Hafen im Nebel Le quai des brumes (Port of Shadows)) Frankreich 1938, 91 Minuten Regie: Marcel Carné
Drehbuch: Jacques Prévert, nach dem Roman von Pierre Mac Orlan "Le quai des brumes " Musik: Maurice Jaubert Director of Photography: Eugen Schüfftan Montage: René Le Henaff Produktionsdesign: Alexandre Trauner
Darsteller: Jean Gabin (Jean), Michel Simon (Zabel), Michèle Morgan (Nelly), Pierre Brasseur (Lucien), Édouard Delmont (Panama), Raymond Aimos (Quart Vittel), Robert Le Vigan (Michel, der Maler), René Génin (Schiffsarzt), Marcel Pérès (Fahrer), Jenny Burnay (Freund Luciens), Roger Legris (Hoteldiener)
Schicksalhaftes !?
Wohin? Woher? Und wie? Nur weg, weg von allem, was bisher war, weg von sich selbst, weit weg, raus, auch raus aus dem eigenen Körper, wenn man so will. Doch er weiß, dass letzteres nicht geht. Er hofft, dass eine andere Umgebung es ihm zumindest ermöglicht, dass er irgendwie leben kann. Er glaubt an nichts, nicht einmal an sich selbst, nicht an die Liebe. Er sieht nur die Hektik, das schnelle Leben, den Egoismus. Jeder für sich, und alle gegen alle. Jean (Jean Gabin) ist desertiert. In der Uniform ist er auf der Flucht. Ein Lkw-Fahrer nimmt ihn mit nach Le Havre, von wo aus die Schiffe bald den engen Kanal verlassen und über den Atlantik andere Kontinente erreichen. Weit weg von allem.
Jean hat kein Geld, keine Freunde, niemandem. Jean ist ernst, ruhig, und nichts kann ihn aus der Ruhe bringen, außer vielleicht, wenn einer zu viel fragt oder zu viel quasselt. Als er durch die Hafenstadt schlendert, trifft er auf Quart Vittel (Raymond Aimos), einen kleinen Gauner, der abends irgendwo im Hafen Alkohol klaut, um ihn dann zu verkaufen, für das Geld entweder selbst zu saufen oder sich für eine Nacht ein Zimmer zu mieten. Routine. Ein netter Kerl, dieser Quart Vittel, der Jean zu Panama (Édouard Delmont) bringt, der seinen Namen einem weißen Hut verdankt, den er vor langer Zeit aus Panama mitgebracht hat. Ein noch netterer Kerl, dieser Panama, der Jean in seiner abseits gelegenen Spelunke zu essen gibt und verspricht, ihm zivile Kleidung zu besorgen, vielleicht auch falsche Papiere.
Marcel Carné, der u.a. "Hotel du Nord" (1938), "Der Tag bricht an" (1939) und vor allem "Kinder des Olymp" (1945), einen der besten französischen Filme, drehte, zeigt uns eine Welt, die in Routine, Egoismus erstarrt zu sein scheint und in der nur einige wenige immer wieder, immer wieder aufs neue versuchen, diese Routine zu durchbrechen, ihr den Geschmack des Fatalen, des Ausgeliefertseins zu nehmen – eine Welt des Scheiterns und der Hoffnungslosigkeit.
Und in gewisser Weise auch des unabwendbaren Schicksals, aber nicht aufgrund irgendeiner göttlichen Fügung oder in der Natur des Menschen liegender Schranken. Nein, dieses Schicksal knüpft an die ursprüngliche Herkunft dieses Begriffs an: "schicksel", altniederländisch für "Fakt", also etwa im Sinne von "machen, dass etwas geschieht". Es wird etwas gemacht, damit etwas geschieht. Das, was gemacht wird, wird ausschließlich von Menschen, nicht von Göttern gemacht. Der "neue Gott" ist nicht der Allmächtige, der weit weg von allem Weltlichen doch eben dieses Weltliche produziert, unerkannt, kein Gott, den man nicht einmal erkennen darf ("Du sollst Dir kein Bildnis machen ..."), keiner, an dem man glauben soll, dem man sich fügen soll. Nein! Dieser neue Gott ist eine Menschheit, die sich ihr Schicksal selbst produziert – eben in einer scheinbar endlosen Routine im kleinen wie im großen, in der der einzelne dem "großen Ganzen" unterworfen ist und dies entweder in fatalistischer Manier oder Demut duldet oder voluntaristisch zu durchbrechen versucht.
