Der unsichtbare Dritte (1959)
Psycho (1960)
Die Vögel (1963)
Marnie (1964)
Der zerrissene Vorhang (1966)
Topas (1969)
Frenzy (1972)
Familiengrab (1976)





Der unsichtbare Dritte
(North by Northwest)
USA 1959, 136 Minuten
Regie: Alfred Hitchcock
Drehbuch: Ernest Lehman
Musik: Bernard Herrmann
Kamera: Robert Burks
Schnitt: George Tomasini
Spezialeffekte: Arnold Gillespie, Lee LeBlanc
Darsteller: Cary Grant (Roger O. Thornhill), Eva Marie Saint (Eve Kendall), James Mason (Phillip Vandamm), Jessie Royce Landis (Clara Thornhill), Leo G. Carroll (Der Professor, Chef der Spionageabwehr), Josephine Hutchinson (Mrs. Townsend, Vandamms Schwester), Philip Ober (Lester Townsend, Diplomat), Martin Landau (Leonard), Adam Williams (Valerian), Edward Platt (Victor Larrabee, Thornhills Anwalt), Robert Ellenstein (Licht), Philip Coolidge (Dr. Cross)

Suspense vom feinsten

Ich muss gestehen: „North by Northwest“ ist mein Lieblingsfilm von Hitchcock. Mit diesem Streifen führt der Master of Suspense sein Publikum mehrfach hinters Licht; der Streifen überzeugt durch eine Handlung, die von Geheimnissen voll ist, durch etliche Wendungen und unglaublich gedrehte Szenen immer wieder die Spannung steigert, und mit dem Hitchcock bis ins letzte Detail beweist, warum er der Meister des Suspense und in gewisser Weise auch der Absurdität war und ist. Hitchcock selbst bezeichnete „North by Northwest“ als Höhepunkt seines in Amerika gedrehten Werks.

Inhalt
Roger Thornhill (Cary Grant) ist Werbefachmann. Eines Tages wird er entführt und seine Kidnapper wollen von ihm bestimmte Informationen, weil sie glauben, er sei ein Spion namens George Kaplan. Der feindliche Agent Phillip Vandamm (James Mason) und sein Helfershelfer Leonard (Martin Landau) bekommen aus Thornhill jedoch nichts heraus, weil der überhaupt nicht weiß, um was es eigentlich geht. Nachdem sie den vermeintlichen Kaplan betrunken gemacht haben, setzen sie ihn in ein Auto, um ihn bei einem inszenierten Unfall zu töten. Doch die Polizei kann Thornhill vor dem Tod bewahren. Nur seine Geschichte glaubt ihm niemand, auch seine Mutter (Jessie Royce Landis) nicht. Es gibt keine Spuren, nicht den geringsten Hinweis auf irgendeine Falle, die jemand Thornhill stellen wollte.

Vandamm und seine Helfershelfer verfolgen ihn weiter. Als er im Gebäude der Vereinten Nationen glaubt, über den Diplomaten Lester Townsend (Philip Ober) Licht ins Dunkel bringen zu können, wird dieser vor seinen Augen ermordet. Jetzt hat Townsend nicht nur Vandamm, sondern auch die Polizei im Nacken. Mit Mühe kann er sich in einen Zug flüchten und trifft dort auf die schöne Eve Kendall (Eva Marie Saint), die vorgibt, ihm uneigennützig helfen zu wollen. Doch Eve führt offenbar anderes im Schilde: Unter dem Vorwand, Thornhill mit dem wahren George Kaplan bekannt zu machen, versucht sie, ihn Vandamm auszuliefern. Mit knapper Not kann er den Killern entkommen und wird vom Chef der US-Spionageabwehr (Leo G. Carroll) über die Hintergründe des Geschehenen und über Eve Kendall aufgeklärt ...

Inszenierung
„North by Northwest“ sprudelt nur so vor überraschenden Wendungen, den Zuschauer in die Irre führenden Szenen, und vor allem konzentriert Hitchcock die schreckliche Unwissenheit über das, was passiert, in seinem Hauptdarsteller, Cary Grant. Der ahnungslose Werbefachmann gerät in einen Strudel von (Lebens-)Gefahr und weiß absolut nicht, was eigentlich mit ihm passiert. Er wird zum Rädchen in einem Getriebe, das ihm lange verborgen bleibt. Grant selbst soll während der Dreharbeiten geäußert haben: „Ich glaube, das ist ein ganz fürchterliches Drehbuch. Wir haben jetzt schon ein Drittel des Films abgedreht, es passiert alles mögliche, und ich weiß noch immer nicht, worum es geht.“ Damit bestätigte er, ohne es zu ahnen, die enorme Spannung, die einen gute zwei Stunden lang in Atem hält.

Beispiele:
Auf der Flucht vor seinen unbekannten Peinigern steht Thornhill an einer Straße mitten in einer wüstenartigen Gegend – eine stumme Szene, ohne Dialoge. Grant wartet. Das Publikum weiß, dass etwas passieren wird; es ist sonnenklar, dass demnächst ein Anschlag auf Thornhill stattfinden wird. Aber Hitchcock zieht diese Szene auf ganze sieben Minuten in die Länge, lotet die Umgebung aus, eine Straße, ein bepflanztes Feld, ansonsten Wüste, bevor sich dann – zunächst nur für den Zuschauer hörbar – ein Flugzeug nähert. Eine völlig absurde, unwahrscheinliche Szene. Hitchcock gestaltet den Raum, die Zeit spielt keine Rolle. Er bietet dem Zuschauer alle Fakten, um auszuloten: Wo könnte sich Thornhill jetzt verstecken? Was könnte ihn vor dem Tod retten? Dann nähert sich das Flugzeug. Ein Farmer, der gerade in einen Bus einsteigen will, sagt zu Thornhill, der neben ihm steht, die Hände in den Hosentaschen: „Dahinten kommt ein Insektenvernichtungsflugzeug, dabei gibt es hier doch gar keine Insekten zu vernichten.“ Nach diesen langen, zu äußerster Spannung getriebenen sieben Minuten beginnt die Flucht Thornhills vor dem tödlichen Flugzeug. Grant rennt, als wenn er auf einer Sprintstrecke im Stadion den Weltrekord brechen wollte – bis zum ersten, aber nicht letzten Showdown des Films.

Nichts ist hier – wie eigentlich nie bei Hitchcock – dem Zufall überlassen. Das Phantastische an der Szene besteht aber auch darin, dass sie nicht, wie oft üblich bei Sequenzen, in denen ein (versuchter) Mord unmittelbar bevorsteht, in einer dunklen Seitengasse mit einer mysteriösen Gestalt hinter einer Häuserecke oder ähnlichem spielt, sondern im lichten Freien, in der Sonne; es spielt keine Musik, ist fast absolut still. Die Gegend scheint harmlos und friedlich, und doch weiß jeder Zuschauer, dass es nicht so ist. Grandios.

Ebenso gekonnt umgesetzt ist die Szene, in der der Professor, der Chef der Spionageabwehr, Thornhill über die Umstände des Falls aufklärt und ihm erklärt, warum ihm die Polizei nicht helfen kann. Die Szene, dreißig Sekunden lang, spielt auf dem Flugplatz. Der Zuschauer bekommt von diesem Gespräch nichts mit; es wird von dem Maschinenlärm der Flugzeuge überdeckt, man sieht nur die Gesichter des Professors und Thornhills, seine Reaktionen auf das, was ihm berichtet wird. Hitchcock selbst wies auf die Bedeutung der Zeit in dieser Szene hin. Eine solche Aufklärung über die Hintergründe hätte als reales Geschehen wesentlich länger als dreißig Sekunden gedauert. Doch dem Zuschauer fällt dies im Film gar nicht auf, zum Teil auch deswegen, weil er schon mehr weiß als Thornhill selbst.

Auch in weiteren Szenen, im nachgestellten UN-Gebäude und am Schluss des Films am Mount Rushmore vor der steinernen Kulisse der amerikanischen Präsidenten, beweist Hitchcock Einfallsreichtum und sein Gespür für Hochspannung. Das UN-Gebäude durfte übrigens auf Anweisung des damaligen Generalsekretärs Dag Hammarskjöld für Filmaufnahmen nicht betreten werden. Hitchcock gelang es dennoch, mit versteckter Kamera die Szene zu drehen, in der Cary Grant das Gebäude betritt. Zudem ließ er heimlich im Innern des Gebäudes Fotos machen, um die Dekors rekonstruieren zu können.

Schauspieler
So wie Cary Grant 1938 in „Leoparden küsst man nicht“ („Bringing Up Baby“, Regie: Howard Hawks) in einer Komödie den ahnungslosen Wissenschaftler spielte, den Katherine Hepburn voll im Griff hatte, mimte er hier in einem Thriller den ahnungslosen Werbefachmann, der lange Zeit ebenso hinters Licht geführt wird. So unterschiedlich die Genre, die beiden Filme auch sein mögen: Grant meistert seine Rolle nicht nur gekonnt, sondern in der ihm eigenen Art. Genau diese Rolle liegt ihm: Der intelligente Unwissende, der aufs Kreuz gelegt wird, flüchtet, protestiert, sucht verzweifelt (aber ohne aufzugeben) nach der Wahrheit, wird böse und setzt sich am Schluss doch noch durch (oder wird dazu veranlasst, sich durchzusetzen, wie in der Komödie von 1938 durch die Hepburn).

Eva Maria Saint überzeugt in der Rolle einer geheimnisvollen, äußerst attraktiven Frau, die ihre erotische Anziehungskraft und ihren situativen Einfallsreichtum geschickt einzusetzen vermag.

James Mason schien in der damaligen Zeit (zu Recht) abonniert auf den kühlen, überlegten, hartgesottenen, intelligenten Bösewicht, der sich durch fast nichts aus der Ruhe bringen lässt.

Fazit
Wie François Truffaut gegenüber Hitchcock richtig bemerkte: „ ... man sollte ihren Filmen nie die Willkür zum Vorwurf machen, denn sie glauben an die Religion der Willkür, Sie haben den Sinn für die Phantasie, die auf dem Absurden basiert.“ „Den Sinn für das Absurde praktiziere ich wie eine Religion“, bestätigte der Meister. „North by Northwest ist nicht nur dafür ein Musterbeispiel.

