Eine spannende philosophische Reise
"Gibt es ohne den Menschen Hoffnung für den Gorilla? Gibt es ohne den Gorilla Hoffnung für den Menschen?"
Ein Knochen fliegt in die Luft. Genauer, er wird geworfen. In Zeitlupe sehen wir, wie er sich drehend in die Lüfte schwingt - und aus ihm, wie im Flug, ein Raumschiff wird - Jahrtausende später. Diese berühmte Szene aus Kubricks "2001: A Space Odyssey" (1968) veranschaulicht zweierlei: Zum einen die Erfindung des Werkzeugs und der Waffe und damit die Möglichkeit der bewussten Veränderung der Natur durch den sich entwickelnden Menschen, das Freiwerden der Hand und die Entwicklung von dem, was wir Bewusstsein nennen, und damit die Möglichkeit der Reflexion. Kubrick stellt die Entdeckung von Werkzeug und Waffe hier auf eine Ebene. Das bewusste Eingreifen in die Natur und das Töten werden im selben Moment entdeckt - der Übergang zur Zivilisation. Zum anderen verdeutlicht die Szene, der Wechsel vom Knochen zum Raumschiff, die tief pessimistische Sicht Kubricks auf die Geschichte der Menschheit. Nothing has changed. Das Raumschiff ist der moderne Knochen, aber immer noch nichts anderes als Werkzeug und Waffe.
Man kann Daniel Quinns Roman "Ismael" als eine Art Kommentar zu Kubricks Film sehen, wobei "Ismael" andererseits eben nicht nur das ist, sondern vor allem ein beeindruckender, ja in Wortwahl und Erzählung auf eine absolut überzeugende Weise "einfacher" philosophischer Diskurs über unsere Zivilisation, ihre Genese und Folgen. Ich warne übrigens vor der flachen und mit dem Buch Quinns in keiner Weise korrelierenden Verfilmung von John Turteltaub "Instinkt" von 1999 mit Anthony Hopkins und Cuba Gooding Jr. in den Hauptrollen - ein Film, der mit Zivilisationskritik nicht, aber auch gar nichts zu tun hat.
Daniel Quinn (*1935), ein ehemaliger Trappistenmönch, ist seit 1975 Schriftsteller. Neben "Ismael" veröffentlichte er u.a.: "Ismaels Geheimnis", "Beyond Civilization: Humanity's Next Great Adventure" sowie "The Story of B". Quinn gilt als radikaler Zivilisationskritiker, ohne dass er allerdings illusionäre Vorstellungen wie "Zurück zur Natur" o.ä. vertreten würde. Sein "Ismael" (erschienen 1991, dt. 1992 bei Bertelsmann, als Taschenbuch bei Goldmann 1994, Nr. 42376, 250 Seiten, € 7,95 bei amazon, ISBN-13: 978-3442423767 ) erhielt 1991 den Turner Tomorrow Fellowship Award, dotiert mit 500.000 Dollar, den wohl höchst dotierten Literaturpreis der USA.
Die Ausgangssituation von Ismael ist denkbar einfach: Ein von der 68er-Bewegung enttäuschter Schriftsteller liest eines Tages in einer Zeitung eine Anzeige: "Lehrer sucht Schüler mit ernsthaftem Verlangen, die Welt zu retten. Persönliche Bewerbung erwünscht." Zunächst schmeißt er die Zeitung vor Wut in den Mülleimer, vor Wut, weil er 15 Jahre nach 68 noch immer über die Illusionen der damaligen Generation und ihre Träger enttäuscht ist, darüber, wie wenig sie erreicht hatten. Und er vermutet hinter der Anzeige einen jener noch immer auf der ganzen Welt herum geisternden Guru, "Weltverbesserer", Propheten oder ähnliches, bei dem es nicht lohnt, überhaupt aufzutauchen, da die Enttäuschung, die er eh schon mit sich herum trägt, nach einem solchen Besuch nur noch größer sein würde.
Und trotz alledem: Er geht hin - und ist nicht nur erstaunt, sondern fasst es kaum, wem er dort als vermeintlichem Lehrer begegnet: einem ausgewachsenen, alten Gorilla hinter einer Glasscheibe mit Namen Ismael.
