Geraubte Küsse
(Baisers volés)
Frankreich 1968, 90 Minuten (DVD: 87 Minuten)
Regie: François Truffaut

Drehbuch: François Truffaut, Claude de Givray, Bernard Revon
Musik: Antoine Duhamel
Director of Photography: Denys Clerval
Montage: Agnés Guillemot
Produktionsdesign: Claude Pignot

Darsteller: Jean-Pierre Léaud (Antoine Doinel), Delphine Seyrig (Fabienne Tabard), Claude Jade (Christine Darbon), Michael Lonsdale (Georges Tabard), Harry-Max (Monsieur Henri), André Falcon (Monsieur Blady), Daniel Ceccaldi (Monsieur Darbon), Claire Duhamel (Madame Darbon), Catherine Lutz (Catherine), Martine Ferrière (Gérante), Jacques Rispal (Monsieur Colin), Serge Rousseau (Der Unbekannte), Paul Pavel (Julien)

Auf dem Weg ...

Man erinnere sich, wie Antoine Doinel (Jean-Pierre Léaud) als Jugendlicher, ungeliebt von Mutter und Stiefvater, abgeschoben in eine Erziehungsanstalt, von dort geflüchtet war („Sie küssten und sie schlugen ihn”, 1959). Truffaut ließ Antoine in der letzten Einstellung des Films in die Kamera blicken und hielt dieses Bild von Antoine fest – ein Bild, das danach zu fragen schien, welche Art von Freiheit, von Zukunft ihn wohl erwarten würde, einen Jungen, der schon in seiner Kindheit mehr über dem Boden schwebte, als in irgendeiner Weise Halt hatte. Neun Jahre später griff Truffaut die Figur des Antoine Doinel wieder auf, wiederum mit Jean-Pierre Léaud in der Hauptrolle.

Inzwischen ist Antoine beim Militär. Aber wie man sich denken kann, ist die Armee eine noch viel schlimmere Erfahrung für Antoine als die Erziehungsanstalt. Immer wieder sitzt er im „Bau”, und schließlich wird seiner Bitte, ihn aus der von ihm selbst eingegangenen dreijährigen Verpflichtung zum Militär zu lösen, entsprochen. Einen, der die Vaterlandspflicht so wenig ernst nimmt, will man nicht länger dulden.

Antoine schwebt durch Paris, läuft durch die Straßen, verbringt eine Stunde im Bordell, inspiziert sein altes Zimmer, besucht die Eltern seiner Freundin, die Darbons (Daniel Ceccaldi, Claire Duhamel). Doch Christine Darbon (Claude Jade) ist auf Reisen, sagen die Eltern. Monsieur Darbon besorgt Antoine einen Job als Nachtportier im Hotel Alsina.

Und sehr schnell stellen wir fest, dass Antoine sich vollends zum Außenseiter entwickelt hat, zu einem jungen Mann, der alles andere als ein Revolutionär oder Rebell ist, keineswegs das, sondern zu einem flüchtigen Menschen, einem, der ständig auf der Flucht zu sein scheint, nicht vor irgend jemandem, nicht vor einem konkreten Etwas, nicht einmal so sehr vor dem Erwachsenwerden, ja nicht einmal vor sich selbst. Die Figur des Antoine, die hier in einer Art Komödie gezeigt wird, ist schwer zu fassen, weil Antoine schwer einzuordnen ist und auch gar nicht eingeordnet werden will. Antoine ist der personifizierte Schwebezustand, einer, der sich nicht unterkriegen lässt, auch nicht, als er nach kurzer Zeit seinen Job als Nachtportier wieder verliert, weil er – zum Ärger des Hotelbesitzers – einem Detektiv und dessen Kunden ein Zimmer geöffnet hat, in dem die Frau des Kunden mit einem Liebhaber im Bett liegt. Für Antoine geht das Leben weiter; er lässt es auf sich zukommen, wird Detektiv, weil der Detektiv, Monsieur Henri (Harry-Max), teils wohl aus Mitleid, teils weil er ein schlechtes Gewissen hat, ihn mit in die Detektei nimmt und der Besitzer, Monsieur Blady (André Falcon), ihn einstellt.