Alle Zitate aus: François Truffaut (in Zusammenarbeit mit Helen G. Scott): Truffaut / Hitchcock, München / Zürich 1999 (Diana-Verlag) (Originalausgabe: 1983), S. 212 ff.



Psycho
(Psycho)
USA 1960, 108 Minuten
Regie: Alfred Hitchcock
Drehbuch: Joseph Stefano, nach dem Roman „Psycho“ von Robert Bloch
Musik: Bernard Herrmann
Kamera: John L. Russell
Schnitt: George Tomasini
Spezialeffekte: Clarence Champagne
Darsteller: Anthony Perkins (Norman Bates), Vera Miles (Lila Crane), Janet Leigh (Marion Crane), John Gavin (Sam Loomis), Martin Balsam (Detective Milton Arbogast), John McIntire (Sheriff Al Chambers), Simon Oakland (Dr. Richmond, Psychiater), Vaughn Taylor (George Lowery), Frank Albertson (Tom Cassidy), Lurene Tuttle (Mrs. Chambers), Patricia Hitchcock (Caroline), John Anderson (California Charlie, Autoverkäufer), Mort Mills (Verkehrspolizist )

Ein skrupellos-schönes Spiel

Wer „Psycho“ einmal in seinem Leben gesehen hat, wird den Film nie wieder vergessen – würde ich mal ganz forsch behaupten. Warum? Zum einen ist es Hitchcock hier noch effektiver gelungen, sein Publikum zu manipulieren. Andererseits knüpft die Handlung genau an Ängste an, die uns letztlich irgendwo alle bewegen: Opfer oder möglicherweise auch Täter eines Verbrechens zu werden, die Angst davor, in eine Situation zu geraten, die wir nicht mehr mit dem eigenen Willen meistern können, in der wir von einer Sekunde auf die andere völlig abhängig werden und in der es um Leben und Tod geht – ganz unabhängig von der konkreten Geschichte, die „Psycho“ erzählt, und der Zeit, in der der Film spielt.

Inhalt
Marion Crane (Janet Leigh) und Sam Loomis (John Gavin) sind ein Paar – aber ein mittelloses. Da bietet sich Marion eine Gelegenheit, schnell zu Geld zu kommen. Ihr Chef hat ihr nämlich 40.000 Dollar anvertraut, die sie auf der Bank einzahlen soll. Doch Marion entschließt sich, mit dem Geld Phoenix so rasch wie möglich zu verlassen. Auf ihrer planlosen Flucht gerät sie nachts in ein abgelegenes Motel, das der junge Norman Bates (Anthony Perkins) leitet: „Bates Motel ... Twelve cabins, twelve vacancies.“ Bates erscheint Marion sympathisch. Er erzählt ihr, dass er mit seiner Mutter in dem viktorianischen Herrenhaus nebenan wohne. Marion spürt, dass seine Mutter wohl eine eigenwillige und Bates gegenüber dominante Frau sein muss.

In der Nacht kommen Marion Zweifel an dem, was sie getan hat. Soll sie das Geld nicht lieber zurückgeben? Vor dem Schlafengehen will sie noch schnell duschen. Da betritt eine offenbar weibliche Person ihr Zimmer und tötet Marion unter der Dusche mit etlichen Messerstichen. Norman entdeckt die Leiche Marions und wirkt entsetzt. Er beseitigt sämtliche Spuren im Zimmer, packt Marions Leiche und ihre Sachen in ihr Auto und versenkt es in einem nahe gelegenen Teich.

Marions Chef hat inzwischen den Privatdetektiv Milton Arbogast (Martin Balsam) beauftragt, nach ihr und dem Geld zu suchen. Arbogast trifft zunächst auf Sam und Marions Schwester Lila (Vera Miles) und verspricht sie zu informieren, sobald er etwas in Erfahrung gebracht habe. Seine Ermittlungen führen ihn bald zu „Bates Motel“, in dem er jedoch keine Spuren von Marion entdecken kann. Als er allerdings Norman Bates auf seine Mutter anspricht, reagiert dieser gereizt und fordert Arbogast auf zu gehen. Der erzählt Sam und Lila von seiner Begegnung mit Bates und kehrt – neugierig wie ein Privatdetektiv nun mal ist – heimlich in das Motel zurück. Als er in das Herrenhaus eindringt und die Treppe hinauf geht, erscheint wiederum die unheimliche Frau und sticht Arbogast mit dem Küchenmesser nieder.

Nachdem sie von Arbogast nichts mehr gehört haben, entschließen sich Lila und Sam, zum Motel zu fahren. Sie geben sich als geschäftsreisendes Paar aus. Dann erzählen sie dem Sheriff (John McIntire) von ihrem Verdacht gegen Bates und seine Mutter. Doch der hält es für ausgeschlossen, dass Bates mit irgendeinem Verbrechen zu tun haben könne. Und seine Mutter sei schon vor Jahren gestorben. Sie habe sich zusammen mit ihrem Liebhaber getötet. Sam und Lila sind entsetzt und kehren zum Motel zurück ...

Inszenierung
Hitchcocks Manipulationen des Publikums in „Psycho“ sind eine Meisterleistung: Falsche Fährten, Mitleid mal für die eine, mal für den anderen, Horror, Sympathie-Wechsel usw.

Schon die Anfangsszene führt uns dies vor. Marion und Sam treffen sich in der Mittagspause zum Liebesspiel. Sam mit freiem Oberkörper, Marion „halb-puritanisch“ in einen BH „verpackt“ ist diese Szene doch mehr als eindeutig. Sie erzeugt Mitleid mit einem verzweifelten Paar, das sich liebt, aber aus Geldnöten nicht in der Lage ist, einen gemeinsamen Hausstand zu gründen. Dadurch dass Marion das Geld ihres Arbeitgebers entwendet, verhindert Hitchcock eine völlige Identifizierung mit den beiden Figuren, auch wenn der Diebstahl einer zwar nicht zwingenden, aber nachvollziehbaren Logik folgt. Hitchcock dehnt diese Geschichte bis zur Ankunft Marions im Motel weidlich aus. Marion scheint einerseits jetzt entschlossen, das Geld wieder zurückzugeben, andererseits schürt Hitchcock auch Vermutungen, sie könne sich das nochmal überlegen, weil Bates doch wirklich ein netter, sympathischer Kerl ist.

Dann schlägt Hitchcock brutal zu. Der Mord unter der Dusche beendet Marions Leben und mit ihm jegliche Erwartungshaltung bezüglich ihrer Zukunft. Doch nicht nur das. Bates säubert das Bad, gründlich, penibel, schafft Marions Leiche, ihre Habseligkeiten und zuletzt auch das in Papier eingewickelte Geld in das Auto und versenkt es im Teich. Man wartet förmlich darauf, dass das Auto ganz unter der Wasseroberfläche verschwindet, wie Bates, denn es entsteht plötzlich eine gewisse Form von Mitleid mit diesem jungen Kerl, der eine ganz schreckliche Mutter haben muss.

Dabei ist die Mordszene unter der Dusche – 45 Sekunden lang – in ebenso peinlicher Genauigkeit gedreht wie die anschließende Reinigungsszene. Die Mordszene wurde aus siebzig Kamerapositionen gedreht, mit einem Double. Von Janet Leigh sind nur Hände, Schultern und Kopf zu sehen. Teilweise wurden einzelne Momente in Zeitlupe aufgenommen. Der saubere und technisch brillante Schnitt ermöglichte den Eindruck eines wirklichen Mordes. Die Musik Bernard Herrmanns klingt einem noch jahrelang in den Ohren. Die Szene zeigt teilweise, wie das Wasser aus der Dusche (in Richtung Zuschauer) herunter prasselt, sich mit dem Blut vermischt, dann den Abfluss, in dem diese Mischung verschwindet wie das Leben aus Marions Körper, den Duschvorhang, an den sie sich krallt, als ob sie damit ihr Leben mit letzter Kraft festhalten wollte. „Hinterher gibt es“, so Hitchcock, „je weiter der Film fortschreitet, immer weniger Gewalt, denn die Erinnerung an diesen ersten Mord reicht aus, um die späteren Suspense-Momente furchterregend zu machen.“

Gerade hat man den armen Bates noch bedauert, geschieht ein weiterer Mord, der an Arbogast. Beide Morde erscheinen übrigens – zumindest unterbewusst – als Sühne für das gestohlene Geld. Marion hat es gestohlen und auch Arbogast interessiert sich weniger für die verschwundene Frau als für die 40.000 Dollar. Doch wie hat Hitchcock diesen Mord gedreht? Arbogast stirbt auf der Treppe des Herrenhauses, das er betreten hatte, um hinter das Geheimnis von Bates Mutter zu kommen. Hitchcock ließ die Kamera nicht hinter die „Mörderin Mutter“ stellen, sondern Russell filmte diese Szene von oben. Hätte er dem Zuschauer den Rücken „der Mörderin“ gezeigt, hätte man Verdacht geschöpft. Doch durch das Filmen von oben hintergeht Hitchcock das Publikum ein weiteres Mal. Es erscheint nicht so, als wolle er das Gesicht der Mörderin verstecken. Diese Einstellung – das arglose Opfer und „die Mörderin“ vor der Treppe in Großaufnahme – ermöglichte noch etwas anderes: den plötzlichen Wechsel der Perspektive: erst diese Großaufnahme des Treppenhauses mit den beiden Figuren, dann die Großaufnahme von Arbogasts Gesicht.

Immer noch Bedauern mit Bates? Doch dann geht das Wechselbad der Gefühle für das Publikum weiter. Die Polizei informiert Lila und Sam, dass Bates Mutter schon vor Jahren gestorben sei. Man rückt ab von der zeitweisen Sympathie für Bates. Das Publikum hat nur noch ein Interesse: Wer ist der Mörder? Ist es Bates? Aber was ist mit seiner Mutter? Ist sie wirklich tot? An die Stelle von begrenzter Sympathie, erst für Marion, dann für Bates, tritt jetzt das rein detektivische Interesse des Publikums, endlich zu wissen, was hier vor sich geht – nur, diese Serie von emotionalen Schwankungen, Schocks usw. ist, wie in fast keinem anderen Film Hitchcocks, auf eine unglaublich stringente und fast schon skrupellose Weise durchgeplant.

