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Todesschlaf (1997) Insomnia - Schlaflos (2002)
Todesschlaf (Insomnia) Norwegen 1997, 97 Minuten Regie: Erik Skjoldbjærg
Drehbuch: Erik Skjoldbjærg, Nikolaj Frobenius Musik: Geir Jenssen Director of Photography: Erling Thurmann-Andersen Montage: Håkon Øverås Produktionsdesign: Eli Bø
Darsteller: Maria Mathiesen (Tanja Lorentzen), Stellan Skarsgård (Jonas Engström), Sverre Anker Ousdal (Erik Vik), Gisken Armand (Hilde Hagen), Kristian Figenschow (Arne Zakariassen), Thor Michael Aamodt (Tom Engen), Frode Rasmussen (Polizeichef), Bjørn Moan (Eilert), Maria Bonnevie (Ane), Marianne O. Ulrichsen (Frøya), Bjørn Floberg (Jon Holt)
Dekonstruktion eines Helden
Christopher Nolan übernahm in „Insomnia“ mit Al Pacino und Robin Williams in den Hauptrollen im wesentlichen, aber nicht in allen Punkten das Drehbuch von Erik Skjoldbjærg und Nikolaj Frobenius. Skjoldbjærg hatte „Insomnia“ – in Deutschland unter dem Titel „Todesschlaf“ – bereits 1997 in Szene gesetzt. So bietet sich ein Vergleich beider Filme an, deren unterschiedliche Inszenierung und Wirkung trotz überwiegend gleicher Handlung augenfällig sind.
Eine junge Frau, die 17jährige Tanja (Maria Mathiesen), wurde in einer Stadt im Norden Norwegens ermordet – dort, wo die Sonne im Sommer nie ganz untergeht. Zwei Kriminalbeamte aus Oslo werden abkommandiert, um der örtlichen Polizei bei der Aufklärung des Mordes zu helfen. Einer von ihnen ist der aus Schweden stammende Jonas Engström (Stellan Skarsgård, „Breaking The Waves“, 1996, R: Lars von Trier; „Good Will Hunting“, 1997, R: Gus van Sant), ein anerkannter Experte bei der Polizei, der sich allerdings in die Nesseln gesetzt hat, weil er intime Beziehungen zu einer wichtigen Zeugin in einem anderen Fall unterhalten hatte. Es wird intern gegen ihn ermittelt, Richtlinie: Engström ist nicht mehr in der Lage, als guter Polizist zu arbeiten.
Der Mörder Tanjas hatte ihren Körper penibel gereinigt und dann auf einer Müllkippe deponiert. Als man den Rucksack der Toten in einer Hütte findet, stellt Engström dem Mörder eine Falle. Aber die schnappt nicht zu. Der Mörder kann im Nebel entkommen und Engström erschießt aus Versehen seinen Kollegen aus Oslo, Erik Vik (Sverre Anker Ousdal).
Engström steht vor einer schwierigen Situation: Die interne Untersuchung im Nacken muss er jetzt sowohl den Mörder Tanjas finden, als auch gleichzeitig seine Täterschaft in bezug auf den Tod Viks verdunkeln. Bei seinen Ermittlungen stößt er auf den jungen Freund der Toten Eilert (Bjørn Moan), auf den Schriftsteller Bjørn Floberg (Jon Holt), der eine mysteriöse Beziehung zu Tanja hatte, und auf Tanjas Freundin Frøya (Marianne O. Ulrichsen).
Doch Engström bekommt noch mehr Probleme. Er kann nicht schlafen, die permanente Helligkeit macht ihm zu schaffen. Und: Seine Kollegin Ane (Maria Bonnevie) scheint die einzige bei der Polizei zu sein, die nicht alles glaubt, was Engström vorgibt zu sein ...
Wesentlich schärfer, konturenreicher als Nolan erzeugt Skjoldbjærg in seiner Adaption des Stoffes eine Atmosphäre der Verzweiflung, des Mysteriösen, der Kälte und der Distanz. Graue, braune und vor allem grüne Farbtöne beherrschen den Film; die eiskalte Umgebung, der Nebel und bewölkte Tage korrespondieren mit der Mentalität und Emotionalität der Charaktere. Die oft langen Einstellungen versetzen uns in die Lage eines Mannes, der scheinbar bewusst daran gehindert wird, zu schlafen, zur Ruhe zu kommen, der Wahrheit zu entkommen. Gegen die Sonne, die nicht untergeht, die sich in einem übertragenen Sinne weigert, das Licht aus der Geschichte zu nehmen, ist Engström machtlos. „Todesschlaf“ hat nicht die (zumindest stellenweise) Wärme, die Nolan seiner Geschichte verpasste. Während bei Nolan eine Identifizierung mit dem dortigen Detective Dormer (Al Pacino) möglich, ja gewünscht ist – trotz Pacinos ebenso zweideutig gespielten Charakter –, „versperrt“ Skjoldbjærg diesen Zugang zu Engström fast völlig.
