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Haie der Großstadt (The Hustler) USA 1961, 134 Minuten Regie: Robert Rossen
Drehbuch: Sidney Carroll, Robert Rossen, nach dem Roman von Walter Tevis Musik: Kenyon Hopkins Director of Photography: Eugen Schüfftan Montage: Dede Allen Produktionsdesign: Harry Horner, Gene Callahan
Darsteller: Paul Newman („Fast“ Eddie Felson), Jackie Gleason (Minnesota Fats), Piper Laurie (Sarah Packard), George C. Scott (Bert Gordon), Myron McCormick (Charlie Burns), Murray Hamilton (James Findley), Michael Constantine (Big John), Stefan Gierasch (Prediger), Clifford A. Pellow (Turk Baker), Jake LaMotta (Barkeeper), Gordon B. Clarke (Kassierer)
Pyrrhussiege und wirkliche Siege
Am Billardtisch scheint es zuzugehen wie im Leben. Die Kugel wird angestoßen, treibt die anderen in nicht vorhersehbare Positionen. Einige rollen vielleicht ins Loch, andere kommen zum Stillstand, irgendwo. „Fast“ Eddie (Paul Newman) ist so ein Spieler, einer, der von sich selbst dermaßen überzeugt ist, der beste Pool-Spieler auf der Welt zu sein, dass kein Zweifel daran sein darf und kann. Für „Fast“ Eddie Felson gibt es im Leben nur eines: Pool-Billard. Alles andere ist Zwischenstation, Warten auf dem Bahnhof seines Lebens, zwischen zwei Spielen, die sich endlos hinzuziehen scheinen, manchmal über einen ganzen Tag.
Robert Rossen (1908-1966) („Lilith“, 1964, mit Warren Beatty, Jean Seberg und Peter Fonda; „Landung in Salerno“, 1945, mit Dana Andrews, Richard Conte und Lloyd Bridges) erzählt die Geschichte eines menschlichen Raubtieres, der in gewisser Weise doch nur ein Papiertiger ist, eines Mannes, der siegen will und sich selbst und anderen immer wieder verdeutlicht, dass er ein Sieger(typ) ist. Eddie kann spielen, weiß Gott. Er kann mit der Kugel tun und lassen, was er will, meistens. Aber da gibt es auch noch die andere Seite von Eddie Felson, die sich im Alkohol manifestiert, in der Hybris des Siegers dokumentiert.
Rossen zeigt Eddie zu Anfang, wie er einen Billard-Raum betritt, sich in den Mittelpunkt rückt, mit seinem Lächeln, das charmant und überheblich zugleich ist. Eddie wartet auf einen anderen großen Spieler, auf Minnesota Fats (Jackie Gleason). Minnesota ist ein ruhiger, selbstbeherrscher Mann, wohlbeleibt, elegant in Anzug und Weste gekleidet. Vor jedem Spiel und nach jedem Spiel reibt er sich die Hände mit Puder ein. Minnesota ist präsent, aber anders als Eddie hat er es nicht nötig „aufzutreten“. Minnesota kommt, um zu spielen, er spielt des Spieles wegen, des Reizes, die Kugel zu beherrschen, sich zu messen, egal, ob er gewinnt oder verliert. Minnesota kann verlieren und er kann siegen. Eddie nicht. Eddie muss gewinnen. Eine halbe Stunde Film dauert dieser Wettstreit zwischen Eddie und Minnesota, die 25 Stunden am Stück spielen. 18.000 Dollar gewinnt Eddie – und verliert sie wieder. Am Ende bleibt er mit 200 Dollar zurück. Beide trinken Whiskey. Doch Minnesota weiß nicht nur, um was es geht – nur um ein Spiel, das Freude macht –, Minnesota weiß auch, wie man Whiskey trinkt. Er trinkt ihn, schätzt ab, wie viel er vertragen kann. Eddie schüttet ihn in sich hinein.
