Good Bye, Lenin!
Deutschland 2003, 121 Minuten
Regie: Wolfgang Becker

Drehbuch: Bernd Lichtenberg, Wolfgang Becker
Musik: Yann Tiersen
Director of Photography: Martin Kukula
Montage: Peter R. Adam
Produktionsdesign: Lothar Holler

Darsteller: Daniel Brühl (Alex Kerner), Katrin Saß (Christiane Kerner), Chulpan Khamatova (Lara), Maria Simon (Ariane Kerner), Florian Lukas (Denis), Alexander Beyer (Rainer), Burghart Klaussner (Vater), Franziska Troegner (Frau Schäfer), Michael Gwisdek (Direktor Klapprath)

Truth, Lies and Videotape

Ein immenser Aufwand wurde betrieben, um für den Film von Wolfgang Becker („Das Leben ist eine Baustelle“, 1997) zu werben. Die offizielle Homepage des X-Film-Verleihs wurde bunt und interessant gestaltet, eingeschlossen ein Gewinnspiel. Die Bundeszentrale für politische Bildung brachte eigens ein Film-Heft mit 24 Seiten als Unterrichtsmaterial heraus (1). Hat sich der Aufwand für den auf der Berlinale gezeigten und jetzt bereits in den Kinos angelaufenen Film gelohnt? Man könnte Beckers Streifen leicht abtun – als permanente Reproduktion von Zerrbildern über die Realität der DDR, der Bundesrepublik, der sog. „Wiedervereinigung“ usw. Und zwar deshalb, weil Becker die bekannten, manchmal allzu bekannten Utensilien und Klischees benutzt, um seine Geschichte zu erzählen: Mocca Fix, Spreewaldgurken und Tempo-Linsen aus dem Osten, Coca Cola, Burger King und IKEA aus dem Westen. Also kurzum: Ein Film der Zeichen, der Attrappen, der Symbole, aber keiner, der ein erhellendes Stück Wirklichkeit wiedergibt?

Ich hatte einen ganz anderen Eindruck von diesem Film.

Alex Kerner (Daniel Brühl) erzählt (aus dem Off) die Geschichte seiner Familie, der Familie Kerner, einer Familie aus der DDR. 1978 kehrt Vater Kerner (Burghart Klaussner) von einer Dienstreise nach West-Berlin nicht mehr zurück. Die Kinder Alex und Ariane schauen gerade den Start der sowjetischen Sojus mit dem ersten deutschen Kosmonauten an Bord, Sigmund Jähn, der von Alex bewundert wird. Für Mutter Christiane (Katrin Saß) führt die „Republikflucht“ ihres Mannes direkt in die Psychiatrie. Apathisch und schweigend verbringt sie dort Wochen, bevor sie zu ihren Kindern zurückkehrt. Sie ist eine andere geworden, geht voll in ihrem Engagement für den Aufbau des Sozialismus auf. Und Alex stellt teils bitter, teils liebevoll fest: „Sie heiratete das sozialistische Vaterland.“

Elf Jahre später steht die DDR vor dem Ruin. Während Honecker ein letztes Mal eine Militärparade der Macht veranstaltet, gärt es bereits unter den von den verschiedenen Bürgerrechtsbewegungen organisierten Menschen, die nun auf die Straße drängen und Reformen, wenn nicht mehr, verlangen. Auch Alex, jetzt 22, befindet sich unter den Demonstranten. Als er von Volkspolizei festgenommen wird, sieht ihn seine Mutter, die gerade von einem Festakt zum 40-jährigen Bestehen der DDR aus dem Palast der Republik kommt, bricht zusammen und erleidet einen Herzinfarkt. Da sie erst spät ins Krankenhaus gebracht wird, fällt sie ins Koma – und bekommt die nächsten bewegten Monate – den Fall der Mauer, den Abgang Honeckers, die Wiedervereinigung, aber auch die Veränderungen im privaten Leben ihrer Kinder – nicht mit.

