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Hejar – Großer Mann, kleine Liebe (Büyük Adam Küçük Ask) (Originalfassung mit dt. Untertiteln) Türkei 2001, 120 Minuten Regie: Handan Ipekçi
Drehbuch: Handan Ipekçi Musik: Serdar Yalcin Director of Photography: Erdal Kahraman Montage: Nikos Kanakis Produktionsdesign: Mustafa Ziya Ülkensiler, Natali Yeres
Darsteller: Sükran Güngör (Rifat Bey), Dilan Erçetin (Hejar), Füsün Demirel (Sakine), Yildiz Kenter (Müzeyyin Hanim), Ismail Hakki Sen (Evdo Emmi)
Behutsame Annäherungen
Die türkische Regisseurin Handan Ipekçi schildert einen für die kurdische Bevölkerung im Südosten der Türkei alltäglichen Fall. Die Eltern der fünfjährigen Hejar (Dilan Erçetin) wurden bei einem Einsatz des türkischen Militärs getötet. Ipekçi wagte etwas, was zuvor in der Türkei niemand wagte: Sie zeigt in einem Spielfilm Menschen, die kurdisch sprechen, eine Sprache die von der türkischen Staatsmacht nach wie vor als nicht-existent behandelt wird. Die Kurden werden erniedrigend als „Bergtürken“ apostrophiert. Auch nach der Festnahme des PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan hat sich der Konflikt in der Türkei nicht wirklich entschärft. Eine tiefe Kluft trennt die türkische und kurdische Seite nach wie vor. Nach einem rasanten Anfangserfolg des Films, der zunächst von der Zensurbehörde erlaubt worden war, sorgten konservative Kräfte innerhalb der Staatsmacht dafür, dass der Film 2002 für ein halbes Jahr verboten wurde – trotz etlicher Auszeichnungen und der Nominierung für den Oscar. Derzeit läuft der Film wieder in den türkischen Kinos – mit wachsendem Erfolg. Handan Ipekçi selbst allerdings hat mit einem Gerichtsverfahren zu kämpfen und sieht sich mit einer möglichen Haftstrafe von bis zu sechs Jahren konfrontiert.
„Büyük Adam Küçük Ask“ ist allerdings kein politischer Film im üblichen Sinn des Wortes. Ipekçi erzählt die Geschichte von Hejar und einem türkischen pensionierten Richter.
Der Dorfälteste Evdo Emmi (Ismail Hakki Sen) bringt das Mädchen nach Istanbul. Da er selbst in einem Elendsviertel am Rande der Stadt schon etliche Kinder zu versorgen hat, bringt er die Kleine bei Bekannten unter. Dort allerdings ist Hejar nicht sicher. Bei einer Polizeirazzia im Zuge der „Terroristenfahndung“ tötet die Polizei die Menschen, die Hejar aufgenommen haben. Einer von ihnen – verletzt am Boden liegend – wird regelrecht hingerichtet. Hejar kann sich verstecken, und nach dem Polizeieinsatz verlässt sie unter Schock die Wohnung.
Gegenüber wohnt der pensionierte Richter Rifat (Sükran Güngör). Dessen Haushälterin Sakine (Füsün Demirel) – selbst Kurdin – öffnet die Tür, sieht Hejar, und Rifat nimmt Hejar in seine Wohnung – aber nur für eine Nacht, wie er gegenüber Sakine betont. Hejar ist leicht verletzt, blutet, spricht kein Wort und versteht kein Wort türkisch. Rifat ist die ganz Sache sichtbar unangenehm. Er war gerade dabei, etwas über das Thema Polizeistaat und Demokratie zu schreiben. Rifat war nicht nur Richter. Rifat ist autoritär, an Ordnung und Disziplin gewöhnt, von dem, was ihm beigebracht wurde, zutiefst überzeugt. Auch er hält mehr oder weniger alle Kurden für Terroristen, für Verräter am türkischen Staat.
Hejar ist verängstigt, voller Verzweiflung, aber auch störrisch. Sie will zu ihrer Mutter. Sie weiß nicht, dass ihre Mutter tot ist, oder sie will es nicht wahr haben. Sie will zu Evdo; der würde sie bestimmt zu ihrer Mutter bringen.
Tage später ist Hejar noch immer bei Rifat. Der Richter hat eigentlich andere Sorgen. Er überlegt, sich in einem Altersheim unterbringen zu lassen. Rifat ist herzkrank, 75 Jahre alt. Zudem hat er noch ein anderes Problem. Seine Nachbarin Müzeyyin Hanim (Yildiz Kenter) hat sich in ihn verliebt, malt ein Bild von ihm und schenkt es dem Richter zum Geburtstag. Rifat mag seine Nachbarin, aber soll er in seinem Alter nochmal eine Beziehung, welcher Art auch immer, eingehen?
Und dann noch Hejar, die er nicht versteht, weil sie kein türkisch spricht, die sein Leben durcheinander bringt – und nicht nur das ...
