|
Halbe Treppe (engl. Titel: Grill Point) Deutschland 2002, 111 Minuten Regie: Andreas Dresen
Drehbuch: Andreas Dresen Musik: 17 Hippies Director of Photography: Michael Hammon Montage: Jörg Hauschild Produktionsdesign: Susanne Hopf
Darsteller: Steffi Kühnert (Ellen), Gabriela Maria Schmeide (Katrin), Thorsten Merten (Christian), Axel Prahl (Uwe), Julia Ziesche (Julia), Jens Graßmehl (Jens), Mascha Rommel (Mascha), Gregor Ziesche (Gregor), Christine Schorn (Kundin in der Parfümerie), Miro de Vittoris (Bauunternehmer), Eberhard Urban (Eberhard), Ralf Schönknecht (Schöni), Doris Schlingmann (Doris), Knut Elstermann (Knut)
Wenigstens Hans-Peter kehrt heim ...
„Wenn man die Wirklichkeit sehen will, muss man das Fenster aufmachen. Ins Kino darf man nicht gehen.“ (Andreas Dresen) (1)
Gibt es den großen deutschen Film? Nein, aber es gibt den kleinen, und der ist manchmal von einer attraktiven, begeisternden, intensiven Größe, dass es einem die Sprache verschlagen kann. Dazu gehört für mich Andreas Dresens („Die Polizistin“, 2000 fürs Fernsehen, ebenfalls mit Gabriela Maria Schmeide und Axel Prahl; „Nachtgestalten“, 1999) Film „Halbe Treppe“. Während Doris Dörrie in „Nackt“ in ausuferndem Redeschwall und mit Hilfe destruktiver Abziehbilder „über Beziehungen“ eine an sich gute Idee über das (Innen-)Leben dreier Paare gründlich in den Sand gesetzt hat, vermag Dresen in seiner tragikomischen Geschichte über zwei Paare in Frankfurt / Oder einem Anspruch gerecht werden, der den hiesigen Film ansonsten nicht gerade auszeichnet. Mit digitaler Handkamera ausgestattet, Dialogen, die erst an den Schauplätzen entwickelt wurden, kurz eingestreuten Interviews mit den vier Figuren schafft er nicht das, was viele – insbesondere Anhänger des Dogma-Films – so gern als Authentizität herbei wünschen, aber es gelingt ihm etwas wesentlich Schöneres: Der Einblick in eine Welt von Problemen, Stillstand, Konflikten, wie wir sie – wenn auch vielleicht in anderen Formen – alle kennen.
Frankfurt / Oder. Plattenbauten. Hier leben die befreundeten Ehepaare Uwe (Axel Prahl), der in der Nähe seiner Wohnung auf halber Treppe einen Imbiss selbigen Namens unter dem Plastikzelt betreibt, und Ellen (Steffi Kühnert), Verkäuferin in einer Parfümerie, sowie Christian (Thorsten Merten), der eine tägliche Radiosendung im Funkturm moderiert, und Katrin (Gabriela Maria Schmeide), Platzanweiserin für Trucks an der deutsch-polnischen Grenze. Alle vier gehen auf die 40 zu, haben Kinder und die Erfahrung, das nichts außergewöhnliches in ihren Familien und Ehen mehr passiert. Es gleicht schon einem Abenteuer, wenn Wellensittich Hans-Peter, weil Ellen die Balkontür offen ließ, das Weite sucht. Oder wenn sich die vier bei einem Ferien-Dia-Abend treffen und sich über Altbekanntes und Altbewährtes bei ordentlichem Alkoholkonsum köstlich amüsieren.