Alex verliert den Job als Fernsehmonteur, da seine Firma abgewickelt wird. Bei einem Westberliner Unternehmen verkauft er nun Satellitenschüsseln und freundet sich mit seinem Kollegen Denis (Florian Lukas) an. Im Krankenhaus lernt er die aus Russland stammende Krankenschwester Lara (Chulpan Khamatova) kennen, die er schon auf der Demonstration gesehen hatte, und nach zig Nacht- und Frühschichten kommen sich die beiden näher. Seine Schwester Ariane verliebt sich in den Wessi Rainer (Alexander Beyer) und arbeitet als Kassiererin bei Burger King. Sie bekommt ein Kind von ihm.

Die Familienwohnung wird gründlich ausgeräumt und mit neuen Möbeln aus dem Westen bestückt. Da erwacht Christiane Kerner eines Tages aus dem Koma. Der Arzt erzählt ihren Kindern, dass man der Mutter jede Aufregung ersparen müsse; ihr Leben hänge an einem seidenen Faden. Was, wenn sie von den Veränderungen, der „Wiedervereinigung“ usw. erfahren würde? Alex fasst einen Entschluss. Die Wohnung muss im alten DDR-Stil wiederhergestellt werden. Mutter darf nichts von den Ereignissen erfahren. Es geht um ihr Leben. Alex organisiert Spreewaldgurken, zumindest die Gläser, einen Chor von Schülern, den alten Vorgesetzten von Christiane, Direktor Klapprath (Michael Gwisdek), der seiner Kollegin noch etwas schuldig ist – und so gaukeln alle Christiane unveränderten DDR-Alltag an ihrem Geburtstag vor. Diese Fiktion aufrechtzuerhalten, wird für Alex und Ariane, die davon überhaupt nicht begeistert ist, aber mitspielt, immer schwieriger. Als Christiane die „Aktuelle Kamera“ sehen will, wird eigens von Alex und Denis ein Videoband aufgenommen.

Doch nicht nur Alex spannt Freunde, Nachbarn, Kinder für eine Illusion ein. Auch Christiane hat etwas zu verbergen, ein Geheimnis aus DDR-Zeiten, das ihren Kindern schwer zu schaffen machen wird ...

Becker und Drehbuchautor Bernd Lichtenberg lassen die Geschichte der Familie Kerner von Alex aus dem Off erzählen, eine Geschichte, in der es zwar vordergründig – und auch der Titel des Films deutet ja darauf hin – um die Geschichte von DDR, alter Bundesrepublik Deutschland und um die Zeit der Wende geht. Diese Geschichte jedoch wird erzählt aus der Perspektive einer Familie. Becker benutzt die Trugbilder, Scheinwelten und ideologischen Versatzstücke bezüglich dieser Ereignisse und ihrer gesellschaftlichen Abläufe nicht einfach; er spielt mit ihnen. Er dekliniert diese Trugbilder herunter auf die Ebene einer einzigen Familie und ihres Lebensumfelds.

„Good Bye, Lenin!“ ist nicht primär ein Film über die großen Umwälzungen samt der in und von ihnen erzeugten Scheinwelten auf allen Seiten, sondern erzählt über die Bedeutung der Lüge, des Trügerischen, des Scheins, nicht nur im Leben der Familie Kerner, über die Dauerhaftigkeit der Wirkung solcher Fiktionen, sowie über die Liebe und den inneren Zusammenhang von Liebe und Lüge. Betrachtet man den Film genauer, löst Becker auf eine überraschende Weise diese Scheinwelten auf, ohne in dokumentarischen Realismus zu verfallen. Sicher, er zeigt dokumentarische Ausschnitte (Honecker am 40. Jahrestag der DDR, Kohl und Momper beim Absingen des Deutschlandliedes etc.). Aber diese schnellen Schnitte wirken in der Zusammenschau des gesamten Films eben als das, was sie auch sind: als Pseudo-Realitäten, hinter denen sich ganz anderes verbirgt.