Antoine nimmt den Job an, obwohl er keine Ahnung davon hat und sich auch bei seinem ersten Auftrag, der Observation einer Frau, ungeschickt anstellt und entdeckt wird. Antoine trifft sich mit Christine, aber auch hier, in beider Beziehung, herrscht diese permanente Flüchtigkeit, diese fast schon an Gleichgültigkeit grenzende Beliebigkeit, dieser spielerisch-kindliche Individualismus, der sich nicht festlegen will, in keiner Weise und in keinem Punkt des Lebens. Antoine hat keine Pläne und scheint keine Vergangenheit zu haben; er schöpft jedenfalls scheinbar nicht aus irgendeinem Fundus an Erfahrungen aus seinem bisherigen Leben. Er schwimmt durch den Strom der Großstadt, erfüllt seine Aufträge, einen Zauberkünstler zu finden zum Beispiel.

„Baisers volés”, 1968 gedreht, ist ein Film seiner Zeit. Aber es wäre verkehrt, Truffaut habe sich hier einem zeitgenössischen Trend anschließen wollen, einer Mode oder gar einer zur Ideologie geronnenen Zeitströmung, etwa im Kontext der damaligen Studentenbewegung oder dem Trend in großen Teilen der damaligen Mittelschichten „Links-Sein-Ist-Schick-Sein”. Antoine Doinel ist ein absolut unpolitischer Mensch, der sich keinem Trend verschreibt, dessen Mentalität aber dennoch einer beginnenden „Tendenz” zuzuordnen ist – eben jener Anfangsphase eines manchmal ungestümen, aber noch nicht richtig fassbaren Individualismus.

Als bei Monsieur Blady der Schuhgeschäftbesitzer Tabard (Michael Lonsdale) auftaucht, erhält Antoine einen neuen Auftrag. Tabard kommt nicht mit einem gewöhnlichen Auftrag. Er will wissen, warum ihn keiner mag, warum ihn alle verachten, seine Frau, die Concierge in seinem Haus und die Verkäuferinnen in seinem Geschäft. Antoine wird als Verkäufer eingestellt, um dieser Frage auf den Grund zu gehen – und so lernt er die elegante, schöne Frau Tabards, Fabienne (Delphine Seyrig), kennen, in die er sich verliebt. Das Flüchtige erhält einen neuen Schub in Antoines Leben. Truffaut verknüpft die leichten, romantischen Momente in diesen Szenen mit exzellentem Humor, etwa wenn Antoine bei Fabienne Kaffee trinkt, furchtbar nervös auf eine Frage Fabiennes antwortet: „Ja, Monsieur” und ob dieser Peinlichkeit und Unsicherheit gegenüber der eleganten Fabienne die Flucht ergreift, bei Fabienne allerdings dadurch Sympathie erheischt und als ihr Spielzeug eine Liebesstunde mit ihr verbringen darf, was ihm wiederum – weil Fabienne von der Detektei beobachtet wird – den Job kostet.

Alles scheint aus den Fugen geraten. Antoine tröstet sich bei einer Prostituierten, während Christine, die er – angesichts seiner Bewunderung für Fabienne – kurz zuvor verstoßen hatte, ihn sucht, der inzwischen als Fernsehtechniker einen neuen Job gefunden hat.

Truffaut, kann man sagen, arbeitet an diesem Flüchtigen, schwer Fassbaren, diesem Lebensgefühl, das sich nicht verorten kann, in einer Mischung aus Sympathie, kritischer Distanz, die sich vor allem durch Komik manifestiert, und der analytischen Absicht, die gesellschaftlichen Veränderungen jener Jahre – auch im Rückbezug auf sich selbst – aufzuspüren. Das Individuum gerät „plötzlich” ins Zentrum des sozialen Geschehens, und es ist ein Merkmal der nouvelle vague und insbesondere der Filme Truffauts, dieses neue Lebensgefühl greifbar zu machen, obwohl seine Figur, sein alter ego, Antoine Doinel doch noch so unfassbar erscheint.

