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Frühling, Sommer, Herbst, Winter ... und Frühling (Bom yeoreum gaeul gyeoul geurigo bom) Südkorea 2003, 103 Minuten Regie: Ki-duk Kim
Drehbuch: Ki-duk Kim Musik: Ji-woong Park Director of Photography: Dong-hyeon Beak Montage: Ki-duk Kim
Darsteller: Yeong-su Oh (alter Mönch), Ki-duk Kim (erwachsener Mönch), Young-min Kim (junger erwachsener Mönch), Jae-kyeong Seo (jugendlicher Mönch), Jong-ho Kim (Mönch im Kindesalter), Yeo-jin Ha (das Mädchen)
Ein Blick in unser Innerstes
„Erziehung ist sich erziehen, Bildung ist sich bilden.” (1)
Der Mensch teilt sich – in eine lehrende und eine lernende Hälfte. Die Gesellschaft reduziert sich auf zwei Menschen und das Wesentliche zum Leben. Da ist keine hochmoderne Technik, da ist keine Stadt. Es gibt keinen Verkehr, keine Behörden, keine Staatlichkeit – nichts von alldem. Man kann es auch anders ausdrücken: Alles, was sich in der Moderne diversifiziert, entfaltet hat, ist hier noch Teil von zwei Menschen – das Politische, das Soziale, das Kulturelle, das Wirtschaftliche konzentriert sich in ihnen, sozusagen zwei Urbildern von Mensch.
Und doch ist in ihnen eben auch die Erinnerung und das Wissen der Moderne. Es liegt hinter ihnen, vor ihnen, neben ihnen. Sie sind nur abseits davon, aber im Gedächtnis hat sich die Moderne manifestiert. Nur, dass beide von ihr abstrahieren, weil sie einen Raum zum Leben gewählt haben, der dies alles weit von sich lässt. Bis einer von beiden in die Moderne zurückkehrt.
Es ist FRÜHLING. Ein kleiner See mitten in den Nebelschwaden des frühen Morgens. Auf dem See sehen wir einen Tempel auf einem Floß – das Zentrum alles Lebendigen, alles Menschlichen. Ein alter Mönch (Yeong-su Oh) hat einen Schüler, vielleicht vier, fünf Jahre alt (Jong-ho Kim). Der Junge lernt beim Alten, fast unmerklich, leise, behutsam. Welche Kräuter sind essbar, welche giftig. Als der Junge nacheinander einer Schlange, einem Frosch und einem Fisch einen Stein mit Schnur an den Leib bindet und sich an der Qual der Tiere erfreut, schaut der Alte nur ruhig zu. Doch in der Nacht bindet er dem Jungen einen schweren Stein auf den Rücken, und am Morgen, als sich der Junge über die Last beschwert, fordert der Alte ihn auf, die Tiere von ihrer Last zu befreien, denn auch sie litten wie er unter den Steinen. Wenn nur eines der Tiere an den Qualen gestorben sei, müsse der Junge sein Leben lang diesen Stein in seinem Herzen tragen. Der Fisch und die Schlange sind tot. Den Frosch kann der Junge lebend befreien.
Der junge Mönch ist inzwischen zu einem jungen Mann herangereift ( Jae-kyeong Seo, dann Young-min Kim). Als eine Mutter im SOMMER ihre kranke Tochter dem Alten bringt, der sie heilen soll, verliebt sich der Junge in das schöne Mädchen (Yeo-jin Ha), begehrt es, berührt es, kassiert eine Ohrfeige. Doch auch das junge Mädchen begehrt schließlich den jungen Mönch, und sie verbringen einige Nächte und Tage zusammen, schlafen miteinander – bis der Alte erklärt, die Seele des Mädchens sei nun befreit und ihre Krankheit geheilt. Der Junge will nicht, dass sie wieder geht. Und als sie geht, packt er seine Buddhastatue und folgt ihr. Der Alte bleibt allein, und seine Mahnung an den jungen Mönch verhallt:
„Aus Begierde entsteht Abhängigkeit. Und aus Abhängigkeit en entstehen Mordgedanken.”
Es ist HERBST und der alte Mönch muss in einer Zeitung, in der Fisch eingepackt war, lesen: „30jähriger Mann bringt Ehefrau um und flüchtet.” Er weiß genau, dass dies der junge Mönch war, und er weiß, dass er bald auf dem See bei ihm auftauchen wird. Aus Eifersucht hat der junge Mönch seine Frau getötet, die sich mit einem anderen Mann eingelassen hatte. „Das Leben da draußen ist so”, sagt der Alte, „das, was du begehrst, begehren auch andere.” Um die Wut und den Zorn des jungen Mönchs aus ihm heraus zu treiben, zwingt ihn der Alte, eine Unmenge von Schriftzeichen, die er auf dem Floß gemalt hat, auszuschneiden – bis zum Morgengrauen. Und die beiden Polizisten, die inzwischen angekommen sind, nehmen den jungen Mönch schließlich mit.
Der alte Mönch aber, der weiß, dass sein Leben zu Ende geht, verbrennt sich auf dem Boot, das ihn und den Jungen stets ans Ufer gebracht hatte.