Diese beeindruckende Anfangsszene wirkt wie eine Art Ouvertüre zu einem Drama, dessen Tragik sich dann gnadenlos fortsetzt. Noch andere sind im Raum. Charlie (Myron McCormick), Eddies Partner, der ihn stoppen will, der ihn fast schon bettelnd drängt aufzuhören. Schließlich habe Eddie genug Geld gewonnen. Eddie will weiter spielen. Er will nicht nur gewinnen. Er will Minnesota vernichtend schlagen, ihn am Boden zerstören. Zum Schluss ist es Eddie, der mit nichts da steht. Ein anderer schaut dem Treiben zu: Bert Gordon (George C. Scott), ein Mann, der nur eines kennt: Geld und Geldmachen. Gordon beobachtet Eddie, hautnah, sieht, wie er verliert. Und Gordon hält Eddie – ob er nun ein Spiel gewinnt oder verliert – für einen Loser, einen Mann ohne Charakter. Gordon ist ein skrupelloser Geschäftemacher, smart und eiskalt. Er will Eddie, gerade weil er ihn für einen Verlierer hält, für sich einspannen, macht ihm nach der Tortur des Spiels mit Minnesota Fats das Angebot, für ihn zu arbeiten, zu spielen. Als Eddie ablehnt, lässt Gordon ihm durch zwei seiner Handlanger die Daumen brechen – eine Katastrophe für einen Billardspieler.
Noch jemand tritt in das Leben von Eddie, eine Frau, die er in einem Café kennen lernt. Angeblich wartet sie auf den Bus. Aber Sarah Packard (Piper Laurie) befindet sich in einer anderen Art Wartezustand. Sie wartet darauf, dass irgend etwas in ihrem Leben geschieht. Sarah trinkt, und das nicht zu knapp. Zweimal die Woche, erzählt sie Eddie, gehe sie zu einer Ausbildung. Sarah wirkt ruhig, fast schläfrig bewegt sie sich durch ihr Leben, dem sie keine Bedeutung (mehr) abgewinnen kann. Sie ist depressiv, ertränkt ihre Verzweiflung und sich selbst in Whiskey. Irgend etwas an Sarah zieht Eddie an. Er bringt sie nach Hause, will mit ihr schlafen, und Sarah antwortet ihm: „Warum gerade ich? Du bist mir zu hungrig.“ Aber auch sie findet Gefallen an Eddie, vor allem aber glaubt sie, jemanden zu brauchen, der ihr ihre Verzweiflung lindert. Sarah schläft mit Eddie, sie fühlt sich zu ihm hingezogen und stößt ihn wieder von sich: „Ich stecke in Problemen und ich glaube du hast auch deine Schwierigkeiten. Vielleicht wäre es besser, wenn wir mit unseren Problemen allein bleiben.“
Sarah, die Eddie anfangs nur benutzt, oder es zumindest versucht, beginnt, sich in Eddie zu verlieben. Sie beschwert sich darüber, dass beide zwar miteinander schlafen, aber nicht miteinander reden. Sie spürt etwas in sich, dass ihr Leben kurzfristig verändert. Als Eddie mit gebrochenen Daumen zu ihr kommt, sorgt sie sich um ihn, obwohl sie kaum für sich selbst sorgen kann. Eddie spürt dies. Er fühlt, wie sich Sarah ihm zuwendet. Sie sagt ihm, dass sie ihn liebt, und er antwortet: „Was erwartest du von mir?“ Eddie darf sie nicht lieben, denn er liebt sich selbst nicht. Er verbietet sich, Sarah zu lieben. Seine egozentrische Schwäche, die er nach außen als Stärke und Sieg verkaufen will, hindert ihn daran, diese Frau zu lieben.
Eine Katastrophe bahnt sich an, langsam, aber sicher, zunächst kaum spürbar, als Eddie das Angebot Gordons akzeptiert, für ihn zu spielen – gegen einen beträchtlichen Anteil für Gordon am Gewinn, versteht sich. Gordon merkt mit seinem eiskalten Verstand sofort, welche Gefahr Sarah für seine finsteren Absichten darstellt, Eddie für sich einzuspannen, wie ein Pferd oder einen Windhund für ein Wettrennen. Sarah repräsentiert für einen Moment die Liebe, die Sorge, den Schutz – und das kann Gordon nicht gebrauchen. Eddie entfernt sich immer weiter von Sarah, geht auf im Kalkül des skrupellosen Geschäftemachers ...