Allein schon diese Ausgangssituation des Romans - so unrealistisch sie einem erscheinen mag - ist äußerst spannend bereits zu Anfang des ersten Kapitels. Ein Mensch trifft auf einen Gorilla, der ihm - quasi per Gedankenübertragung - seine Geschichte erzählt, dabei aber nicht stehen bleibt, sondern seinen menschlichen Schüler nach und nach dazu bringt, einiges über die Entwicklung der Zivilisation zu erfahren, was ihm bislang als selbstverständlich oder unbekannt, jedenfalls nicht als höchst problematisch erschien.
Für den weiteren Gang der Geschichte ist nun wichtig, dass Quinn den Dialog zwischen Ismael und seinem Schüler durchweg mittels der "Sokratischen Methode" organisiert. Dabei zielt der Lehrer zunächst darauf ab, dass der Schüler sich selbst erkennt. Erst wenn er weiß, was er ist, weiß er auch, was er soll. In einem zweiten Schritt gelangt Sokrates zum Ergebnis der Selbsterkenntnis, nämlich zum Bewusstsein des "eigentlichen" Nichtwissens. Dieses Nichtwissen ist wiederum Ausgangspunkt und Beweggrund zur Suche nach dem wahren Wissen. Nur durch die Gesprächsführung eines "Lehrers" und den Dialog könne man diese Schritte realisieren.
Anders formuliert besteht das Ziel dieser "Sokratischen Methode" darin, dem "Schüler" die Motivation für sein Handeln bewusst zu machen. Er soll wissen, nach welchen Regeln er handelt, soll sein Handeln begreifen, die Folgen seines Handelns kennen, um es möglicherweise zu korrigieren. Sokrates bestreitet also nicht, dass jemand nichts weiß, sondern er hinterfragt das, was jemand zu wissen glaubt.
Genauso Ismael. Er bestreitet nicht, dass sein Schüler (oder die Menschen insgesamt) nichts wissen, aber er hinterfragt dieses Wissen. Dabei ist besonders entscheidend, dass große Teile dieses Wissens - vor allem im philosophischen Bereich, d.h. im Kontext der Überzeugungen über unsere Zivilisation - uns als so selbstverständlich erscheinen, dass wir dieses Wissen überhaupt nicht mehr hinterfragen. Jahrhundertelang galt es als Selbstverständlichkeit, dass die Erde eine Scheibe und der Mittelpunkt der Welt war - zum Beispiel.
Was Quinn nun im folgenden - und es handelt sich bis zum Schluss des Romans eben um diesen Dialog zwischen Lehrer und Schüler - erzählt, hat aber keineswegs etwas mit einem schwierig zu verfolgenden akademisch-philosophischen Diskurs zu tun - beileibe nicht, im Gegenteil: Quinn (bzw. Ismael) vermag es, durch eine bestechend "einfache", aber eben doch nicht simple Art uns in einen Dialog über vermeintliche Selbstverständlichkeiten, Irrtümer usw. zu bannen, der für mich so spannend war, dass ich das Buch im Abstand von wenigen Jahren bislang dreimal gelesen habe. Man muss sich nur darauf einlassen, dann kommt die Spannung von selbst.
Zunächst erzählt Ismael seinem Schüler seine eigene Geschichte: wie er nach Tötung seiner Eltern aus Afrika weggeschafft wurde, in einen Zoo, dann als Attraktion in einen Zirkus, und wie er schließlich von einem jüdischen Amerikaner, dessen seine gesamte Familie in Auschwitz ermordet worden war, in dessen Haus aufgenommen worden war, einem Mann namens Sokolov, der in seiner ganzen Hilflosigkeit dem Holocaust gegenüber an Ismael etwas gut machen wollte, was nicht mehr gut zu machen war. Er gab ihm Bücher zu lesen und kommunizierte mit ihm in einer Art Gedankenübertragung - bis seine Tochter Ismael nach dem Tod Sokolovs den Gorilla hierher "setzte". Und hier, hinter der Glasscheibe, hatte er bislang vier Schüler. Doch Ismael, so sagt er, sei an allen gescheitert, nicht wegen der Schüler, sondern wegen seines eigenen Unwissens oder besser: Nicht-Genug-Wissens über die Menschheit und die Zivilisation.