Uwe hat nur seinen Imbiss mit Curry-Wurst, Buletten und Dosen im Kopf, den die Penner und Junkies, die Alkis und Bekannte frequentieren. Chris hält sich für einen Intellektuellen, beschränkt sich allerdings in seiner allmorgendlichen Aufwach-Sendung auf das Herunterlesen von Horoskopen. Ellen und Katrin fühlen sich überhaupt nicht wohl in ihren Ehen, die zu Langeweile, Routine bei Mangel an Zärtlichkeit, Aufmerksamkeit und Sex verkommen sind, den beide gerade noch ertragen – bis sich zwischen Chris und Ellen eines Tages etwas anbahnt.
Katrin überrascht die beiden in der wohnungseigenen Badewanne. Uwe lädt zum sonntagnachmittäglichen Kaffee und Kuchen, um die Sache zu klären. Aber da lässt sich vorerst gar nichts klären. Ellen und Chris treffen sich immer wieder, erfreuen sich ihrer sexuellen Neugierde aufeinander, sind schon dabei, eine gemeinsame Wohnung zu suchen. Katrin ist der Verzweiflung nahe, räumt Chris Bett aus dem gemeinsamen Schlafzimmer. Uwe glaubt, durch eine neue Küche Ellen wieder heimholen zu können. Vergebens ...
Das mag sehr trist und trivial klingen. Aber Dresen und seine vier Hauptdarsteller verleihen dieser alltäglichen Handlung eine realistische, manchmal groteske und offenbarende, zumeist derart humorvolle Atmosphäre, dass es über 111 Minuten eine wahre Freude bei aller Tragik des Geschehens ist. Als Hans-Peter davongeflogen ist und Ellen meint: „Er müsste doch gut zu erkennen sein, so gelb in so einer tristen Gegend“, oder sie sich darüber aufregt, dass Uwe schon wieder die Eisbeine für den Imbiss in der Badewanne zwischengelagert hat, wenn Uwe am Klodeckel horcht, weil er Musik hört, die lauter zu vernehmen ist, wenn er den Deckel hoch nimmt, dann zeugt dies von einer derart schlagenden realsatirischen Nähe zu Handlung und Handelnden, dass man einfach nicht umhin kann, kräftig zu lachen.
An Uwes Imbiss steht anfangs ein einsamer Dudelsackbläser und raubt ihm den Nerv. Uwe legt ihm nahe, doch die Treppe runter zu gehen, da könne er auch spielen und würde ihn nicht stören. Später gesellt sich ein Gitarrist dazu, ein paar Tage später steht eine ganze Truppe von Musikern auf halber Treppe vor dem Imbiss. Selbst aus dem Radio tönt die Musik der „17 Hippies“ (eine Mischung aus allen möglichen Stilrichtungen und allen möglichen Ländern, wunderbar passend ins Bild!). Wie Uwe diese Musik, die für Phantasie, Lebensfreude steht, begleitet, er akzeptieren muss, dass er die Truppe auf der Treppe nicht vertreiben, lediglich seine viel sagenden Kommentare dazu abgeben kann, so müssen er und die anderen auch akzeptieren, was mit ihnen passiert und was sie selbst passieren lassen. Am Schluss holt er die Musiker ins Zelt.
Alle vier scheitern an dem Versuch, mit ihrer Situation umzugehen. Eines Sonntags sitzen sie in Uwes und Ellens Wohnzimmer bei Kaffee und Kuchen. Die Kinder wurden ins Kinderzimmer verbannt. Thema: Ellen und Chris. „Also irgendwie kann da ja so nicht weitergehen“, meint Uwe. Chris weiß nicht, was er sagen soll, und erklärt, er müsse sich nicht zu irgend etwas erklären. Man habe das schließlich nicht von langer Hand vorbereitet, es sei einfach passiert. Doch Uwe hat einen Lösungsvorschlag: „Also ich finde, ihr solltet euch einfach nicht mehr sehen.“ Uwe glaubt, das Problem so lösen zu können, wie er gelernt hat, Probleme zu lösen: Anpacken, versetzen, fertig – wie ein paar Bierfässer oder Stühle für’n Imbiss. Die drei anderen verharren in Schweigen, starren hilflos auf den Kuchen. Das war’s dann.