Für Alex ist der behutsame Schutz der Mutter Christiane primäres Handlungsmotiv – allen Veränderungen um das Jahr 1989 zum Trotz. Diese Veränderungen zwingen ihn „lediglich“ dazu, aus Liebe eine eigene Scheinwelt zu konstruieren, um das Leben der Mutter zu schützen. Alex ist ein Eigensinniger, einer, der in sich vertieft ist, doch zugleich etwas aus dem DDR-Alltag – wie immer es auch entstanden sein mag – hinüber gerettet hat: sein Empfinden für andere. Er schützt Christiane durch Aufbau einer fiktiven Welt, ohne seine Schwester oder andere dadurch zu gefährden. Hier, in dieser Liebe zu seiner Mutter, liegt der fundamentale Unterschied begründet zur Bedeutung von Lüge, trügerischen Bildern und ideologischen Scheinwelten in der großen Welt der großen Politik, in der Macht und Geld Ausgangspunkt der Produktion und Reproduktion von Lüge und Fiktion sind.

Aus dieser Spannung zwischen den differenten Motivlagen zwischen Liebe und Solidarität hier, Macht und Geld dort als Ursache von Pseudowelten gewinnt der Film seine ihm eigene Komik und Tragik zugleich. Als die Fiktion einer nach wie vor unverändert existenten Deutschen Demokratischen Republik angesichts der Umstände außerhalb des DDR-genormten Zimmers der Mutter nicht mehr funktionieren kann, dreht Alex die Geschichte einfach um: Nicht die DDR-Bürger, sondern die Bürger des kapitalistischen Westens drängen angesichts Arbeitslosigkeit, zunehmendem Rechtsextremismus usw. in die DDR, deren Grenzen Erich Honecker im Großmut der sozialistischen Überzeugung geöffnet habe. Alex und Denis verwenden dieselben Bilder und unterlegen sie mit einer anderen Fiktion. Dieser „dritte Weg“, diese dritte Fiktion neben der über die DDR und über die alte Bundesrepublik enthüllt die unmittelbare Nähe von Komik und Tragik in einer Weise, die das zugleich Dramatische dessen, über was wir herzhaft lachen, deutlich spüren lässt. Denn diese von Alex erzeugte Scheinwelt (man mag zu Recht sagen: für uns völlig abstrus) kann nur funktionieren, weil Christiane (wie sollte es nach dem Koma anders sein) trotz kritischen Blicks auf die Politik der Partei nach wie vor an die Ideale der sozialistischen Gesellschaft glaubt. Nur diese ihr eigene Scheinwelt und der Glauben daran lassen für sie Alex Fiktionen überzeugend wirken.

Erst kurz vor ihrem Tod ahnt Christiane etwas von den Dimensionen der Liebe ihres Sohnes. Becker deutet dies an durch ein Gespräch zwischen Christiane und Lara, von dem wir jedoch kein Wort mitbekommen. Die Wirklichkeit hingegen kam Christiane kurz zuvor noch als Spuk, als Fiktion vor, als sie zum ersten Mal ihr Zimmer verließ, um auf die Straße zu gehen. Dort sieht sie – einer der wunderschönsten Szenen des Films –, wie man die Statue Lenins mit einem Kran abtransportiert. Es sieht so aus, als wenn Lenin ihr die Hand reicht. Für Christiane ist dies ein (Alp-)Traum, für uns Realität.

Als Christiane kurz vor ihrem Tod ihren beiden Kindern die Wahrheit über sich und ihren Mann und die Umstände seiner Flucht nach Westberlin erzählt, offenbaren sich weitere Trugbilder, diesmal für die Kinder.