Jean glaubt an nichts. Er will sich nicht immer wieder unterwerfen, er will raus. Auf ein Schiff und weg. In der Spelunke Panamas trifft er auf den Maler Michel (Robert Le Vigan), einen, der die Hoffnung schon längst aufgegeben hat. Er hat keinen Erfolg mit seinen Bildern, weil er, wie er sagt, nicht einfach einen Gegenstand malen kann, sondern immer das, was sich dahinter verbirgt. Er kann nicht einfach einen Menschen malen, wie er schwimmt, sondern er zeichnet – automatisch fast – diesen Menschen, wie er ertrinkt. Jean bringt so etwas zur Raserei. Er will nicht wahrhaben, dass die Welt so ist, wie Michel sie sieht. Denn er spürt, dass dieser Maler der Verzweiflung, des Aufgebens so nahe ist, dass man es körperlich spüren kann.
Jean trifft bei Panama im Hinterzimmer noch jemanden: die 17jährige Nelly (Michèle Morgan, die 1938 ganze 18 Jahre alt war). Mit ihr streitet er über die Liebe, an die er nicht glaubt, sie schon, wenn auch auf eine besondere Art und Weise. Die beiden mögen sich, und am nächsten Morgen verlässt er mit Nelly die Spelunke und schlendert mit ihr im Hafen umher.
Carné zeigt nun, wie auch Jean das Schicksal umgarnt, wie er sich schickt, schicken muss, ohne dass es ihm lange Zeit bewusst ist. Nelly, diese bezaubernde, intelligente, sensible junge Frau, zu der er sich hingezogen fühlt, ohne es sie deutlich spüren zu lassen – ausgerechnet sie ist es, ohne es sein zu wollen, die Jeans weiteren Weg bestimmen wird. Wie ein unsichtbarer Katalysator, der eine chemische Reaktion auslöst, wendet sie den weiteren Weg des desertierten Soldaten.
Denn Nelly ist in eine Geschichte verstrickt, für die sie selbst genauso wenig Verantwortung trägt wie Jean für sein Schicksal. Ihre Eltern sind tot und sie lebt bei dem kleinen Geschäftsmann Zabel (Michel Simon), der wiederum mit dem ekelhaften und feigen Lebemann Lucien (Pierre Brasseur) zu tun hat, einem, der schnell zu Geld kommen will und auf der Suche nach einem gewissen Maurice ist, der seit einiger Zeit verschwunden ist. Und Lucien nimmt an, dass Zabel mit diesem Verschwinden etwas zu tun hat. Maurice war in Nelly verliebt. Und er lernte sie im "La Petit Cabarin" kennen, in das sie vor ihrem zudringlichen Patenonkel Zabel geflohen war.
Und auf diese Weise stößt Jean auf Lucien, der Nelly am Hafen bedrängt, um etwas über Maurice Verschwinden zu erfahren. Jean schlägt einen von Luciens Kumpanen zu Boden und ohrfeigt Lucien, der daraufhin feige abzieht. Und er merkt erst später, als Nelly nach Hause weg ist, dass sie ihm 850 Franc heimlich zugesteckt hat. Jean hat die Kleider von Michel, dessen Pass und Pinselkasten, alles von Panama, der ihm erzählt, Michel brauche das nicht mehr, ohne ihm aber zu sagen, dass der Maler sich umgebracht hat. Als Jean dann einen Schiffsarzt (René Génin) trifft, hofft er, über diesen am nächsten Tag auf einem Schiff nach Venezuela zu entkommen. Alles scheint sich so einzustellen, wie Jean es gehofft hatte. Aber alles kommt anders ...