Rossen gelang mit „The Hustler“, also „Der Strichjunge“, (der deutsche Titel „Haie der Großstadt“ ist eine mittlere Katastrophe) ein grandioses Drama – übrigens Platz 140 in den Top 250 der Internet Movie Database –, in dem es nur vordergründig um Pool-Billard geht. Eddie geht tatsächlich auf dem Strich. Er verkauft sich, schon bevor er sich in das Spinnennetz Gordons begibt. Er verkauft seine Schwächen, die er nicht anders überwinden kann, indem er sie nach außen kehrt und umkehrt: Sieg um des Sieges willen. Die seelische Niederlage seines Lebens, woher sie auch kommen mag, münzt er um in eine schier größenwahnsinnige Siegerpose. Seine Siege aber sind Pyrrhussiege. Minnesota Fats ist Eddies Gegenstück. Eddie lacht, belächelt den dicken Mann, wenn der sich während des Spiel-Marathons zwischendurch wäscht, kämmt, die Hände einreibt und seinen Anzug in Ordnung bringt. Es ist ein hämisches, erniedrigendes Lächeln, das Minnesota jedoch nicht aus der Ruhe bringen kann. Denn Minnesota hat das, was Eddie fehlt: inneres Gleichgewicht und Macht über sich selbst.
Sarah verliert den Kampf um sich selbst und den Kampf um Eddie. Gordon setzt sich durch. Und erst am Schluss wird Eddie bewusst, wie sehr er Sarah geliebt und wie sehr er sich dagegen gewehrt hat. Erst jetzt kann er Gordon als Mensch gegenübertreten und ihn in seine Schranken weisen. Rossen zeigt diesen Kampf zwischen zwei Welten, der Welt der Macht und des Geldes und der Welt der Liebe, in einer Weise, der man sich nicht entziehen kann. Die Bilder Eugen Schüfftans und der Schnitt Dede Allens tun ein übrigens, um den Film zu einem feinfühligen, großartigen Drama werden zu lassen.
Rossen lässt vier Menschen so unterschiedlicher Art – Eddie, Minnesota, Gordon und Sarah – aufeinander treffen und entwickelt in beispielhafter Weise deren charakterliche Züge. Alle Figuren sind einem nahe, Jackie Gleason, der als Minnesota den Raum betritt und ihn beherrscht, ohne jemand zu beherrschen, ist grandios (er wurde für seine Rolle für den Oscar nominiert, bekam ihn aber leider nicht). Paul Newman und George C. Scott (man erinnere sich an seine Rolle als General Turgidson in Kubricks „Dr. Strangelove“, 1964) sind in einer überwältigenden Feinheit aufeinander abgestimmt. Und dann sehen wir Piper Laurie, eine Schauspielerin, die die ganze Tragik der Sarah Packard, ihre depressive Stimmung, ihre Wortgewandtheit, ihre Liebe, ihre Zärtlichkeit, ihre Verzweiflung derart beeindruckend darstellen kann, dass man nur noch staunen kann – vor allem im Vergleich zu vielen gegenwärtigen Filmen, in denen auf Charakterdarstellung oft nur wenig Gewicht gelegt wird.
Newman musste übrigens kräftig Billard üben. Dabei half ihm der damalige Champion unter den amerikanischen Billardspielern, Willie Mosconi, der in einer Nebenrolle im Film zu sehen ist.
Sieg und Niederlage können zweierlei bedeuten. Einmal sind sie Ausdruck eines sportlichen Wettkampfs, in dem es um nichts geht als um das Spiel, in dem Sieger und Verlierer sich am Schluss die Hand reichen und beide Glück empfinden, weil weder Sieg noch Niederlage katastrophal sind. Hier geht es nicht um Vernichtung, um Erniedrigung, sondern um das Spiel des Spieles wegen, um gegenseitiges Vertrauen und wechselseitige Anerkennung. Andererseits können Sieg und Niederlage eben Ausdruck einer auf andere und nach außen projizierten inneren Schwäche sein. Wer seine fehlende Macht über sich selbst kompensieren will, indem er Macht über andere auszuüben versucht, erntet Pyrrhussiege, bei denen aber eben auch andere auf der Strecke bleiben. „The Hustler“ gewinnt in dieser Hinsicht zusätzlich Bedeutung, wenn man weiß, dass Rossen Anfang der 50er Jahre einer derjenigen war, die durch McCarthy und seinen Ausschuss gegen „unamerikanische Umtriebe“ als Kommunist verdächtigt und verfolgt wurde. „The Hustler“ ist insofern auch ein Spiegelbild (allerdings in einem weiten Sinne nicht nur) der amerikanischen Gesellschaft, in der äußere Siege, die mit triumphalem Gepolter gefeiert werden, die innere Schwäche einer Gesellschaft dokumentieren, in der Macht und Geld zu Kennzeichen eines zersetzten Sozialgefüges geworden sind.
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