Ismael stellt seinem neuen Schüler die entscheidende Frage, das Thema ihres Dialogs: "Ihr seid die Gefangenen einer Zivilisation, die euch mehr oder weniger zwingt, die Welt zu zerstören, um zu leben." (S. 29).
Ismael lockt aus seinem Schüler die Fragestellungen heraus, die ihn dazu befähigen soll, die Grundannahmen der menschlichen Kulturgeschichte, die fast jeder Mensch meist unbewusst völlig verinnerlicht hat, zu finden und ihre Richtigkeit zu überprüfen - auch anhand der Folgen, die aus ihr abzuleiten sind. Dies beginnt, wie unser Schüler bereits bald feststellen muss, bereits bei der Wiedergabe der Geschichte, wie die Erde und das Leben entstanden seien. Der Schüler erzählt diese Geschichte, und er merkt nicht, dass in einem kleinen Halbsatz, den er wiedergibt, genau die erste kritische Grundannahme enthalten ist, die den Mythos dieser Geschichte offenkundig werden lässt. "… und zuletzt kam der Mensch."
Nach und nach wird Ismael nun seinem Schüler verdeutlichen, wie auf Basis dieses unscheinbaren Halbsatzes ein Schöpfungsmythos entstand, der zwei wesentliche Faktoren beinhaltet: Erstens, dass der Mensch die Krone der Schöpfung sei, also das Ziel aller Entwicklung, und zweitens, dass der Mensch dazu berufen sei, sich die Erde untertan zu machen.
Ismael geht vor wie Sokrates. Er gibt keine Antworten, nur Hinweise, sein Schüler soll die Antworten und neuen Fragen selbst erkennen. Und er schickt ihn mit einigem "Gepäck" auf diese Reise. Statt die Menschheit in "Zivilisierte" und "Primitive" zu unterscheiden - eine wertende und hierarchische Unterscheidung -, einigt er sich mit seinem Schüler auf eine andere, neutrale Wortwahl: Nehmer und Lasser. Zu den Nehmern gehört die (heutige) Mehrheit der Menschen, die dem Schöpfungsmythos wie selbstverständlich folgen wie ihre Vorverfahren seit der Zeit, in der der Ackerbau (die Geschichte von Kain und Abel in der Bibel) zur Scheidung von Nehmern und Lassern führte. Die Lasser, dazu gehören heute nur noch vereinzelte Stämme, früher einmal die Indianer und andere, die im Einklang mit ihrer Umwelt leb(t)en, ohne irgendeinen Anspruch auf Beherrschung der Erde usw. zu stellen, die nur so viel produzierten, wie sie für ihr Leben benötigten, die nicht auf grenzenlose Bevölkerungsvermehrung aus waren usw.
Im folgenden Dialog bis zum Schluss des Buches konkretisieren beide in einem Lernprozess - nicht nur der Schüler lernt, auch Ismael - die grundlegenden Differenzen dieser Prozesse, dieser Lebensweisen und ihrer Folgen für den gesamten Planeten.
Aber nicht nur dies. Denn Ismael zeigt seinem Schüler auch in einem philosophischen Diskurs der besonderen Art, wie die Nehmer sich, nachdem sie vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten (Adam und Eva), nicht nur zu Eigentümern und Herrschern der Erde machten, sondern auch die Entscheidung über "Gut" und "Böse" an sich rissen - mit all jenen Folgen von Krieg, Vernichtung, Verwüstung, Schrecken und nicht zuletzt Zerstörung der natürlichen Ressourcen, wie wir sie heute kennen.
Dabei ist auch Ismael klar, dass der Weg aus dieser Bedrohung heraus durch die "Nehmer" nicht in einem "Zurück zur Natur" der Vergangenheit bestehen kann, dass es auch nicht genügt, den heutigen Menschen zu sagen, sie sollten den Müll trennen, den CO2-Ausstoß verringern und keine Plastiktüten verwenden. Einer Geschichte wie dem Schöpfungsmythos der Nehmer könne man nicht mit allein negativen Forderungen begegnen. Menschen bräuchten eine andere, eine alternative Geschichte mit dem Inhalt, wie man leben sollte. Und in dieser Geschichte sei Entwicklung und Fortschritt nicht etwa ausgeschlossen, aber auf einer anderen Grundlage möglich. Diese Grundlage sei nicht Verzicht, sondern ein anderes Denken, das vor allem den Menschen als einen Teil des Lebens, aber nicht als wichtigsten und herrschenden Teil betrachtet.