Handan Ipekçi konzentriert sich in ihrem Film vollständig auf die beiden Hauptdarsteller, Rifat und Hejar. Dabei spielen die Bilder, die Gesten, die Mimik der beiden eine wesentlich größere Rolle als die Dialoge. Die Sprachprobleme sind nur Ausdruck für die Verständnislosigkeit eines pensionierten Richters hier, die Verzweiflung und Einsamkeit eines fünfjährigen Mädchens in einer völlig fremden Umgebung nach dem brutalen Polizeieinsatz dort. Rifat reagiert mit Verboten und Geboten, wie es sich für einen Richter gehört, mit Richtlinien, Regeln und ethischen Maßstäben, die für ihn außer Zweifel stehen. Hejar aber ist trotzig, eigenwillig, spürt instinktiv, dass sie Macht ausüben muss, soweit sie das kann, um aus einer für sie ausweglos scheinenden Situation doch noch herauszukommen.
In Rifat aber steckt noch etwas anderes. Er weiß, dass er Hejar nicht einfach auf die Straße setzen kann. Das könnte er nicht. Er versucht, Evdo zu erreichen, aber Evdo nimmt nie das Telefon ab. Rifat versucht, Hejar seinen täglichen Rhythmus aufzudrängen, aber Hejar bringt diesen Alltag durcheinander. Sie findet ein kleines Kätzchen, Rifat lässt es sie mitnehmen. Sie steht vor einem Kebab-Restaurant; Rifat geht mit ihr essen. Dann kauft er ihr neue Kleider, einen Hut, einen Mantel. Er macht Evdo ausfindig, sieht, wie der und seine Familie im Slum leben müssen, bringt es nicht über's Herz, Hejar diesem Leben auszusetzen.
Und eines Tages passiert es: Rifat fragt seine Haushälterin, was dies und jenes auf kurdisch heiße. „Negri“ (Weine nicht) ist das erste kurdische Wort, was dem Richter über die Lippen kommt. Hejar und Rifat nähern sich an. Es ist eine Meisterleistung, wie Handan Ipekçi und ihre beiden Hauptdarsteller in einer geradezu behutsamen, manchmal durch „autoritäre Rückfalle“ Rifats durchbrochenen Inszenierung diesen Prozess der vorsichtigen, kontrollierten Annäherung zwischen Hejar und Rifat geschehen lassen. Wie ein Kammerspiel entfaltet sich dieser Prozess, wie ein klassisches Drama, in dem nicht die Frage nach Täter und Opfer im Vordergrund steht, sondern die schicksalhafte Begegnung zweier Helden en détail beobachtet und visualisiert wird. Handan Ipekçi berichtet von den Schwierigkeiten bei der Auswahl für die Rolle der kleinen Hejar, wie hier – nachdem Dilan Erçetin gefunden war – ebenso eine Annäherung zwischen ihr und Dilan notwendig war, um sie für die Rolle vorzubereiten, um es überhaupt möglich zu machen, dass Dilan diese Rolle spielt, deren Tragik versteht usw. Ebenso entwickelt sich die Beziehung zwischen Rifat und Hejar.
„Büyük Adam Küçük Ask“ zeigt, was den politischen Konflikt in der Türkei angeht, aber auch noch etwas anderes. Die Lösung solcher Konflikte hängt zu allerletzt von politischen Programmen, staatlichen Maßnahmen oder gar ideologischen Vorgaben ab. Annäherung ist immer ein Prozess zwischen wirklichen Subjekten, zwischen wirkenden, nämlich auf den jeweils anderen wirkenden Subjekten, der schwierigste Weg in einem so lange dauernden Konflikt, den man sich vorstellen kann, ein Weg, der Kontakt, Körpernähe, Tuchfühlung, In-die-Augen-sehen, und Berühren erfordert, direkte Kommunikation und stete Überprüfung der eigenen festgefahrenen „Prinzipien“, Vorstellungen und Empfindungen.
Im Film mag das ja funktionieren, mag man einwenden. Man mache sich nichts vor: Solange es Fronten gibt, das heißt ein Niemandsland zwischen A und B, eine Zone ohne Luft zum Atmen, ohne Berührung, wird sich nichts ändern. Solange wird geschossen. Die Kugel, der Weg der Kugel, ist eben auch Ausdruck für die Distanz zwischen dem Schießenden und dem, den sie treffen soll. Das war – glaube ich – schon immer so. Das Detailgetreue des Films, die Bilder, die da ihre unglaubliche Wirkung entfalten, und das offene Ende, ohne Happyend, aber mit einer neuen Freundschaft zwischen einem kurdischen Mädchen und einem türkischen Richter – all das, diese Präzision, dieses Feingezeichnete zwischen zwei so scheinbar unterschiedlichen Menschen, all das konstituiert etwas, was gegen Brutalität und Macht gerichtet ist. Das Konstruktionsprinzip der Beziehung zwischen den beiden lautet Liebe. Und Hejar kitzelt sie, bewusst oder nicht, aber durch die Situation bedingt, aus Rifat heraus, und Rifat tut desgleichen mit Hejar. Das ist eine Reinigung, eine Erlösung, die wahrhaftig ist, nicht gelogen oder vorgetäuscht.
Ein Film, der nicht nur für die Menschen in der Türkei eine enorme Bedeutung gewinnen kann. Ein Film, der für mich schon jetzt zu den bedeutendsten dieses Filmjahres gehört.
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