Fazit
Truffaut: „Die ganze Konstruktion des Films kommt mir vor, als steige man eine Art Treppe der Anomalie hinauf. Zuerst ein Beischlaf, dann ein Diebstahl, dann ein Mord, zwei Morde und schließlich Geisteskrankheit.“ Es ist nur der Film, die Technik, die Schnitte, die Fotografie, kaum die Story oder die Figuren, die aus „Psycho“ einen Suspense sondergleichen gemacht haben. Geschichte und Figuren, ja selbst die Psychologie in bezug auf Bates, sind dem völlig untergeordnet, lediglich Instrumente, auf denen Hitchcock spielt, um die Leiter des Suspense zu erklimmen und überraschende Wendungen herbeizuführen.

Und doch kann dies nur seine volle Wirkung entfalten in Relation zu den verborgenen oder bewussten Ängsten des Publikums. Denn der psychopathische Mörder ist eine Realität; die seelischen Abgründe, die ins uns allen mehr oder weniger schlummern, sind Realität; die Angst davor, gegenüber einer vertrauten Person – sei es die Mutter wie im Film oder wer auch immer – etwas falsch zu machen, die Angst vor Liebesentzug, ist Realität. Und nicht zuletzt die Angst vor Entdecktwerden (im Film vor der Polizei) und die Angst, selbst unter bestimmten Bedingungen zu einem potentiellen Mörder zu werden, sind existent. Kaum ein Regisseur hat mit alldem derart skrupellos-schön gespielt wie Alfred Hitchcock in „Psycho“.

Zitate aus: François Truffaut (in Zusammenarbeit mit Helen G. Scott): Truffaut / Hitchcock, München / Zürich 1999 (Diana-Verlag) (Originalausgabe: 1983), S. 240. Vgl. auch Beier/Seeßlen (Hrsg.): Alfred Hitchcock, Berlin 1999, S. 403 ff.



Die Vögel
(The Birds)
USA 1963, 119 Minuten
Regie: Alfred Hitchcock
Drehbuch: Evan Hunter, nach dem Roman von Daphne du Maurier
Musik (Geräuscheffekte): Bernard Herrmann
Kamera: Robert Burks
Schnitt: George Tomasini
Spezialeffekte: Ub Iwerks
Darsteller: Tippi Hedren (Melanie Daniels), Rod Taylor (Mitch Brenner), Jessica Tandy (Lydia Brenner), Suzanne Pleshette (Annie Hayworth), Veronica Cartwright (Cathy Brenner), Ethel Griffies (Mrs. Bundy), Charles McGraw (Sebastian Sholes), Ruth McDevitt (Mrs. Mac Gruder), Lonny Chapman (Deke Carter), Joe Mantell (Vertreter), Doodles Weaver (Fischer), Malcolm Atterbury (Deputy Al Malone), John McGovern (Postbote)

Vogel-Horror ohne digitale Effekte

Wozu braucht man Ungeheuer, Monster, Fantasy-Gestalten, wenn auch ganz normale Vögel ihr Unwesen treiben können? Genau dies dachte Hitchcock wohl bei einem seiner berühmtesten Streifen, für dessen Realisierung ihm nicht einmal eine ausgefeilte Computertechnik oder digitale Möglichkeiten zur Verfügung standen. Und vor allem: The Master of Suspense lässt sein Publikum völlig im unklaren darüber, was die wild gewordenen Vogelbestien eigentlich so aggressiv werden ließ.

Inhalt
Melanie Daniels (Tippi Hedren), eine Dame der besseren Gesellschaft mit leicht snobistischem Einschlag, lernt in einer Vogelhandlung in San Francisco den ihr gegenüber sarkastisch auftretenden Rechtsanwalt Mitch Brenner (Rod Taylor) kennen. Melanie ist trotzdem angetan von Mitch und beschließt, ihn, seine Mutter Lydia (Jessica Tandy) und seine Schwester Cathy (Veronica Cartwright) in Bodega Bay zu besuchen, wo die Brenners ihre Wochenenden verbringen. Als Melanie dort ankommt, wird sie von einer Möwe angegriffen. Sie bleibt trotzdem und findet Quartier bei der Lehrerin Annie Hayworth (Suzanne Pleshette), Mitch Ex-Freundin, die Melanie vor dessen Mutter warnt, die eine herrschsüchtige Frau sei.

Auf Cathys Geburtstag am nächsten Tag werden die Kinder plötzlich auch von Möwen angegriffen. Durch den Kamin des Hauses der Brenners dringen Spatzen. Mrs. Brenner findet einen toten Farmer mit ausgehackten Augen. Und die Kinder in der Schule beobachten, wie sich Raben zusammenrotten, die sie nach Unterrichtende angreifen.

Beim Versuch, Cathys Leben vor den aggressiven Vögeln zu retten, kommt Annie ums Leben. Das Haus der Brenners, die sich verbarrikadieren, wird zur Zielscheibe der Vögel. Aber auch in der übrigen Stadt traut sich niemand mehr auf die Straße. Einige Leute geben Melanie die Schuld an dem Horror, weil sie zwei Cathy Liebesvögel zum Geburtstag geschenkt hatte, die das Unglück angeblich auslösten ...

Inszenierung
„Die Vögel“ war nicht die erste Verfilmung nach einer Vorlage von Daphne du Maurier. Bereits 1940 hatte Hitchcock in „Rebecca“ einen Roman der Schriftstellerin in Szene gesetzt.
„The Birds“ fällt im Gesamtwerk Hitchcocks sichtlich aus dem Rahmen. Der Film liefert nicht nur keine Erklärung für das völlig unwahrscheinliche Verhalten der Vögel aller Arten, diese Vögel stehen auch im Mittelpunkt des Geschehens, nicht die menschlichen Figuren. Zudem handelt es sich nicht um Raubvögel, sondern um Raben, Spatzen, Möwen, Finken, also harmlose, ungefährliche Vertreter ihrer Art.

Der Film ist reine Phantasie, pure Fiktion und unterscheidet sich daher von allen anderen Streifen Hitchcocks. Es ist viel darüber spekuliert worden, welcher Sinn sich hinter dem Geschehen verstecken könnte. Hitchcock selbst äußerte sich einmal, man könne hinter Schock und Spannung eine „packende Deutung“ erkennen, wenn man genau hinsehe. Im Gespräch mit Truffaut allerdings bestätigte er wiederum, dass es sich um ein Produkt der Phantasie handle. Andere sahen in dem Film die Rache der Natur, der Vögel, an den Menschen, die sie fangen, töten, essen, einsperren. Hitchcock selbst äußerte sich in dieser Hinsicht dahingehend, das Verhalten der Vögel habe fast den Anschein von Rache. Das „Lexikon des internationalen Films“ vermutet in „The Birds“ gar „eine hintergründige Vision von Weltuntergangsstimmung“. Ich zweifle an solchen Absichten, zumal sich Hitchcock zu politischen Themen, welcher Art auch immer, in seinen Filmen nie definitiv geäußert hatte. (Selbst „Topas“ [1969], dem das Kuba Fidel Castros als Hintergrund dient, enthielt nicht unbedingt eine politische Aussage.)

Viel interessanter als diese Spekulationen, denen man sich anschließen kann oder nicht, ist die Art und Weise der Inszenierung selbst. Hitchcock hält sich streng an die Form des klassischen Dramas mit seiner Einheit von Ort (Bodega Bay), Zeit (das Drama entwickelt sich an zwei zusammenhängenden Tagen) und Handlung (keine Nebenhandlungen, es geht ausschließlich um den Angriff der Vögel und die Reaktion der Menschen und die zunehmende Aggression der Tiere; auch die Liebesgeschichte ist letztlich unwesentlich).

Das schafft eine Situation der Unausweichlichkeit, eine schicksalhafte Tragödie, der sich niemand entziehen kann, unterstützt durch Symbolik. Der Film beginnt mit der Szene in der Vogelhandlung. Mitch Brenner fängt Kanarienvögel ein und sperrt sie wieder in den Käfig, mit der leicht spitzen Bemerkung: „Ich tue sie wieder in ihren goldenen Käfig, Melanie Daniels.“ Melanie ist reich und verwöhnt, arrogant. Später ist sie es, die in einen Käfig gesperrt wird. Sie sucht in einer Telefonzelle Schutz vor den Angreifern. Doch das ist kein goldener, sondern ein Unglückskäfig. Ebenso symbolisch die Szene mit Mitch Mutter, die nach einem Angriff der durch den Kamin eingedrungenen Spatzen zerbrochenes Geschirr aufsammelt, alles gefilmt aus der Sicht Melanies. Als sie zu dem Haus des Farmers fährt, um den zu besuchen, sieht sie an der Wand nur noch die Henkel von Tassen hängen und weiß sofort, was passiert ist – und mit ihr der Zuschauer.