Und so stellt sich „Good Bye, Lenin!“ als intensiv erzählte Verschränkung von Geschichte und Familiengeschichte dar. In beiden „Zonen“ herrschen Scheinwelten, die einen Großteil des Lebens der Familienmitglieder bestimmen. Geschichte zeigt sich als eigentümliche Mixtur aus Realität und Fiktion. Alle Naselang, sprich: in jeder neuen Generation, entstehen neue Aspekte der Sichtweise geschichtlicher Ereignisse und Dimensionen der Realität. Das ist in der Geschichtswissenschaft längst bekannt und weitgehend anerkannt. Der Film zeigt uns, wie dies auch in der Familiengeschichte auf frappante Weise funktioniert und wie die großen Linien der Geschichte mit den „kleinen“ der Familie miteinander verwoben sind. Geschichte ist immer eine Mischung aus realistischen und fiktionalen Momenten, ausgehend von den Werten, Überzeugungen und gespeist aus der Mentalität der jeweils lebenden und Meinungsführerschaft innehabenden Generation. Kein Mensch weiß oder kann nachempfinden, wie Vorfahren im 15. Jahrhundert wirklich gelebt, gedacht und empfunden haben. Aber das ist auch eine Art Wahrheit über die Familien, in denen wir alle aufwachsen. Zugleich sind solche Fiktionen aber eben nicht „reine“ Phantasiegebilde, sondern zugleich mit einer inneren Wirklichkeit stark verknüpft.

Die bewusste Konstruktion einer Fiktion, wie sie Alex aus Liebe zu seiner Mutter unternimmt, lässt dies offenbar werden und verdeutlicht zugleich, wie die konträren Fiktionen über die Realität in der DDR und in der alten Bundesrepublik uns alle – mögen wir es wahrhaben (wollen) oder nicht – determinieren. Auch die Nachbarn der Familie Kerner leben in solchen trügerischen Welten, wenn etwa ein alter Mann nicht so recht wahr haben will, dass seine zum Teil wahrscheinlich durchaus berechtigten nostalgischen Gefühle zurück Richtung DDR mit seiner eigenen bröckelnden Solidarität nicht mehr so recht in Übereinstimmung sind. „So weit ist es mit uns gekommen“, äußert er, als Alex nach einem Spreewaldgurkenglas in der Mülltonne sucht. Als Alex ihn fragt, ob er noch solche Gurken habe, entgegnet der Mann: „Tut mir leid, junger Mann, ich bin selber arbeitslos.“ Auch Ariane hat sich eine neue Traumwelt geschaffen, die Konsumwelt des Westens. Am liebsten möchte sie die alte Welt der DDR vollständig aus ihrem Gedächtnis streichen. Doch die Situation ihrer Mutter holt sie wieder zurück, die Vergangenheit.

Daniel Brühl („Das weiße Rauschen“, 2001; „Vaya con Dios“, 2002) gehört zu den deutschen Schauspielern, die „vorbildlich ins Bild passen“. Er hat das, was man eine zutiefst sympathische Art nennen könnte, stellt Vertrautheit her, überzeugt in jeder Hinsicht, vor allem eher durch Mimik als durch Worte. Katrin Saß passt sich hervorragend in das Bild der Geschichte ein. Die innere Konfliktlage der Christiane, sowohl in bezug auf die Familie, als auch bezüglich ihrer politischen, sozial engagierten Arbeit für die sozialistische Gesellschaft, die Brüchigkeit ihrer Biografie kann Katrin Saß in exzellentes Spiel umsetzen.

Nein, „Good By, Lenin!“ schaukelt nicht auf den Wellen der illusionären Welten, des Trügerischen, des Scheins. Im Gegenteil, der Streifen offenbart die Brüchigkeit dieser Welten, unserer Welten. Es gelingt ihm zugleich, die diametral entgegengesetzten Ursprünge von Lüge und Trug zu enthüllen: Liebe und Mitgefühl hier, Macht und Geld dort. Für mich einer der am meisten überzeugenden Arbeiten des deutschen Films der letzten Jahre.

(1) Zu erhalten bei der Bundeszentrale für politische Bildung