden Kinder und dann sich selbst getötet hat, ist er nur für den Moment erschüttert – auch ein Ereignis, das einen Knüller abgibt – nicht mehr. Dabei hatte Steiner mehr als deutlich gesprochen, wenn auch in einer intellektuell verbrämten Sprache, wohin ein Leben führt, das Bedeutungslosigkeit und Sinnfreiheit zu seinem Zentrum gemacht hat. Im Tod sah er die „verzauberte Ordnung”, das „losgelöste” Dasein. Die Angst vor der Nacht, der Stille, der Dunkelheit, dem Frieden – das war die Angst vor dem sinnhaften Tod eines sinnvollen Lebens. Insofern waren Mord und Selbstmord nur Konsequenzen dieser Angst. Und Marcello, der Herumtreiber, der Wandler zwischen den belanglosen, endlosen Partys und der sinnlosen Suche nach der Frau aller Frauen, will davon nichts wissen, obwohl er die Angst Steiners als Ursache seiner Taten erahnt.

Fellinis „La Dolce Vita” erregte heftige Skandale. Doch die so deutliche Darstellung der Dekadenz der römischen Schickeria ist nicht begleitet von herablassendem Spott oder moralischer Verurteilung. Fellini visualisiert diese Dekadenz in (fast) allen Einzelheiten, überlässt es aber dem Betrachter, Konsequenzen zu ziehen.

Marcello Mastroianni ist hier erstmals in einem Fellini-Film zu sehen, bevor er später zu einer Art Alter ego des Regisseurs wurde. Seine fast schon passive Art zu spielen passt sich hervorragend in diese Geschichte der Dekadenz ein. Anita Ekberg, eine nicht gerade begnadete Schauspielerin, spielt sich selbst, was der Rolle angemessen ist. Anouk Aimée ist bewundernswert wie fast immer. In einer (ungewohnten) Nebenrolle spielt Lex Barker Anita Ekbergs Verlobten als trunksüchtigen, vom Leben und Sylvia enttäuschten Amerikaner. Yvonne Furneaux kann ebenfalls überzeugen als Frau, die sich von Marcello nicht lösen kann.



Fellinis Satyricon
(Satyricon)
Italien 1969, 138 Minuten
Regie: Federico Fellini

Drehbuch: Federico Fellini
Musik: Tod Dockstader, Ilhan Mimaroglu, Nino Rota, Andrew Rudin
Director of Photography: Giuseppe Rotunno
Montage: Ruggero Mastroianni
Produktionsdesign: Luigi Scaccianoce, Giorgio Giovannini

Darsteller: Martin Potter (Encolpio), Hiram Keller (Ascilto), Max Born (Gitone), Salvo Randone (Eumolpo), Mario Romagnoli (Trimalcione), Magali Noël (Fortunata), Capucine (Trifena), Alain Cuny (Lica), Fanfulla (Vernacchio), Danica La Loggia (Scintilla), Giuseppe Sanvitale (Abinna)

Traumhafte Dekadenz ...

Man fühlt sich versetzt in einen Traum, einen Alptraum zumeist, gespielt gleichsam sowohl auf der antiken Bühne eines Amphitheaters, wie auch in Unterwelt, wenn die beiden Studenten Encolpio (Martin Potter) und Ascilto (Hiram Keller) durch die Gelage und Obszönitäten, frivolen und ekelhaften Schauplätze Roms zur Zeit Neros wandern. Man wandert mit, wie in einer Galerie von Gemälden, einzelnen Szenen, und manches Mal hatte ich den Eindruck, dass Fellinis Inszenierung, die auf den erhaltenen Fragmenten des satirischen Romans „Satyricon“ des Gaius Petronius (gestorben um 66 n. Chr.) beruht, dem Leidensweg Christi nachempfunden ist, wie er etwa in den so genannten Stationswegen dargestellt wird. Am Ende dieses Leidenwegs aber steht keine Erlösung, keine Wiederauferstehung, keine heilige Dreieinigkeit oder ähnliches.

Die beiden Jünglinge durchwandern ein finsteres Tal, wetteifern um den jungen Sklaven Gitone (Max Born) – Pädophilie spielt eine zentrale Rolle in dieser Zeit –, lernen die verschiedenen Seiten der römischen Gesellschaft kennen, nehmen am Gastmahl des herrschsüchtigen Trimalcione (Mario Romagnoli), der sich mit dem Dichter Eumolpo (Salvo Randone) streitet, und dessen Frau Fortunato (Magali Noël) teil, werden von einem Tyrannen namens Lica (Alain Cuny) gefangen genommen, der später geköpft wird, werden Zeuge des Selbstmordes eines Patrizierehepaares, das vorher seine Sklaven in die Freiheit entlassen hatte. Wie Theseus muss Encolpios gegen den Minotaurus (George Eastman) kämpfen, der sich dann jedoch als Schauspieler entpuppt. Gewalt, Tyrannei, Laster – was anderes scheint es in dieser phantastischen Welt nicht zu geben ...