Carnés Blick auf "die Welt" scheint eine düstere, negative, fatalistische – eine, die dem "freien Willen" eines Menschen, der sein Leben ändern will, der "raus" will, keine Chance lässt. Und tatsächlich endet diese Geschichte tragisch. Allerdings sind da Nischen, Zwischenräume, die sich entfalten, und dort, in diesen Räumen, die das Banale, Unpersönliche, Schicksalhafte und auch das Tragische durchbrechen, entwickelt sich etwas, das durch nichts, nicht einmal durch den Tod, beeinträchtigt werden kann. Es ist hier die Liebe zwischen Jean und Nelly, eine Liebe, die nur ein paar Tage währte und doch über den Tod hinaus wirkt. Carné zeigt diese Nischen und Zwischenräume, vielleicht nicht so sehr im Sinne eines Hoffnungsschimmers, aber als Möglichkeit, als Versuch, die Gesetze des Immer-Wieder-Kehrenden, des Banalen, des Tragischen und Schicksalhaften zu durchbrechen, zu konterkarieren.
Und da ist noch etwas anderes, etwas, was in Jean so tief sitzt wie die Liebe, von der er doch geglaubt hatte, sie sei unmöglich: seine Menschlichkeit. Er verachtet Lucien, diesen Feigling, und er verachtet Zabel, diesen hintertriebenen Schurken, der seine Schläue nur benutzt, um andere zum eigenen Vorteil zu benutzen. In dieser Charakterzeichnung seiner Figuren ist Carné genau, ja fast penibel in einem durchaus positiven Sinn. Jean weiß um die Niedertracht dieser Leute wie Zabel und Lucien, die diese Welt im kleinen zugrunde richten wie andere dies im Großen tun – der eine mit viel Worten und schlauem Geschwätz, der andere mit gewalttätigem Gehabe und feiger Arroganz. Zabel und Lucien sind die spießigen, personifizierten Kleinformate ganz anderer, die mit großem Wortschwall eine Welt rechtfertigen, die es längst nicht mehr verdient hat, sich auf ewig zu reproduzieren.
Jean widersetzt sich dieser Welt, auch wenn er es eigentlich nicht wollte; er wollte ja nur weg, raus. Als er aber in diese Welt mit all ihrer Spießigkeit, Ignoranz und Arroganz zurückgeworfen wird, muss er durch. Und er geht durch – so menschlich wie er nur kann. Dass es ausgerechnet Nelly und die Liebe zu ihr ist, die ihm dann zum Schicksal wird, ist die Tragik einer Geschichte, wie sie so oder ähnlich, unter gleichen oder anderen Umständen, tausendfach täglich vorkommt. Carné zeigt, wie "gemacht", "produziert" eine solche "schicksalhafte" Welt wirklich "ist", und wie nichts bleibt von göttlicher Fügung oder Bestimmtsein des Menschen durch seine "Natur".
ACHTUNG SPOILER !
Jean hätte es fast geschafft. Er kehrt am Schluss, als er sich schon auf dem Schiff befindet, zu Nelly zurück, die Zabel offen ins Gesicht sagt, er sei der Mörder von Maurice. Sie weiß es, Zabel erst recht. Jean rettet Nelly vor dem Übergriff durch Zabel. In einem Anfall von Wut und Verachtung erschlägt Jean diese Ausgeburt des Falschen, des Niederträchtigen, was man verstehen, wenn auch nicht rechtfertigen oder entschuldigen kann. Und als er aus dem Geschäft Zabels auf die Straße geht, wird Jean aus dem Auto heraus von der anderen Ausgeburt ds Niederträchtigen, Lucien, erschossen.
SPOILER ENDE !
Jean hatte keine Chance – wirklich nicht? Vielleicht sind es "nur" diese Millimeter, diese Bruchteile von Abweichungen, die über uns entscheiden – wie ein Schiff, wenn der Kompass nicht mehr hundertprozentig funktioniert und eine Abweichung von nur Bruchteilen das Schiff auf die Klippe auffahren lässt, anstatt es in einen sicheren Hafen zu bringen. Hätte sich Jean entschieden, Nelly sofort mit auf das Schiff zu nehmen, anstatt sie Stunden später aus Zabels Geschäft zu holen – wer weiß ...
Carnés "Le quai des brumes" machte mich neugierig auf mehr Filme von ihm. Und besonders den unter den schwierigen Bedingungen der deutschen Okkupation Frankreichs gedrehten Streifen "Kinder des Olymp" werde ich mir demnächst wohl wieder einmal anschauen.
Wertung: 10 von 10 Punkten. © Bilder: Criterion.
26. Juni 2009
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