Man hat Interesse an dieser Figur, aber Sympathie für Engström wohl kaum. „Todesschlaf“ wie Nolans „Insomnia“ sind keine Thriller im landläufigen Sinn des Wortes. Beide Adaptionen sind psychologische Studien über einen ambivalenten Mann, seine Schuld und seinen Umgang mit dieser Schuld: aufdecken und zudecken, aufklären und verbergen, ermitteln und verstecken – beide Filme beschäftigen sich mit diesen Themen. Beide erzählen, kommen ohne rasante Verfolgungsjagden, explosive special effects usw. aus.
Doch bei Skjoldbjærg ist die Geschichte in bestimmter Hinsicht glaubwürdiger, weil näher am Leben, an der Wirklichkeit als bei Nolan, sozusagen einen Kick „näher dran“. Es wird deutlicher, dass Engström sich als jemand versteht, der das Recht hat, sich außerhalb der Regeln zu bewegen, die für alle anderen gelten. Anfangs ist er gelassen, cool, arrogant. Er zieht für sich aus dem Flirt mit einer Frau an der Rezeption des Hotels, in dem er wohnt, mehr, als dahinter steckt. Er versucht wiederum, eine Zeugin zu verführen, den Teenager Frøya, der er zwischen die Beine fasst. Skarsgård spielt diesen ambivalenten, schuldbeladenen, „gepanzerten“ Mann, in einer Weise, die Identifizierung fast vollständig ausschließt. Wenn Ane, die einzige Person, die hinter die Kulissen schaut, Engström in die Augen blickt, kann er es nicht ertragen. Denn ihr Blick verheißt Wahrheit, Entschleierung. Engström ist nicht in der Lage, seinen Mitmenschen Vertrauen entgegen zu bringen. Hätte er Vertrauen und vor allem Ur-Vertrauen, hätte er ihnen erzählt, dass er und nicht der Mörder Tanjas Vik aus Versehen getötet hat.
Skjoldbjærg vermeidet es tunlichst, Engström zu einer Art Übermensch zu stilisieren. Er dekonstruiert ihn. Am Schluss ist Engström psychisch wie physisch am Boden. Al Pacinos Dormer ist gegen Ende von „Insomnia“ ebenfalls geschwächt, doch zugleich auch befreit. Der Mörder ist besiegt, Dormer kommt zur Ruhe. Das ist eben auch oder gerade Hollywood. Wir sympathisieren mit Dormer, trotz seiner moral lacks, gegenüber Engström ist dies fast unmöglich. „Insomnia“ hinterlässt trotz all der Kälte einen wärmenden Ausweg, „Todesschlaf“ nicht. Engström ist am Ende, Dormer bleibt Hoffnung.
Hollywood kann eine realistische Geschichte erzählen und zugleich Nähe zu seinen Charakteren erzeugen. Es kann aber auch – und das ist hier entscheidend – eine trügerische Komponente in diese Nähe einbauen: die Aufrechterhaltung des Helden, des wenn auch tragischen, moralisch zweifelhaften Helden, mit dem Sympathie möglich und dadurch ein – mal trügerischer, mal zumindest vorstellbarer – Ausweg bleibt. Skjoldbjærgs Adaption ist die Dekonstruktion eines Helden, oder eher: eines Mannes, der sich für einen außergewöhnlichen, über allen anderen stehenden Helden hält, also die Dekonstruktion eines Bildes durch Visualisierung.
Insomnia – Schlaflos (Insomnia) USA 2002, 118 Minuten Regie: Christopher Nolan
Drehbuch: Hillary Seitz, Nikolaj Frobenius, Erik Skjoldbærg Musik: David Julyan Director of Photography: Wally Pfister Montage: Dody Dorn Produktionsdesign: Nathan Crowley
Darsteller: Al Pacino (Detective Will Dormer), Robin Williams (Walter Finch), Hilary Swank (Detective Ellie Burr), Maura Tierny (Rachel Clement), Martin Donovan (Hap Eckhart), Nicky Katt (Fred Duggar), Paul Dooley (Chief Charles Nyback), Jonathan Jackson (Randy Stetz), Katherine Isabelle (Tanya Francke), Larry Holden (Farrell), Jay Brazeau (Francis), Lorne Cardinal (Rich)
Albtraum der Schuld
„Memento“ (2000) war einer der besten Filme der letzten Jahre. 2002 hatte Regisseur Christopher Nolan sein nächstes Opus auf die Leinwand gebannt, das sicherlich an die außergewöhnlichen Qualitäten seines Vorgängers nicht herankommt, aber dennoch eine beeindruckende und spannende Studie über zwei Männer darstellt, die durch ein Verbrechen zusammengeführt werden. Al Pacino und der erst nach gut einer Stunde auftretende Robin Williams liefern sich einen Zweikampf auf Leben und Tod.