Der junge Mönch ist inzwischen – es ist WINTER – so alt (gespielt vom Regisseur selbst), wie der alte Mönch war, als er selbst noch ein kleiner Junge war. Und der Kreislauf des Lebens beginnt erneut. Eine vermummte Frau bringt ihr Kleinkind zu ihm, damit es von dem „neuen” alten Mönche lerne. Und wieder beginnt der FRÜHLING ...
Es ist nicht nur einfach irgendein Kreislauf des Lebens, den Ki-duk Kim in seiner „traumhaften”, in wunderschönen Bildern festgehaltenen Geschichte dargestellt hat. Die Jahreszeiten stehen für das Alter, erzählt wird nicht im Rhythmus von fünf hintereinander folgenden Jahreszeiten. Sie stehen aber auch für bestimmte Erfahrungen, weniger in unserem Sinne von Erziehung, denn erziehen im europäischen Sinn ist nicht die Absicht des alten Mönchs. Der Frühling könnte auch überschrieben werden mit: „Achtung vor dem Leben” – vor dem eigenen wie vor dem fremden wie vor allem Leben – und den Konsequenzen der Missachtung des Lebendigen. Der Sommer steht für die Begierde, nicht so sehr für die Liebe. Der alte Mönch kann dem jungen nur die Wege zeigen, die er gehen kann: den der Begierde mit allen Konsequenzen wie den der Achtung. Zwingen, das weiß der Alte genau, kann er den Jungen nicht – und er kann ihn nicht aufhalten. Der Herbst zeigt die Folgen dessen, was der Alte meinte, als er den Weg der Begierde als den Weg zu Mordgedanken charakterisierte. In dem inzwischen 30jährigen Mönch ist nichts als Wut und Zorn. Erst im Winter kehrt er zurück und weiß jetzt, welcher Weg der richtige ist.
„Es geht darum, dass der Mensch sich selber einhaust.” (1)
Man mag diese Geschichte für ein Lehrstück halten. Doch das ist sie keineswegs. Wie der alte Mönch den jungen auf die Konsequenzen seines Tuns hinweist, gelassen, ruhig und in dem Gefühl, dass er gar nicht mehr tun kann, weist der Film in dieselbe Richtung. Und wenn von der Begierde die Rede ist, dann nicht von der Liebe, sondern vom Besitzergreifen, vom Sich-Bemächtigen eines anderen. Ki-duk Kim erteilt damit allerdings eben jeder uns so geläufigen Pädagogik eine Abfuhr. Der Film tut dies von Anfang bis Ende. Damit verbunden ist, dass Erziehung vor allem auf Erfahrung und Selbsterziehung beruht – so schwer einem die Konsequenzen dieses auch erscheinen mögen. Diese tiefe Einsicht, hier des alten Mönches, besteht vor allem darin, dass alle hehren Grundsätze, pädagogischen „Richtlinien”, moralischen Gebote usw. das Papier nicht wert sind, auf dem sie geschrieben stehen, wenn das Gegenüber, hier der junge Mönch, sie nicht aus freiem willen, tiefer Überzeugung, wachsamem Empfunden usw. selbst in sich aufnimmt.
Dass dies durch „Verkündung” dieser „Prinzipien”, Zwang, oder gar andere gewalttätige Formen der Erziehung (man denke an die Geschichte in „Der Club der toten Dichter”) nicht vonstatten gehen kann, müsste eigentlich jedermann einleuchten. Wir wissen nämlich andererseits nur zu gut, in welcher Weise gerade alle möglichen Formen des Zwangs bzw. der sog. „Indoktrination” eben gerade bewirken können, dass Menschen an etwas glauben und auch danach handeln, was wir alle hoffentlich als zutiefst inhuman empfinden.
Der alte Mönch bleibt ruhig, als er sieht, wie sein kleiner Schüler Tiere quält. Er weiß, dass er nur eine Chance hat, dem Jungen deutlich zu machen, was er getan hat. Diese Art von „Lernprozess” gebiert keine absolute Chance auf Erfolg. Aber sie impliziert die Demut und die Achtung vor jeglichem Leben, auch und vor allem des Jungen selbst, der seine eigenen Erfahrungen machen muss, um zu erkennen.
Der alte Mönch weiß, dass die Achtung vor dem Leben auch impliziert, dass Liebe etwas ist, was nicht an Ansprüche und Forderungen gebunden sein kann. Er lässt ihn ziehen – wissend, dass am Ende etwas Schreckliches passieren könnte, weil der junge Mönch Liebe mit Begierde und Egoismus „verwechselt”.
Ki-duk Kims Film ist keine Predigt irgendeiner Religion. Er lässt uns hinein fühlen in zwei Menschen, und, wenn man sich dem Film hingibt, auch in uns selbst. Und zwar auf eine Weise, in der der Gegensatz zwischen der Moderne und unseren ursprünglichen Empfindungen, unseren anthropologischen Ur-Konstanten – wenn wir sie denn wahrnehmen – immer gegenwärtig ist.
© Bilder: Pandora Film. Screenshots von einer TV-Aufnahme.
(1) Hans-Georg Gadamer: Erziehung ist sich erziehen. Vortrag, gehalten am 19.5.1999, Heidelberg 2000, hier: S. 11 und 21.
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