Das Publikum wird sozusagen „wellenartig“ auf die zunehmende Angriffslust der Vögel eingestimmt, unterbrochen von kleinen Ruhepausen. Man weiß zwar, dass dieses aggressive Verhalten und auch die Zahl der Vögel ständig zunimmt – das Tragische des Geschehens nimmt seinen Lauf –, aber was als nächstes wirklich passiert, weiß man nicht. Besonders drastisch sind die Szenen, in denen sich das Drohende langsam ankündigt. So, als die Schüler beobachten, wie sich die Raben versammeln, oder auch die Schlussszene, als Mitch, seine Mutter und die schwer angeschlagene und unter Schock stehende Melanie das Haus verlassen. Die Vögel, vor allem Raben und Möwen sitzen überall herum; man vernimmt leise Geräusche, weiß nicht einmal so genau, ob das, was man hört, real oder nur Einbildung ist – als ob die Vögel sagen wollten: „Noch ist es nicht so weit, aber wir bereiten uns gerade vor. Gleich greifen wir an ...“

Ein Vertreter des Tierschutzverbandes war übrigens bei den Dreharbeiten anwesend und überwachte die äußerst schwierigen Aufnahmen. Die Vögel mussten für verschiedene Szenen dressiert werden, z.B. in einer Szene, als ein Vogel einen Tankwart angriff. Die Möwe wurde so dressiert, dass sie von einem bestimmten Punkt aus direkt über den Kopf eines Stuntman hinweg zu einem Zielpunkt flog. Der auf Stürze spezialisiert Stuntman übertrieb seine Reaktion auf den „Angriff“, so dass der Eindruck entstand, die Möwe habe ihn verletzt. Diese Szene wird aus der Sicht Melanie Daniels gezeigt, in einer Phase, als Hitchcock kurz zuvor dem Zuschauer eine Pause gegönnt hatte, die Café-Szene, in der eine Ornithologin erklärt, es sei völlig unsinnig, was über aggressive Vögel erzählt werde, eine Szene, in der ein Betrunkener auftritt, gelacht wird. Dann wird der Tankwart angegriffen.

„The Birds“ enthält keine Musik. Bernard Herrmann, der schon seit „Ärger mit Harry“ (1955) die Musik für Hitchcocks Filme komponiert hatte, kam die Aufgabe zu, ausschließlich Vogelgeräusche in eine „Partitur“ umzusetzen bzw. den Ton des Films zu überwachen. Dabei eingesetzt wurde u.a. das sog. „Trautonium“ von Oskar Salas, eine Art „Synthesizer“, hier eingesetzt für Flügelschlagen, Kreischen und andere Geräusche. So entstand eine sehr spezielle Art von „musikalischem“ Arrangement ohne jegliche „normale“ Musik.

Anders als in sonstigen Filmen Hitchcocks kam den Schauspielern in „The Birds“ eine extrem untergeordnete Bedeutung zu. Die „kühle Blonde“ wird hier von Tippi Hedren (übrigens die Mutter von Melanie Griffith) verkörpert. Doch sie und Rod Taylor glänzen weniger durch ausgefallene schauspielerische Leistungen, denn durch die Darstellung aufgescheuchter, verschreckter, verzweifelter, angegriffener Opfer des Vogel-Horrors.

Fazit
Ein Film, der aus der Art schlägt und auch nicht. Denn trotz aller Differenzen zum Suspense anderer Klassiker lieferte Hitchcock hier – wenn man so will – eine Art „Mutterfilm“ für Horrorfilme à la „Entsetzen ohne realen Hintergrund“ – und das „nur“ mit stinknormalen Vögeln und ohne digitale Effekte.



Marnie
(Marnie)
USA 1964, 130 Minuten
Regie: Alfred Hitchcock
Drehbuch: Jay Presson Allen, nach dem Roman von Winston Graham
Musik: Bernard Herrmann
Director of Photography: Robert Burks
Schnitt: George Tomasini
Produktionsdesign: Robert F. Boyle, George Milo

Darsteller: Tippi Hedren (Marnie Edgar), Sean Connery (Mark Rutland), Diane Baker (Lil Mainwaring), Martin Gabel (Sidney Strutt), Louise Latham (Bernice Edgar), Bob Sweeney (Cousin Bob), Mariette Hartley (Susan Clabon), Alan Napier (Mr. Rutland), S. John Launer (Sam Ward), Edith Evanson (Rita), Meg Wyllie (Mrs. Turpin)

Macht und Ohnmacht

Die Liste der blonden Frauen, teilweise femme fatales, aber nicht immer, bei Alfred Hitchcock ist lang. Um nur einige zu nennen: Carole Lombard, Ingrid Bergman, Marlene Dietrich, Anne Baxter, Grace Kelly, Doris Day, Vera Miles, Eva Marie Saint, Tippi Hedren. Für „Marnie“ wollte Hitchcock wiederum Grace Kelly verpflichten, doch die winkte nach anfänglicher Sympathie für den Stoff ab, weil es im Fürstentum Probleme gebe. Hitchcock war sauer – und verpflichtete Tippi Hedren, die auch in „Die Vögel“ 1962 die weibliche Hauptrolle gespielt hatte.

Marnie (Tippi Hedren) – das ist wieder einmal eine jener Frauen, die ein Geheimnis umweht, ein finsteres Geheimnis, das es zu enthüllen gilt. Marnie, die Maskenträgerin, geht in der Anfangsszene des Films den Bahnsteig entlang. Zunächst sieht man nur ihre Handtasche, dann sie selbst, aber nur von hinten, ihre schwarzen Haare, ihren Koffer. Hitchcock zeigt sie in einem Zimmer, wiederum nur von hinten. Sie packt ihre Sachen, die sie gerade noch trug, in einen Koffer, verstaut diesen in einem Schließfach im Bahnhof und wirft den Schlüssel weg. Sie übergibt ihren letzten Diebstahl dem Vergessen. Er ist nicht mehr wichtig für sie, Vergangenheit, abgeschlossene erfolgreiche Rache. Marnie ist eine notorische, eine krankhafte Diebin. Sie bestiehlt Männer, weil sie glaubt, mit dem Raub von Geld Männer an ihrer empfindlichsten Stelle zu treffen. Marnie mag keine Männer. Kein Mann darf sie berühren, es sei denn, dass eine Berührung notwendig ist, um an ihr Ziel zu kommen: Geld. Marnie kastriert auf diese Weise Männer.

Marnie ist blond, schön und eiskalt, skrupellos und unentwegt auf der Straße der Rache. Diese Rache vollzieht sich nicht mit lautem Getöse, mit Blut, Schweiß und Tränen oder mit der Waffe. Marnies Rache geschieht ruhig, überlegt, gerissen.

Den Steuerberater Strutt (Martin Gabel) hat sie gerade um einige Tausend Dollar erleichtert. Der Firmeninhaber Mark Rutland (Sean Connery) soll ihr nächstes Opfer sein. Marnie hat sich eine verlogene Biografie zurecht gelegt und wird von Rutland – trotz nicht allzu üppiger Referenzen – eingestellt. Warum? An dieser Stelle des Films führt Hitchcock eine Figur in das Geschehen ein, die selbst neurotisch ist. Rutland, dem Marnie schon bei Strutt, seinem Steuerberater, aufgefallen war, weil sie schöne Beine hat, gibt ihr zum Unverständnis seines Untergebenen Ward (S. John Launer) eine Vertrauensstellung, weil er mit dieser Frau schlafen will. Als Ward Marnie beim Bewerbungsgespräch befragt, steht Rutland etwas abseits, sagt kein Wort und hat bereits beschlossen – seine Blicke sagen alles –, dass er sich dieser Frau bemächtigen will.

Rutland bemerkt sehr rasch, dass Marnie – trotz schwarzer Perücke erkennt er das blonde Gift wieder – diejenige war, die Strutt bestohlen hatte. Das reizt ihn besonders. „Ein Mann will mit einer Diebin schlafen, weil sie eine Diebin ist, wie andere mit einer Chinesin oder einer Schwarzen schlafen wollen“, kommentierte Hitchcock diese Ausgangskonstellation des Films [1]. So treffen eine kleptomanische Frau und ein von fetischistischer Liebe getriebener Mann aufeinander und begeben sich in eine doppelte Abhängigkeit. Während Marnie nur die Wahl bleibt, entweder von Rutland der Polizei ausgeliefert zu werden oder ihn zu heiraten – vor diese Wahl stellt sie Rutland –, schwankt Rutland zwischen Fetischismus und dem von Zuneigung geprägten Gefühl, die Ursache für Marnies Verhalten aufdecken zu wollen. Bis zum Schluss bleibt ungewiss, aus welchen Gründen er dies wirklich tut bzw. welche Gründe überwiegen.

Zumal es eine andere Frau in seinem Leben gibt, die er permanent zurückweist: Lil (Diane Baker), die Schwester seiner verstorbenen Frau, die ihn liebt, die sich regelrecht bei ihm eingenistet hat, eine fast zierliche Schönheit mit dunklen Haaren und dunklen Augen, fast eine Audrey Hepburn No. 2. Sie will ihn, als Rutland mit Marnie zur Hochzeitsreise aufbricht, demonstrativ auf den Mund küssen; er wehrt den Kuss gerade noch einmal ab. Lil wäre für Rutland ohne Anstrengung zu haben, aber er stößt sie zurück wie einen Hund. Auch bei Lil kann man sich nicht sicher sein, ob sie eine unschuldige, reine Schönheit ist. Die gibt es bei Hitchcock sowieso nur äußerst selten. Lil ist jedenfalls ein Biest; sie bringt Strutt auf die Spur Marnies, als sie ihn und seine Frau zu einem Fest einlädt und Strutt Marnie wiedererkennt. Man könnte auch meinen, Lil liebe diesen Zyniker von Rutland nur, weil der sich ihrer Liebe verweigert. Der Reiz, abgelehnt zu werden, und daher sich noch intensiver auf diesen Mann zu konzentrieren, scheint Lil zu treiben.

Rutland setzt alles daran herauszubekommen, welches Ereignis in Marnies Kindheit für ihr Verhalten verantwortlich sein mag. Marnie hat Angst vor Gewitter, gerät in Panik, wenn sie Gegenstände oder Personen in knalligem Rot sieht. Rutland beauftragt einen Privatdetektiv, bekommt heraus, dass Marnies Mutter nicht tot ist, lässt sich Kopien von Gerichtsakten besorgen und zwingt Marnie nicht nur zur Heirat, sondern später auch dazu, mit ihm zu ihrer Mutter zu fahren, um der zu entlocken, was Rutland längst ahnt. Doch Bernice Edgar (Louise Latham) soll ihrer Tochter Auge in Auge gestehen, was vor Jahren passiert ist.