Will Dormer (Al Pacino) hat eine Karriere hinter sich. Zumindest unter den Cops des Landes ist der Detective eine lebende Legende. Allerdings wird gegen ihn und seinen Kollegen Hap Eckhart (Martin Donovan) seit einiger eine interne Untersuchung wegen Fehlverhaltens in verschiedenen Fällen, die beide bearbeitet hatten, geführt. Ihr Einsatz in Nightmute in Alaska, zu dem sie abkommandiert werden, ist nicht ganz freiwillig. Der Dormer von früher bekannte örtliche Polizeichef Nyback (Paul Dooley) zerreißt die schriftliche Anweisung der L.A.P.D.-Untersuchungskommission, einen ausführlichen Bericht über die Arbeit von Dormer und Eckhart anzufertigen.
In Nightmute werden die beiden von der jungen Kollegin Ellie Burr (Hilary Swank) abgeholt, mit der zusammen sie u.a. einen Mordfall lösen sollen. Eine 17jährige wurde tot auf einer Müllkippe gefunden. Dormer will die Leiche sehen und stellt fest, dass die Hämatome an ihrem Körper älteren Datums sind. Sie ist schon einige Zeit vor dem Mord geschlagen worden. Gestorben ist sie an heftigen Schlägen auf den Kopf. Der Täter hat ihr die Haare gewaschen und ihre Nägel geschnitten. „Er hat völlig leidenschaftslos, ohne Panik gehandelt. Und er wusste genau, wonach wir suchen würden. Wahrscheinlich war dies sein erster Mord. Aber er wird es wieder tun.“ Der Mörder hat offenbar keine weiteren Spuren hinterlassen.
Sorgen macht Dormer, dass sein Kollege Eckhart offensichtlich gegenüber der Untersuchungskommission Zugeständnisse machen will, was bestimmte Verfehlungen im Dienst angeht. Dormer ist wütend und enttäuscht, als er am Abend im Hotel mit Eckhart darüber redet. Er schiebt alles auf den Leiter der Kommission, der angeblich nur Karriere am Schreibtisch machen wolle.
Die Vernehmung des Freundes der Toten Randy (Jonathan Jackson) bringt nicht viel Neues. Der Junge hat zwar für die Tatzeit kein Alibi. Doch Dormer glaubt nicht an seine Schuld. Er weiß allerdings, dass Randy seine Freundin Kay des öfteren geschlagen hat. Und auf sanften Druck erzählt Randy, dass Kay irgendeinen Bekannten gehabt haben müsse, über dessen Identität sie sich aber ausgeschwiegen habe. Da wird der Rucksack der Ermordeten in einer Fischerhütte gefunden. Dormer, der den Täter für intelligent hält, lässt den Rucksack wieder in die Hütte bringen, weil er annimmt, dass der Mörder ihn holen wird, um keine Spuren zu hinterlassen. Im Nebel warten die Polizisten versteckt hinter Felsen. Tatsächlich nähert sich eine Gestalt der Hütte. Als ein Beamter versehentlich Lärm macht, kann er entkommen.
Bei der Verfolgungsjagd schießt der Täter dem Polizisten Farrell (Larry Holden) ins Bein. Als Dormer dem Mann nachjagt, sieht er im Nebel plötzlich eine Gestalt – und schießt. Er trifft Eckhart, der kurz darauf stirbt. Dormer überlegt nicht lange. Er muss es so darstellen, als wenn der Verdächtige seinen Kollegen erschossen hat. Würde seine Täterschaft bekannt, sähe es schlecht für ihn aus angesichts der Untersuchungen in Los Angeles. Der Täter hat seine eigene Waffe fallen gelassen, die Dormer nun an sich nimmt. Er muss es allerdings schaffen, die Kugel im Körper seines Kollegen gegen eine aus der Waffe des Täters zu tauschen.
Das dürfte für Dormer kein Problem sein. Aber dann bekommt er einen Anruf des Mörders (Robin Williams), der Dormer erzählt, dass er gesehen habe, wie der Eckhart erschossen habe. Er bietet ihm einen Handel an: Er vergisst, was er gesehen hat, und Dormer vergisst, dass er der Mörder ist ...