Dresen geht es nicht um irgendeine Milieustudie über die „Leute im Osten“, um eine Bilanz deutsch-deutscher Beziehungen nach der „Wende“ oder ähnliches. Frankfurt / Oder könnte auch Frankfurt / Main heißen oder Weiß-Ich-Nicht-Was. Das, was sich zwischen den vier Darstellern abspielt, ist genauso wenig an irgend ein soziales Milieu gebunden. Die Worte wären andere, das Verhalten modifiziert, doch im Grunde trifft das Visualisierte potentiell jeden, den man sich vorstellen kann. Wortwitz und Situationskomik habe ich in letzter Zeit selten so gut kombiniert gesehen mit einer realistischen Schilderung, die zugleich jeden Anspruch auf so etwas wie Authentizität vermeiden will und vermeidet. Dresen durchbricht das „Dokumentarische“ in zwei Richtungen. Zum einen durch die kurzen Interviews mit den vier Figuren, zum anderen durch die Fiktion der Horoskope, die Chris jeden Morgen erstellt und die sich einerseits zunehmend in seine Wunschbilder verwandeln, andererseits der Realität annähern.
In den Interviews, in denen das Dokumentarische noch einmal sozusagen „spielerisch“ erhöht wird, offenbaren die vier so einiges. Für Uwe z.B. ist Liebe vor allem eine Frage der Zeit, die man miteinander verbringt (Liebe gleich Gesamtzeit minus Imbisszeit). Für Chris ist es plötzlich selbstverständlich geworden, dass Ehen nicht ein Leben lang halten. Das würde ja darauf hinauslaufen, dass der Tod das Ziel des Lebens sei: Ehe lebenslang vollzogen, Zweck erfüllt.
Man kann über die vier lachen; sie spielen großartig, besonders Axel Prahl ist eine Wucht, um es einmal so auszudrücken. Man kann und muss sich sogar über manches und manchen von ihnen lustig machen. Trotzdem gelingt es Dresen, Sympathie und Nähe zu seinen Figuren herzustellen. Sie wirken und sind komisch und tragisch, aber nicht lächerlich. Er erniedrigt sie nicht, steht ihnen nahe, und so ging es mir auch. Dresen zeigt die Gesichter, nicht nur der vier Eheleute, auch der Gäste in Uwes Imbiss „Halber Treppe“. Sie alle stehen irgendwo auf halber Treppe, im Vorbeigehen trifft man sie, halb geht es ihnen gut, halb eben nicht. Es sind Alltagsgesichter, keinem Schönheitsideal verhaftet, keiner visuellen oder visualisierten Illusion preisgegeben. Dresen legt Verhältnisse offen, macht seine Figuren auf und man fühlt sich irgendwie bei ihnen.
Faszinierend ist die Art und Weise, wie Dresen in die Tristesse, das Ab- und Eingeschliffene durch die Romanze zwischen Ellen und Chris das Erotische, das Lebendige wie einen deus ex machina hineinfahren lässt. Das wirkt nicht gekünstelt, gewollt. Ellen ist plötzlich nicht mehr die Allerweltsfrau von nebenan. Die Kamera zeigt ihr Gesicht, ihr Dekolleté, den Reiz in ihrem Blick. Alles scheint plötzlich in Farbe, wenn auch nicht im siebten Himmel. Am Schluss bekommen sich zwei. Wer? Und Uwe kehrt irgendwie auch zu dem zurück, was er eigentlich ist.
„Halbe Treppe“ ist kein Dokumentarfilm, obwohl extrem dokumentarisch, keine Tragödie, obwohl tragisch in fast jeder Hinsicht, keine Komödie, und doch derart humorvoll, dass ein abgedroschener Satz auf diesen Film in seiner ganzen Fülle zutrifft: er ist irgendwie wie das Leben selbst. Für mich bereits jetzt einer der besten Film des Kinojahres.
(1) Andreas Dresen in einem Interview mit der „taz“
|