Man könnte fast schlussfolgern, dass nicht so sehr die junge neurotische Frau im Zentrum des Films steht, sondern Rutland. Er zwingt Marnie auf der Hochzeitsreise zum Sex, woraufhin sie versucht sich umzubringen. Andererseits unternimmt er alles, um seiner Frau zu helfen, sie selbst auf die Reise der Entdeckung des Verdrängten zu führen – mal mit Gewalt, quälendem Zwang und zynischer Überlegenheitsattitüde, mal mit fast schon liebevoller Zuwendung.

„Marnie“ endet mit der Aufdeckung des Ereignisses, das zu Marnies Ängsten, ihrer totalen Ablehnung von Männern und ihrer kriminellen Energie geführt hat. Aber dieses Ende ist nicht die pathetische Feier einer erfolgreichen Psychoanalyse, die zur Gesundung des Patienten führt, auch kein romantisches Happyend, keine Garantie für eine gelungene Beziehung nach Überwindung von Stolpersteinen. Das Ende des Films ist der Anfang des Zweifels: Wie mag das mit Marnie weitergehen, wie mit ihr und Rutland? Wie wird sich ihre Beziehung zur Mutter weiter gestalten, deren Liebe Marnie zeitlebens gefehlt hat? Es läuft einem eher kalt den Rücken herunter, als dass man sich in wohliger Wärme zurücklehnen wollte.

Wer wirklich Macht über sich selbst besitzt, muss keine Macht über andere ausüben; er kann anderen mit wirklicher Zuneigung oder Sympathie oder auch mit Antipathie begegnen, ohne allerdings in blinden Hass zu verfallen. Hitchcocks Figuren haben fast nie Macht über sich selbst, schon gar nicht, wenn sie als Paar auftreten. Sie bemächtigen sich mit ihren psychological lacks, ihren Depressionen, Mängeln, Neurosen oder sonstigen Defekten, ihrem Verdrängten anderer. Sie projizieren ihre eigene Machtlosigkeit über sich selbst mit der Machtergreifung derer, die Schwächen zeigen. Marnie ist ein optimales Opfer für Rutland. Wenn da nicht irgendwo noch ein leises Gespür von dem wäre, was Zuneigung wirklich ausmacht, würde die Geschichte um Marnie mit einem Desaster enden. Dass dem nicht so ist, verdankt man Hitchcock, dem „Regisseur des Paares“ (Jean-Luc Godard), der dieses Paar gnadenlos seziert, mit der Kamera Robert Burks skrupellos draufhält.

„Marnie“ enthält phantastische Szenen. Beispiel: Die Kamera zeigt die Büroräume Rutlands, links einen Gang, in dem eine Putzfrau nach Feierabend ihre Arbeit verrichtet, rechts den Raum Wards, in dem Marnie gerade den Tresor ausräumt. Die Kamera beobachtet beide Frauen bei der Arbeit. Marnie weiß von der anderen, die andere natürlich nicht von ihr. Marnie zieht ihre Schuhe aus, um über die Hintertreppe zu verschwinden. Ein Schuh fällt ihr aus der Manteltasche. Marnie hat Glück; die Putzfrau ist schwerhörig.

Eine andere Szene: Rutland hat Marnie (sie hat gerade ihre Arbeit in der Firma angetreten) am Samstag zu sich bestellt; sie soll einen Text für ihn abschreiben. Ein Gewitter unterbricht das Gespräch der beiden. Marnie bekommt Angst. Schließlich stürzt noch ein Ast durch die Scheibe. Rutland nimmt Marnie in den Arm, langsam nähert sich sein Mund ihrem Gesicht. Einer der schönsten, aber auch furchtbarsten Küsse der Filmgeschichte.

Hervorzuheben ist noch die Figur der Bernice Edgar, von Louise Latham exzellent gespielt, während die Nebenrollen des Films, Rutlands Vater, Strutt und andere eher etwas vernachlässigt wurden.

Vielleicht war Hitchcock nicht so sehr der Regisseur der Psychoanalyse, sondern der der Grenzen dieser Wissenschaft.

[1] Zit. n. François Truffaut in Zusammenarbeit mit Helen G. Scott: Truffaut / Hitchcock, München 1999, S. 258.



Der zerrissene Vorhang
(Torn Curtain)
USA 1966, 128 Minuten
Regie: Alfred Hitchcock
Drehbuch: Brian Moore
Musik: John Addison
Director of Photography: John F. Warren
Schnitt: Bud Hoffman
Produktionsdesign: Hein Heckroth, Frank Arrigo
Darsteller: Paul Newman (Prof. Michael Armstrong), Julie Andrews (Sarah Sherman), Hansjörg Felmy (Oberst Heinrich Gerhard), Wolfgang Kieling (Hermann Gromek, Staatssicherheitsdienst), Ludwig Donath (Prof. Gustav Lindt), Günter Strack (Prof. Karl Manfred),, David Opatoshu (Mr. Jakobi), Gisela Fischer (Dr. Koska), Tamara Toumanova (Ballerina), Lila Kedrova (Gräfin Kuchinska), Mort Mills (Bauer), Carolyn Conwell (Bäuerin)

Hitchcock ganz unten

Gibt es einen schlechten Hitchcock-Film? Zumindest gibt es Filme, die einem vielleicht persönlich nicht besonders liegen. Für mich gehört dazu „Torn Curtain“, eine relativ platte und logisch zweifelhafte Agentengeschichte, die eher an Kalte-Krieg-B-Movies erinnert, denn an den Master of Suspense. Das Drehbuch schrieb der aus Irland stammende und später in Kanada u.a. durch Kriminalromane berühmt gewordene Brian Moore.

Inhalt
Der amerikanische Physiker Michael Armstrong (Paul Newman) plant, sich von Skandinavien aus nach Ost-Berlin abzusetzen. Armstrong arbeitete in den USA an einem Raketenabwehrprojekt, für dessen Vollendung ihm allerdings die entscheidenden wissenschaftlichen Grundlagen fehlen. Diejenige Macht, die eine solche Technologie als erste entwickeln könnte, hätte einen enormen Vorsprung im Rüstungswettlauf. Armstrong nimmt mit seiner Assistentin und Geliebten Sarah Sherman (Julie Andrews) an einem Kongress teil und hat Kontakt mit dem DDR-Kollegen Karl Manfred (Günter Strack), der Armstrong penibel beobachtet. Sarah liebt Michael und will nichts weiter, als ihn endlich heiraten. Doch als ihr einige Dinge merkwürdig vorkommen – z.B. ein geheimnisvolles Buch, das sie für Armstrong von einem Buchhändler besorgt –, stellt sie Michael zur Rede. Sie kann es nicht glauben, dass Michael sich zum Feind absetzen will, und ist erschüttert, als er ihr unmissverständlich erklärt, es gebe keine gemeinsame Zukunft.

Sarah gibt jedoch nicht auf. Sie bucht einen Platz im selben Flugzeug nach Ost-Berlin und bleibt ihm auf den Fersen. Der Oberst der Staatssicherheit Gerhard (Hansjörg Felmy), sein Adjutant Gromek (Wolfgang Kieling) und einige andere Herren der Parteiführung begrüßen den Überläufer auf dem Flugplatz. Dass er Sarah bei sich hat, findet man zwar merkwürdig, schert sich aber nicht weiter darum. Was weder sie, noch Sarah ahnen: Armstrong läuft nur zum Schein über. Er hat Kontakt zu einer Oppositionsgruppe namens „Pi“ (¶), die Regimegegnern zur Flucht verhilft, und will dem Leipziger Professor Lindt (Ludwig Donath) die Informationen entlocken, die den Amerikanern fehlen, um danach die DDR illegal zu verlassen. Endlich beichtet er Sarah seine Pläne.

Nur einer traut dem Frieden um den willkommenen Überläufer nicht: Gromek. Als Armstrong heimlich auf einem abgelegenen Hof mit einem Bauern (Mort Mills) und seiner Frau, die zu „Pi“ gehören, Kontakt aufnimmt, folgt Gromek ihm mit dem Motorrad. Gromek stellt die Frau (Carolyn Conwell) und Armstrong zur Rede. Beide können ihn allerdings überwältigen. Die Bäuerin sticht ihm mit einem Messer in die Brust, Armstrong schlägt Gromek zu Boden, und beide zwängen seinen Kopf in den Gasherd. Gromek erstickt.

Was Armstrong allerdings nicht bedacht hat: Der Taxifahrer, der ihn zu dem Hof gefahren hatte, erkennt Gromek in der Zeitung wieder, in der die Stasi die Bevölkerung um Hinweise über den Verbleib Gromeks bittet. Armstrong und Sherman befinden sich in akuter Lebensgefahr. Die Zeit drängt, auch wenn Armstrong von Lindt die nötigen Informationen im letzten Moment erhält, bevor der merkt, dass Armstrong ein amerikanischer Agent ist ...

Inszenierung
Das alles hört sich mehr nach James Bond, denn nach Hitchcock an. Dies allein wäre keine Tragödie. Doch die Story ist von vorn bis hinten – eine mittelmäßige Katastrophe. Newman selbst schrieb vor Drehbeginn an Hitchcock, an dem Drehbuch müsste wohl noch einiges geändert werden. Hitchcock änderte selbst etliche Szenen und Dialoge. Das alles aber half nicht allzu viel. Um nur einige Beispiele zu nennen:

Armstrong handelt offensichtlich nicht im Auftrag der CIA, sondern in eigenem Namen. Wie verhält er sich? Strohdumm. Seine engste Mitarbeiterin und Geliebte kommt relativ einfach dahinter, dass er überlaufen will. Wieso verständigt sie nicht die amerikanischen Behörden? Aus Liebe? In der DDR soll Armstrong lediglich einer Befragung durch Wissenschaftler unterzogen werden. Die Staatssicherheit selbst lässt ihn mehr oder weniger in Ruhe (nur Gromek scheint Zweifel zu hegen). Armstrong, der wissen muss, dass eine Kontaktaufnahme zu Oppositionellen gut vorbereitet sein will, damit die Stasi nichts davon erfährt, verhält sich, als ob es sich bei seinen Plänen um einen verbotenen Dumme-Jungen-Streich handeln würde. Dass er dann auch noch das griechische Pi , das er vor dem Hof in den Sand zeichnet – Erkennungszeichen für die Bäuerin, dass er kein verkappter Stasi-Spitzel, sondern eben Armstrong ist –, nicht wieder wegwischt, als Gromek dort erscheint, grenzt an Debilität. Der Mord an Gromek – ohne Musikuntermalung gedreht – lässt zwar die Handschrift Hitchcocks erkennen, ist allerdings wider alle Logik inszeniert: Dass ein Mann, dem ein Messer in die Brust gejagt wird, dessen Klinge abbricht, nicht vor Schmerz schreit, geschweige denn um Hilfe ruft – der Taxifahrer wartet vor dem Hof auf Armstrong ! –, ist unglaubwürdig. Dass die Bäuerin – eine nicht gerade sehr starke Frau – Gromek, der am Boden liegt, in den Gasherd ziehen kann, obwohl Armstrong fast mit seinem ganzen Gewicht auf ihm kniet, kann man Hitchcock nun wirklich nicht abnehmen.