Fellini zeichnet ein Sittengemälde, das sich von der Vorlage des Petronius sicherlich an vielen Stellen entfernt hat. Man begegnet skurrilen, abscheulichen, manchmal märchenhaften Gestalten, fetten Frauen und noch fetteren männlichen Kolossen, Hermaphroditen, sich Gelagen hingebenden Patriziern, nimmt an fremden Gebräuchen teil, deren Sinn einem unverständlich bleibt. Fellini, der andererseits dem fragmentarischen Charakter der Vorlage des Petronius treu geblieben ist, erzählt nicht, er zeigt, lässt Einblicke zu in unwirkliche Landschaften, eine verborgene Unterwelt, in der schöne Knaben, die den Herrschenden in Rom als sexuelles Futter dienen, ebenso zu sehen sind wie Zwerge und Krüppel, erfolglose Schriftsteller und skrupellose Tyrannen. Diese Bilderfolge, gepaart mit geheimnisvollen Zeichen und Symbolen, Gebärden und abrupten Szenenwechseln, deutet jedoch nicht so sehr auf deren Ursprünge bei Petronius, der seine Zeit satirisch begleitete und die Emporkömmlinge im Rom Neros einer beißenden und spottenden Kritik unterzog (weswegen er von einem Günstling Neros beschuldigt und dann in den Selbstmord getrieben wurde). „Satyricon“ ähnelt in vielem eher Fellinis „Das süße Leben“ (1960), in dem er die Dekadenz der römischen Schickeria zeigte. 1969 gedreht, sind die Bezüge in „Satyricon“ zur Gegenwart um 1969 – wenn auch stark verfremdet – doch überdeutlich. Allein der (klassische) Titel „Satyricon“ verweist schon auf zweierlei: zum einen auf die Satyre, Sagengestalten, Wald- und Hügelgeister, halb Mensch, halb Tier, berüchtigt wegen ihrer Bosheit und Lüsternheit, wilde, übermütige Wesen im Gefolge des Dionysos; zum anderen auf Satire.

Von vielen als Zeit des Aufbruchs, gar einer revolutionären neuen Aufklärung und grenzenloser Freiheit verstanden, setzt Fellini – hier, wenn auch in anderen Zusammenhängen und mit anderen Mitteln, Pier Paolo Pasolini ähnlich – der Zügellosigkeit und falsch verstandenen Freiheit visuell umgesetzte Grenzen. Das Betrachten der Bilder und Szenen, Zeichen und Symbole versetzte mich in einen grotesken, ja bizarren Zustand, von Ekel, Neugier, Hinschauen-Wollen und Wegsehen-Müssen zugleich geprägt. Das Verhalten der Figuren ist nur oberflächlich geprägt von einer grenzenlosen Freiheit, im Grunde von, ja man kann sagen: absoluter Bedeutungslosigkeit. Lust verkommt zum Spielball der Macht, zum Selbstzweck. Die Süße des süßen Lebens schmeckt modrig. Der Leichengeruch ist permanent. Das Dekadente ist das Obszöne, und dies wiederum verleitet gleichermaßen zum Voyeurismus und zur Abscheu. Dadurch vermeidet Fellini, dass der Betrachter den Standpunkt des Urteilens und Verurteilens, der Verachtung und der Arroganz einnehmen kann; man fühlt sich, jedenfalls ab und an, ertappt.

Die letztlich erschreckende Leere des Geschehens ist im Film nicht von dieser Welt, in bezug auf die ausgehenden 60er Jahre aber ein bildreicher und symbolischer Kommentar, sei es zur „freien Liebe“, sei es zur „antiautoritären Erziehung“, sei es zum sich in manchen (politischen) Kreisen der damaligen Zeit breit machenden Standpunkt der Allgemeinsetzung der eigenen Maßstäbe, die allesamt an einem Punkt in ihr Gegenteil umschlagen (müssen): in Zwang, Herrschaft, Bevormundung.

Es ist das Traumhafte dieses Films, das die Figuren zu Fleisch und Blut werden lässt. Es waren Fellinis eigene Träume und seine Relation zur Vorlage des Petronius, die diese Bilder generierten, angezogen von der Dekadenz und den Exzessen, die zugleich Neugier und Angst erzeugen und den Zusammenbruch, den sozialen Kollaps dieser Welten vorausnehmen.


“Amarcord” (1973)
“Il Bidone” (1955)
“8 1/2” (1963)
 

La Strada-Filmplakat
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La Dolce-Marcello und sein Vater
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