Es ist oft geschrieben worden, die Figur des Antoine zeichne sich dadurch aus, nicht erwachsen werden zu können respektive zu wollen. Man macht das an all dem fest, was auch ich hier über Antoine geschrieben habe. Doch ich sehe in Antoine Doinel eher eine Art, teilweise noch vage Symbolfigur jenes beginnenden Individualismus, der heute in mancherlei Hinsicht – in sein Gegenteil verkehrt – zu einer Art egozentrischen Ideologie verkommen zu sein scheint, nicht allerorten, aber doch weit verbreitet. „Baisers volés” artikuliert jenes Gefühl einer Befreiung aus allenthalben verkrusteten sozialen Strukturen, einer festgefahrenen Familienideologie und -praxis ebenso wie voraussehbaren Biografien, ohne schon „sagen” oder „zeigen” zu können, wohin der Weg geht. Gerade dies, dieses Unbestimmte und Flüchtige, zeichnet die Qualität des Films aus. (1)

Besonders prägnant in dieser Hinsicht ist die Schlussszene des Films. Christine und Antoine sitzen auf einer Parkbank, und sie zeigt ihm einen Mann, der sie seit Wochen verfolgt und beobachtet. Dieser Mann kommt auf die beiden zu und beginnt zu erzählen, er habe Christine beobachtet und er liebe sie, sie sei die einzige, die er liebe, eine wahre Liebe, und sie brauche nicht gleich Ja zu sagen usw. Er geht wieder, und Christine und Antoine gehen weiter mit der Bemerkung, der Mann müsse wohl nicht ganz normal sein. Antoine will Christine heiraten. In dieser Szene steckt die ganze „Verrücktheit” der Figur des Antoine Doinel. Denn im Grunde kennt er Christine genauso wenig wie der Fremde.

Gerade diese Schlussszene verdeutlicht dann eben auch die kritische Sicht Truffauts auf einen noch „unausgegorenen” Individualismus, dessen mögliche positive wie riskante Entwicklungsmöglichkeiten im Hinblick auf eine sich potentiell breit machende Beliebigkeit in der Entwicklung menschlicher Beziehungen. Man kann dies natürlich auch als Defizit in der Entwicklung zum Erwachsenwerden verstehen, würde aber damit meiner Ansicht nach zu kurz greifen, da es hier eben auch um eine gesellschaftliche Tendenz geht. Und es geht – in einem ganz fundamentalen Sinne – eben auch um eine Reorganisation des „Konzepts Freiheit” und seiner Bedingungen unter veränderten gesellschaftlichen Voraussetzungen.

© Bilder: mk2 und Concorde Home Entertainment
Screenshots von der DVD

(1) Dass hinter der oftmals ausschließlich als Ausdruck des „freien Willens” proklamierten Tendenz zum Individualismus sozusagen „knallharte” ökonomische Veränderungen standen und stehen, wollen viele Ideologen des gegenwärtigen egozentrischen Individualismus nicht wahr haben. Dabei deuten Theorie und Praxis der sog. Globalisierung schon selbst auf eine im Sinne der Vertreter des Wirtschaftssystems erforderliche Auflösung veralteter Strukturen, insbesondere der klassischen Kernfamilie und der religiösen Einbindung. Die freie Verfügbarkeit der Arbeitskraft – ein von Anfang an zentrales Merkmal kapitalistischen Wirtschaftens – hat in den vergangenen Jahrzehnten neue Dimensionen erreicht. Der „Einzelne” im Sinne eines frei Verfügbaren, eines in jeder Hinsicht Flexiblen, ist der „neue Mensch” dieser Stufe des Kapitalismus. Familiäre oder sonstige Schranken der personellen Bindung wirken hier störend. Dass dieser Prozess allerdings widersprüchlich ist, dürfte keinem Zweifel unterliegen.