Aber es kommt noch schlimmer. Als Armstrong Lindt Informationen entlocken will, stellt er sich – einen bekannten, sehr erfahrenen Wissenschaftler, was auch seine Kollegen in der DDR wissen – derart dumm, dass Lindt sofort vermuten müsste, das etwas nicht stimmt. Statt dessen löst Armstrongs angebliche, dümmlich vorgebrachte Unwissenheit aus, dass Lindt wie ein Buch anfängt zu reden und eine Formel nach der anderen an der Tafel korrigiert.

Als Armstrong und Sarah in Verdacht geraten, CIA-Spitzel zu sein, werden sie zwar gesucht. Doch bei dieser Suche stellt die Stasi sich derart unbeholfen an, dass einem die Haare zu Berge stehen. Auf der Flucht mit einem Bus, in dem sich nur Leute aus „Pi“ befinden, versucht der Fluchthelfer Jakobi (David Opatoshu) einem Vopo weiszumachen, ihr angeblicher Linienbus sei zusätzlich eingesetzt worden. Der Vopo zweifelt nicht daran und eskortiert den Bus bis in die Stadt. Als die Vopos dann dort herausbekommen, dass irgend etwas nicht stimmt, ballern sie wie wild und völlig sinnlos (man will doch schließlich von denen was erfahren, oder?) auf die flüchtenden Passagiere. Armstrong und Sarah entkommen natürlich, und dann wird man mit der nächsten schrecklichen Szene konfrontiert: Eine Polin, die Gräfin Kuchinska (Lila Kedrova), will den beiden unter der Bedingung helfen, dass Armstrong für sie bei den staatlichen Stellen bürgt. Sie will nämlich ausreisen. Was soll das? Erstens ist sie Polin und wird wohl kaum von den DDR-Behörden ein Ausreisevisum erhalten. Zweitens wird ihr die Bürgschaft eines von den Behörden gesuchten Agenten kaum etwas nützen. Drittens spielt Lila Kedrova diese Rolle derart übertrieben, sozusagen „außer Rand und Band“, dass man lieber wegschauen möchte.

Auch die schauspielerischen Leistungen lassen zu wünschen übrig. Newman spielt, als gehöre er gar nicht in den Film. Er ist entweder völlig unterfordert oder gibt sich derart unglaubwürdigen Szenen hin wie der mit Lindt an der Tafel. Julie Andrews hat zwar ein paar gute Szenen – etwa die Auseinandersetzung mit Newman zu Anfang, als sie von seinen Absichten erfährt –, wirkt aber ansonsten eher wie (fast schon überflüssige) eine Statistin. Hansjörg Felmy als Oberst der Stasi ist völlig fehl am Platz (der Liebhaber steht ihm besser). Die Fluchthelfer – u.a. auch die Ärztin Dr. Koska (Gisela Fischer) – treten immer dann in Aktion, wenn das Drehbuch mal gerade wieder in einer Sackgasse gelandet ist.

Der einzige, der mich wirklich überzeugt hat, ist Wolfgang Kieling. Kieling, im schwarzen Ledermantel, mit bissigen, ironischen und zynischen Bemerkungen, einem ebensolchen Blick, spielt diesen Stasi Gromek überzeugend: einen skrupellosen, intelligenten Mann, der Armstrong immer wieder mit englischen Zitaten begegnet, weil er offenbar einmal in New York war. Gerade Gromeks Zweifel an Armstrongs Echtheit, die der kaum übersehen kann, veranlassen den amerikanischen Wissenschaftler in keiner Weise, vorsichtiger zu sein und vorbereiteter zu handeln.

Fazit
Kurzum: Dieses Drehbuch und diese Inszenierung sind eine reine Katastrophe. Die Charaktere sind (mit Ausnahme Gromeks) entweder flach, unausgegoren, unterfordert oder einfach nur peinlich (Kedrova). Und als Sahnehäubchen inszenierte mein geliebter Alfred Hitchcock eine Flucht Armstrongs und Sarahs, die sich gewaschen hat, sprich: der nicht vorhandenen Plausibilität dieses Films die Krone aufsetzt: Die beiden flüchten ins Theater und werden dort in großen Körben versteckt, die zum Transport der Kleider der Schauspieler benutzt werden. Stasi-Gerhard und seine Männer, die sich im Theater aufhalten und die beiden Flüchtenden verfolgen, sehen offenbar keinen Anlass dazu, das ganze Theater gründlich zu durchsuchen – jedenfalls nicht die Körbe, die munter auf ein Schiff transportiert werden. Fluchthilfe gelungen, Film allerdings daneben gegangen.

Hitchcock drehte später eine weitere Agentenstory, „Topas“ (1969), die zwar auch nicht zu den Meisterwerken des Regisseurs gehörte, aber wenigstens logisch, spannend und gut gespielt war. Mit „Torn Curtain“ jedenfalls konnte Hitchcock eigentlich selbst nicht zufrieden gewesen sein.



Topas
(Topaz)
USA 1969, 127 Minuten
Regie: Alfred Hitchcock
Drehbuch: Samuel Taylor nach dem Roman „Topaz“ von Leon Uris
Musik: Maurice Jarre
Kamera: Jack Hildyard
Schnitt: William Ziegler
Spezialeffekte: Alfred Whitlock
Darsteller: Frederick Stafford (André Deveraux), Dany Robin (Nicole Deveraux), Karin Dor (Juanita de Cordoba), John Vernon (Rico Parra), Claude Jade (Michèle Picard), Michel Subor (François Picard), Michel Piccoli (Jacques Granville), Philippe Noiret (Henri Jarre), Per-Axel Arosenius (Boris Kusenov), Roscoe Lee Browne (Philippe Dubois), John Forsythe (Michael Nordstrom), Sonja Kolthoff (Mrs. Kusenov), Tina Hedström (Tamara Kusenov), Donald Randolph (Luis Uribe), John van Dreelen (Claude Martin), Edmund Ryan (McKittrick), George Skaff (D’Arcy), Roger Til (Chabrier), Sandor Szabo (Redon), Carlos Rivas (Hernandez), Anna Navarro (Carlotta Mendoza), Lewis Charles (Pablo Mendoza), John Rooper (Thomas), Rita Conde (Dolores), Roberto Contreras (Munoz)

Hitchcock auf Abwegen?

Auch das war Hitchcock: Mangels eines besseren Stoffes verfilmte Hitchcock unter chaotischeren Umständen als üblich einen eher inhaltlich verzettelten denn stringent durchgearbeiteten Roman von Leon Uris. Szenen wurden gedreht und wieder verworfen. 1999 tauchte auch in hiesigen Landen ein Director’s Cut auf, der etwa 20 Minuten länger war als die bisherige Kinofassung. Eine Handlung gibt es eigentlich gar nicht, es gibt mehrere, die angeschnitten, verfolgt, aber nie so richtig zu Ende dramatisiert werden.

„Topaz“ ist der einzig mir bekannte Film des Meisters, in dem er die Einheit des Dramatischen, die Einheit von Ort, Zeit und Handlung mehrfach bricht. Hitchcock selbst sprach über „Topaz“ später von einer „unglücklichen Angelegenheit“. „Topaz“ tendiert eher in Richtung Spionage-Thriller à la James Bond, als dass er die Tradition des spezifischen Suspense à la Hitchcock kontinuierlich weiterverfolgt. Der Film ist zudem der einzige, in dem er eine eindeutige politische Stellungnahme abgibt: gegen das Kuba Fidel Castros.

Inhalt
Ausgangssituation der Geschichte ist das Jahr 1962, als die Amerikaner fieberhaft daran arbeiten, Informationen über die Politik der Sowjetunion in Kuba zu gewinnen – also die Kuba-Krise, im Verlauf derer die UdSSR Mittelstreckenraketen auf Kuba stationierte und die Systemkonfrontation drastisch eskalierte.

Zudem soll es in der NATO einen Spion geben, der der Sowjetunion Geheimnisse des westlichen Bündnisses verrät. Der französische Agent André Deveraux (Frederick Stafford) erhält den Auftrag, den Spion zu enttarnen. Deveraux arbeitet zugleich für den US-Geheimdienst.

Zur gleichen Zeit verhilft der CIA-Agent Michael Nordstrom (John Forsythe) dem russischen Überläufer Boris Kusenov (Per-Axel Arosenius) und seiner Familie zur Flucht aus der russischen Botschaft in Dänemark in die USA. Dort angelangt, informiert Kusenov die CIA über die Absichten der Sowjets in Kuba. Nordstrom setzt sich mit Deveraux in Verbindung, der inzwischen den als Floristen getarnten Agenten Philippe Dubois (Roscoe Lee Browne) um Unterstützung bittet. Dubois erfährt einiges bei einem Treffen von Anhängern Castros in dem New Yorker Hotel „Theresa“ und informiert Deveraux, der sich darauf hin nach Kuba aufmacht. In Havanna trifft Deveraux seine Ex-Freundin Juanita de Cordoba (Karin Dor) wieder, die inzwischen Geliebte von Castros engem Mitarbeiter Rico Parra (John Vernon) her ist. Juanita treibt ein doppeltes Spiel: Sie ist nämlich Mitglied einer Untergrundbewegung, die auf Castros Sturz hinarbeitet. Als Deveraux ihr von seinen Absichten erzählt, beauftragt sie ihre Bediensteten, Informationen über die Raketenstationierung einzuholen. Denen gelingt ihnen, zwei Fotos von den Raketen zu schießen und den Film an Juanita zu übermitteln. Aber beide müssen mit ihrem Leben dafür bezahlen.