Das Nolansche Remake eines norwegischen Films gleichen Titels von Erik Skjoldbærg (1997, 97 Minuten) ist ein gelungenes, spannendes Psychogramm der völlig unterschiedlichen Situationen, aus der zwei Männer kommen, die durch den Mord zusammengeführt werden. Die fast schon klaustrophobische Atmosphäre des Films wird entscheidend verstärkt durch die Schlaflosigkeit, unter der Dormer zu leiden hat. Mit jedem Tag, den er in Alaska verbringt, wird er müder, bis fast zur völligen Erschöpfung. Er bekommt sogar Halluzinationen. Das liegt zum einen daran, dass zu dieser Jahreszeit in Alaska die Sonne nicht untergeht. Jede Nacht versucht Dormer sein Fenster im Hotel gegen Licht abzudichten, aber es wird nie ganz dunkel. Zum anderen kommt er in Alaska schon als jemand an, der hoffnungslos in seine eigene Vergangenheit verstrickt ist. Letztlich weiß er, dass die Untersuchung in L.A. irgend etwas ergeben wird, was man ihm ankreiden kann – und da sind einige Dinge, die man ihm nachweisen kann, wenn man nur genau sucht. Zudem hat er Angst, dass sein Kollege Eckhart mit der Kommission tatsächlich einen Deal aushandeln könnte, der auch ihm schaden würde. Wie lange wird er das durchhalten?
Als er seinen Kollegen erschießt, ist nicht klar, ob dies nur Zufall ist, ein Unglücksfall, Fahrlässigkeit oder ob Dormer absichtlich geschossen hat. Nolan und Wally Pfister lassen auch für den Zuschauer die Antwort darauf im wahrsten Sinn des Wortes im Nebel stecken. Al Pacino spielt einen äußerlich starken Polizisten, dem die Erfahrung in allem, was er tut, anzumerken ist. (Seine junge Kollegin Burr bewundert diesen Mann.) Aber im Laufe der Ermittlungen tritt die Verzweiflung immer deutlicher zutage, weil seine physische Stärke behände abnimmt. Sie bietet ihm nicht mehr den nötigen Schutz.
Sein Kontrapunkt und „Partner“ zugleich ist der Schriftsteller Finch (Robin Williams), der sich selbst für unschuldig hält. Finch versucht, Dormer in einen fast schon philosophischen Diskurs über Schuld und Unschuld zu verstricken. Er habe Kay genauso wenig töten wollen wie Dormer Eckhart. Kay habe ihn provoziert; als er ihr seine Gefühle gestanden habe, habe sie gelacht. So sei es dann „eben passiert“. Was unterscheide dieses Ereignis vom Tod Eckharts? Da stehen sie sich nun gegenüber: der Cop mit etlichen schwarzen Flecken auf seiner ansonsten weißen Weste und der psychopathische Finch, der hochintelligente Mörder, der alle Finessen anwendet, um Dormer zum Deal zu zwingen.
Nolans Film lebt von der Jagd, die Dormer auf Finch und der auf Dormer macht – und von seinen beiden Hauptdarstellerin, die exzellent aufspielen. Dormer hat keine Rückzugsmöglichkeit. Selbst nachts nicht, wenn er nicht schlafen kann. Er scheint völlig verloren. Finch kämpft – intelligent, skrupellos und ohne jegliches Gefühl dafür, was er getan hat. Dormer muss ermitteln und gleichzeitig vertuschen. In der Handlung scheint sich zu wiederholen, was man ihm in L.A. bezüglich zahlreicher anderer Fälle an Unsauberkeiten und Verfehlungen vorwirft – so als ob er, ohne wirklich Einfluss nehmen zu können, das Spiel der Schuld noch einmal durchlaufen muss.
Das, was für Dormer ein – fantastisch fotografierter – Albtraum im Halbschlaf in einer nur scheinbar friedlichen Atmosphäre ist, ist für den Zuschauer ein Grund wachzubleiben. Nolan sind einige Kunststückchen eingefallen, die die bedrückende Stimmung der Szenerie noch steigern. Al Pacino begeistert: Er kann überzeugend einen Mann darstellen in seinem Versuch, seine Fähigkeiten als Cop, seine körperliche Präsenz, gegen die zunehmende Bedrängnis einzusetzen. Robin Williams spielt einen eiskalten Psychopathen, dessen Nähe einem wirklich Frösteln verschaffen kann. Was will man mehr? Ein Film, der an „Memento“ vielleicht nicht heranreicht, aber gekonnt inszeniert ist und sich über anderes in diesem Kinojahr weit heraushebt.
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