Und Rico Parra kommt nicht nur Deveraux, sondern auch Juanita auf die Schliche. Während Deveraux Kuba noch verlassen kann, erschießt Parra Juanita. Der Spion aber, der für die Sowjetunion arbeitet, ist noch nicht enttarnt ...

Inszenierung
Zweifellos: Im Vergleich zu manch anderen Spionage-Thriller ist „Topaz“ ein Meisterwerk an Spannung – allerdings, und das ist für mich der Unterschied zu anderen Werken des Masters of Suspense, auf Kosten der Entwicklung von Charakteren und der Einheit des Dramatischen. Szenen wie die im New Yorker Hotel, in dem Dubois – der sich als Journalist ausgibt – die dort sich aufhaltenden Kubaner ausspioniert, oder auch die Szenen, in denen der russische Spion enttarnt wird, gehören zu den spannendsten der Filmgeschichte. Doch Hitchcock gewinnt in „Topaz“ die Spannung nicht so sehr aus der Entwicklung eines roten Fadens, der sich durch den Film zieht und an dem er das Dramatische und vor allem das individuelle Schicksal eines Helden konsequent entwickelt, sondern aus der (stellenweise hervorragend) inszenierten Hitze des Kalten Krieges. Die Schauplätze wechseln, und letztlich werden zwei zwar inhaltlich irgendwie zusammenhängende, aber dramaturgisch getrennte Geschichten erzählt: Die Kuba-Krise als „Dreiecksgeschichte“ zwischen Frederick Stafford, Karin Dor und John Vernon und die Geschichte um die Enttarnung des für die UdSSR arbeitenden Spions in Frankreich.

Dazwischen leuchten tragische Situationen auf, etwa die zwischen Parra und Juanita, die er, als er sie enttarnt hat, erschießt. Diese Szene ist opernreif. Parra ist derjenige, der gescheitert ist, in doppelter Hinsicht: Deveraux ist entkommen und Juanitas Liebe konnte er nicht gewinnen. Er umarmt sie und fast flüsternd schildert er Juanita die Qualen der Folter, bevor er sie erschießt. Sie sinkt in ihr weites Kleid auf den Boden. Ihr Tod ist „nur“ noch die Rache Parras, des Unfähigen, des Impotenten. Hier treffen sich typische Hitchcock-Tragik und politische, bissige Stellungnahme. Denn Parra ist dem Revolutionär Che Guevara bis in einzelne Äußerlichkeiten nachempfunden. Hitchcock, der Liberale (und wie er selbst sagte: Republikaner, wenn es um sein Geld geht), vernichtet Castro und Guevara in dieser Sequenz.

Die Tragik Parras dient ausschließlich der politischen Verurteilung eines Systems, das auch im Film durch Brutalität, Folter, Mord charakterisiert wird. Die ganze Anlage des Films macht diese Szene nicht zu einer Schlüsselszene im Drama, sondern nur in der politischen Verurteilung. Das ist ein fundamentaler Unterschied zu den Helden anderer Hitchcock-Filme.

Demgegenüber sind die anderen Figuren, insbesondere auch Deveraux, so oberflächlich skizziert wie selten bei Hitchcock. Die Spione und anderen Beteiligten degradiert er zu Charaktermasken der Systemauseinandersetzung. Das skizziert die Bond-Qualität von „Topaz“. Gerade Frederick Stafford steht im Vergleich zu Hauptfiguren seiner anderen Streifen für den „Verlust des Individuellen“. Deveraux ist eine Mischung aus Bond-ähnlichem Einzelkämpfer und Bond-ähnlichem in die Geheimdienst-Bürokratie eingewobenen Technokraten: exekutierender Funktionär. Hinzu kommt allerdings, dass er im Unterschied zu manch anderen Figuren in „Topaz“ weit weniger in das Riskante seines Berufs eingebunden ist. Risiken gehen eigentlich nur die anderen ein. So könnte man – wie Stefan Reinecke dies getan hat (1) – „Topaz“ auch als einen Abschied Hitchcocks vom Individuum, als Ich-Verlust des Helden deuten, analog zur Bürokratisierung der Macht.

Im Gegensatz zu anderen Hauptdarstellern in seinen Filmen, vor allem Cary Grant und James Stewart, ist Stafford nur noch Sinnbild eines fast schon anonym, im Hintergrund bleibenden und von dort die Fäden ziehenden Machtapparates, der seine eingeschliffene Logik auf immer die gleiche Weise entfaltet.

In dieser Hinsicht ist „Topaz“ dann eben Ausdruck einer auf der bekannten Logik des Kalten Krieges aufbauenden Praxis. Während Grant und Stewart gegen den Verlust ihrer Identität kämpften, ist Stafford lediglich Exekutor anderer (und zudem kein sehr überzeugender Schauspieler).

Fazit
Bei Publikum wie Kritik war „Topaz“ der ungeliebteste Hitchcock aller Zeiten. Vor allem das Gerangel um die Schlussszene, in der Michel Piccoli sich „irgendwie“ umbringen muss oder getötet werden muss, deutet die Probleme an, die sich Hitchcock mit der Vorlage selbst einhandelte. Wie soll er das ganze Kuddelmuddel jetzt noch auflösen? Zunächst sollte Piccoli von Stafford in einem Duell erschossen werden, dann Selbstmord begehen. Dann wurde Philippe Noiret in die Szene eingebaut. Diese letzte Szene steht zudem in kaum einem Zusammenhang zu den wesentlich spannenderen Momenten, die in Kuba bzw. New York spielen.

(1) Beier/Seeßlen (Hrsg.): Alfred Hitchcock, Berlin 1999, S. 425 ff.. Vgl. auch: François Truffaut (in Zusammenarbeit mit Helen G. Scott): Truffaut / Hitchcock, München / Zürich 1999 (Diana-Verlag) (Originalausgabe: 1983), S. 281 ff.



Frenzy
(Frenzy)
Großbritannien 1972, 116 Minuten
Regie: Alfred Hitchcock
Drehbuch: Arthur L Bern (Romanvorlage), Anthony Shaffer
Musik: Ron Goodwin
Kamera: Leonard J. South, Gilbert Taylor
Schnitt: John Jympson
Spezialeffekte: Albert Whitlock
Darsteller: Jon Finch (Richard Blaney), Alec McCowen (Chefinspektor Oxford), Barry Foster (Robert Rusk), Billie Whitelaw (Hetty Porter), Anna Massey (Babs Milligan), Barbara Leigh-Hunt (Brenda Blaney), Bernard Cribbins (Felix Forsythe), Vivien Merchant (Mrs. Oxford), Michael Bates (Sergeant Spearman), Jean Marsh (Monica Barling), Clive Swift (Johnny Porter)

Der Krawattenmörder

Man kann sich lange darüber streiten, welches wohl der beste Hitchcock-Thriller sei. Ich will mich daran nicht beteiligen. Aber „Frenzy“ (zu deutsch: Wahnsinn, Raserei) gehört für mich zu den Meisterwerken des Thriller-Experten, vor allem wegen der genialen Mischung aus Thriller und Sarkasmus. Als Vorlage diente dem Meister der Roman „Goodbye Piccadilly, Farewell, Leicester Square“ von Artur La Bern.

Inhalt
Richard Blaney (Jon Finch) muss seine „Karriere“ als Barkeeper abrupt beenden: er wird rausgeschmissen. Der ehemalige Pilot bei der Royal Air Force hängt herum, ohne Job und mit wenig Zukunftsperspektiven. Etwa zur gleichen Zeit treibt eine Frauenleiche die Themse herunter. Der sog. Krawattenmörder, der auf dem Großmarkt arbeitende Gemüsehändler Robert Rusk (Barry Foster), hat ein neuerliches Opfer gefunden. Eben diesen Rusk kennt Blaney schon lange und bei ihm sucht er Hilfe und Arbeit.

Rusk aber hat Blaneys Ex-Frau Brenda (Barbara Leigh-Hunt) ermordet. Schnell gerät Blaney in Verdacht und muss sich mit seiner Freundin Babs (Anna Massey) verstecken. Doch auch Babs wird Opfer von Rusk, der Blaney bei sich aufnimmt, um ihn angeblich zu verstecken, in Wirklichkeit aber nur, um ihn Chef-Inspektor Oxford (Alex McCowen) als vermeintlichen Täter auszuliefern. Blaney wird zu lebenslanger Haft verurteilt, weiß jetzt aber, dass Rusk der Krawattenmörder ist – und bricht aus ...

Inszenierung
Obwohl Hitchcock von Anfang an keinen Zweifel darüber aufkommen lässt, wer hier der wahnsinnige Mörder ist, der sich ausschließlich Frauen als Opfer aussucht, glänzt der Film durch eine permanente Spannung und durch skurrilen Humor. Die Morde Rusks sind skrupellos, fast virtuos geplante Taten, in denen die Krawattennadel Rusks eine beinahe symbolische Bedeutung erlangt.

Doch Hitchcock bricht diese Virtuosität immer wieder mit einem Sarkasmus, wie man ihn selten in anderen Filmen wiederfindet. Als Rusk seine Krawattennadel verliert, während er eines seiner Opfer auf der Ladefläche eines Kleinlasters unter Kartoffeln verstaut, springt er im letzten Moment auf den Lkw, um die Nadel zu suchen. Das Gefährt schüttelt Rusk während der Fahrt hin und her; er hat Mühe, die Nadel zu suchen, die Kartoffeln kullern umeinander, die Hand der Toten ragt aus den Erdäpfeln hervor, als wolle sie das Beweisstück nicht mehr hergeben. Er muss ihr die Fingerknochen brechen, um der Nadel habhaft zu werden. Man sitzt da und staunt nur noch.

Auch die in den Film immer wieder eingestreuten Szenen, in denen Chefinspektor Oxford nach Hause kommt, wo ihm seine Frau (Vivien Merchant) die exquisitesten Speisen serviert – zum Beispiel Wachteln –, die er auf den Tod nicht ausstehen kann, zeugen von Hitchcocks Humor: Man könnte annehmen, Oxford habe sich die Arbeit als Inspektor ausgesucht, um möglichst wenig zu Hause sein zu müssen, und vor allem: Die fein säuberlich zubereiteten Speisen regen nicht nur den Appetit des Inspektors nicht an, sie könnten geradezu ein Mordmotiv abgeben. Auch als Zuschauer vergeht einem der Appetit. Zwischen der unausgesprochenen Front der Eheleute, von der Mrs. Oxford nichts ahnt, steht Oxfords Sergeant, der sich redlich bemüht, sich ebensowenig den Ekel vor den Nouvelle-Cuisine-Künsten anmerken zu lassen wie sein Chef. Beide sind froh, lieber wieder auf Mörderjagd gehen zu können, als essen zu müssen.

Die Morde sind ebenso skurril inszeniert. Als eines von Rusks Opfern mit weit aufgerissen Augen und heraushängender Zunge in die Kamera glotzt, so ist man hin und her gerissen zwischen Entsetzen und dem Wunsch, einfach nur zu lachen, obwohl es doch eigentlich nichts zu lachen gibt.

Der rothaarige Barry Foster spielt einen psychopathischen Mörder, dessen vorgetäuschte Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft, dessen Beliebtheit auf dem Großmarkt bei den anderen Händlern für den Zuschauer in scharfen Kontrast zu seiner Skrupellosigkeit gesetzt wird.

Fazit
Hitchcock spielt in „Frenzy“ mit dem Zuschauer. Sorgfältig und virtuos werden die Erwartungen des Publikums erfüllt und doch zugleich ins Makabre gehoben. Nach fast zwei Stunden ist man einerseits erleichtert, andererseits erheitert und hat drittens trotzdem das unangenehme Gefühl, vor der eigenen Wohnung könne eine Leiche mit Krawatte um den Hals zwischen den Mülltonnen liegen.



Familiengrab
(Family Plot)
USA 1976, 121 Minuten
Regie: Alfred Hitchcock
Drehbuch: Ernest Lehman, nach dem Roman „The Rainbird Pattern“ von Victor Canning
Musik: John Williams
Kamera: Leonard J. South
Schnitt: J. Terry Williams
Spezialeffekte: Albert Whitlock
Darsteller: Karen Black (Fran), Bruce Dern (George Lumley), Barbara Harris (Blanche Tyler), William Devane (Arthur Adamson), Ed Lauter (Joe Maloney), Cathleen Nesbitt (Julia Rainbird), Katherine Helmond (Mrs. Maloney), Warren J. Kemmerling (Grandison), Edith Atwater (Mrs. Clay), William Prince (Bischof), Nicholas Colasanto (Constantine), Marge Redmond (Vera Hannagan), John Lehne (Andy Bush), Charles Tyner (Wheeler), Alexander Lockwood (Parson)

Eine Parodie auf Suspense-Filme?

Hitchcocks letzter Film – farbig, so farbig, dass man schon sagen könnte, hier sei es ihm vor allem auch um den Einsatz von Farbe als dramaturgisches Mittel gegangen – ist in gewisser Weise eine Ausnahmeerscheinung. Ganz dem Zeitgeist der 70er Jahre verhaftet, auch teilweise in der Sprache, entspinnt der Meister hier eine Geschichte, in der nicht ein einzelner Mörder oder Gangster sein Unwesen treibt, sondern gleich zwei Paare mit allerdings ganz unterschiedlicher Mentalität und besonderen Charakteren aufeinander losgehen und dem Traum vom „Reichtum- ohne-allzu-große-Mühe“ nachjagen; streckenweise äußerst humorvoll legt Hitchcock hier besonderen Wert auf die detaillierte Zeichnung seiner Charaktere und lässt sie geradezu aufeinander prallen. Wiederum war es Freund Ernest Lehman, der das Drehbuch für Hitchcocks 53. und letzten Film schrieb, wie schon für „Der unsichtbare Dritte“.

Inhalt
Das Alter bringt es wohl oft mit sich, dass man sein Gewissen erleichtern will, wenn man denn etwas zu verbergen hat. So geht es auch der reichen, über 80 Jahre alten Julia Rainbird (Cathleen Nesbitt), die vor lange Zeit ihre längst verstorbene Schwester dazu gezwungen hatte, deren unehelichen Sohn zur Adoption frei zu geben, damit die Ehre der Familie nicht in den Schmutz gezogen wird. Da sie selbst nicht in der Lage ist, ihren Neffen ausfindig zu machen, damit dieser sie nach ihrem Tod beerben kann, beauftragt sie für satte 10.000 Dollar die junge Blanche Tyler (Barbara Harris) und ihren taxifahrenden Freund George Lumley (Bruce Dern), den verschollenen Neffen zu finden. Blanche und George spielen die Hilfsbedürftigen, sind aber letztlich nur hinter dem Geld der alten Lady her. Zudem hat Blanche einen Trumpf in der Hand: Sie kann hellsehen, behauptet sie jedenfalls, und zieht abergläubischen Menschen bei spiritistischen Sitzungen das Geld aus der Tasche.

So ziehen Blanche und ihr verhinderter Schauspieler George – der sich abwechselnd als Privatdetektiv und Anwalt ausgibt – los und stoßen auf den vornehmen, zumindest vornehm sich gebenden Juwelier Arthur Adamson (William Devane) und dessen Freundin Fran (Karen Black). Aber das nette Pärchen stellt sich als Gangster-Duo heraus, Spezialität: Kidnapping und Erpressung, Ziel: „Erwerb“ von Diamanten.

Dann spielt da noch das Grab des angeblich verstorbenen Erben eine Rolle. Das ist nämlich leer. Und als Blanche und George einen Bischof (William Prince) befragen wollen, der ihnen Auskunft über den Verbleib des Enkels geben könnte, wird der entführt ...

Inszenierung
Wie bei Hitchcock oft, ist die eigentliche Geschichte auch in „Family Plot“ recht simpel. Was er aber daraus macht, gleicht einem Feuerwerk an Humor und Suspense. „Family Plot“ ist ein recht mehrdeutiger Titel für die dargestellte Handlung. Das Grab des Neffen der alten Mrs. Rainbird, die beiden Paare, die hinter ihrem Geld her sind, der geheimnisvolle Tod der Pflegeltern von Arthur Adamson – all das konzentriert sich im Titel des Films. Plot bedeutet aber auch Handlung und Intrige: Familiengeschichte und Familienintrige.

Wie in kaum einem anderen Film treibt Hitchcock die Geschichte dadurch voran, dass er vier unterschiedliche Charakter aufeinander treffen lässt. Alle vier eint die Gier nach schnell verdientem, kriminell ergaunerten Geld. Während Blanche und George eher die kleinen, miesen, aber sympathischen Gauner sind, repräsentieren Arthur und Fran die gewieften Schurken:

Blanche – exzellent gespielt von Barbara Harris – ist naiv, hat einen leichten Knall, könnte man auch sagen, wirkt ab und zu psychotisch, und ihr Faible für spiritistische Meetings und Hellseherei hat – neben der Gier nach Geld – viel mit ihrer eigenen Prädestination zu tun.

George bildet sich ein, zu Höherem berufen zu sein, zum Schauspieler. Dass ihn keiner haben will, schreibt er nicht seiner eigenen Unfähigkeit zu, sondern natürlich der Dummheit anderer. George meckert herum, hat Angst, ist feige und behauptet natürlich, er sei das glatte Gegenteil von allem. Bruce Dern kann dieser Rolle darüber hinaus einiges an Komik abgewinnen.

Arthur ist der vornehme Gangster, der Egozentriker par excellence, der über Leichen geht, um an einen außergewöhnlichen Diamanten zu kommen. Er scheut nicht einmal davor zurück, einen Priester zu kidnappen. Doch wehe, es kommt ihm jemand ins Gehege, noch dazu zwei Versager wie Blanche und George, die ihm nicht ebenbürtig sind. William Devane war lange auf solche Rollen – zu Recht – spezialisiert (etwa in „Marathon Man“ (1976) mit Dustin Hoffman und Sir Laurence Olivier).

Fran ist ihm eine gute Partnerin, attraktiv, geheimnisvoll, verwandlungsfähig und zu allem bereit.

Aus der Konfrontation dieser vier ergeben sich etliche komische Szenen, und manchmal wird man den Eindruck nicht los, als wolle Hitchcock – sozusagen als Resümee seines Werkes – sich selbst auf den Arm nehmen. Das Grab, in dem angeblich ein Toter liegt ist leer. Der Suspense -Film ist nicht tot. Man muss ihn nur ausbuddeln, nein: finden, vielleicht neu erfinden, auf der Höhe der Zeit. Hitchcock findet ihn noch einmal, klar, mit verschrobenen Charakteren, Karikaturen von Gangstern und einer völlig unwahrscheinlichen, abstrusen Story. Ein selbstironischer Rückblick? Eine Parodie auf das Genre, an dem er so unglaublichen Anteil hatte? Eine Aufforderung an seine Nachfolger, den Suspense-Film weiterzuentwickeln? Vielleicht.

Wer siegt am Schluss des Films? Der dreiste Gangster, das unbeholfene, aber nicht dumme Gangsterpärchen oder etwa die Gerechtigkeit? Auf jeden Fall das Genre.

Fazit
Es gibt Hitchcock-Fans, die sein letztes Opus gar nicht mögen. Denn der Film ist in gewisser Weise auch ein riesiger und riesig inszenierter Nonsens. Ich finde, Hitchcock hat mit „Family Plot“ bewiesen, dass er auch aus trivialem Nonsens einen spannenden und komischen Thriller machen kann, der zudem in gewisser, sarkastischer Weise auch ein Erbe darstellt.


 

North by Northwest
Psycho
The Birds
Marnie
Torn Curtain
Topaz02
Frenzy
Familyplot