Alle, die Quinn nun vorwerfen sollten, er wolle "die Zivilisation" abschaffen und in ein angeblich ärmliches Leben des tagtäglichen Kampf ums Dasein in der Wildnis zurück, haben dieses Buch, absichtlich oder nicht, falsch verstanden. Spätestens die Klimakatastrophe - die heute so erbärmlich beschönigend oft nur noch "Klimawandel" tituliert wird (welch friedliche Floskel!) - hat ja enorm viele Menschen zum Nachdenken über eine Zivilisation gebracht, für die das quantitative Wachstum allein selig machender Faktor und zugleich Ziel der gesamten Menschheit sein soll. Angebliche Sachzwänge, ja - wie im Neoliberalismus - quasi naturwüchsige Eigenschaften einer ebenso für naturwüchsig deklarierten Wirtschaftsweise (die doch nur den furchtbaren Höhepunkt einer Nehmer-Kultur im Sinne von Ismael darstellt) zwingen uns geradezu dazu, immer so weiterzumachen. Ismael vergleicht diese Denkweise bildlich mit einem Mann, der aus einem Wolkenkratzer springt, weil er glaubt, wie ein Vogel fliegen zu können, ohne die Gesetze der Aerodynamik zu kennen, und dabei jeden Meter denkt: Seht, es geht doch, der Mensch kann fliegen, und alle Quertreiber und Nörgler haben doch unrecht. Und einen Meter weiter denkt er das gleiche, noch fester überzeugt, dass der Mensch fliegen kann, und jeden Meter brennt sich tiefer in sein Bewusstsein, der Mensch könne fliegen wie ein Vogel - bis …
Bei jeder Seite dieses Buches kamen mir selbst immer wieder Beispiele in den Sinn, wie festgefahren die "Kultur der Nehmer", wie Ismael das nennt, in unseren Köpfen sitzt. Selbst viele derjenigen, die in Armut und Elend leben, denken als Alternative nicht etwas grundlegend anderes, sondern: wie kann ich am Nehmen teilhaben, um diesem Elend zu entkommen? Dass dieses Elend aber Folge dieser Zivilisation selbst ist, kommt kaum einem in den Sinn. Kaum einer denkt über eine Wirtschaftsweise nach, die der Erde nur das entnimmt, was ökologisch sinnvoll ist, oder es ihr auf andere Weise zurück gibt. Dabei wissen viele Experten, Wissenschaftler, aber auch Menschen, die sich praktisch mit solchen Dingen beschäftigen, längst, welche Kreisläufe möglich und nötig wären, um den Planeten, und damit ja letztlich auch zumindest einen Großteil menschlichen Lebens nicht völlig zu zerstören.
In Europa wird darüber geklagt, dass die Geburtenziffern rückläufig seien, aber es wird nicht gesehen oder soll nicht gesehen werden, dass dies letztendlich etwas Gutes ist. Wozu sollen irgendwann 10 Milliarden Menschen auf der Erde leben? Wie sollen die ernährt werden? Welchen Sinn soll das haben? Aber Geburtenkontrolle wird von den einen immer noch als Eingriff in ein abstruses Selbstbestimmungsrecht deklariert, während andere (wie in China) glauben, sie mit staatlicher Gewalt und allen damit verbundenen Folgen mehr oder weniger brutal durchsetzen zu können. Und: was wenn tatsächlich in nicht allzu ferner Zukunft durch den "Klimawandel" Millionen und Abermillionen Menschen von den Küsten der Erdteile wegziehen müssen, weil der Wasserspiegel steigt? Welche Folgen würde eine solche "Völkerwanderung" nie da gewesenen Ausmaßes haben?
Doch die Propheten des Kapitalismus schreien unverdrossen weiter: "Wachstum! Wachstum! Wachstum! Heiliges Wachstum! Nur Wachstum wird Euch erlösen!" Die Götter haben die Religion verloren an die Heilsprediger des Wachstums. Und zu diesen neuen Göttern zählten auch diejenigen, die im Osten Europas oder heute noch in China einer im Grunde gleichen Wachstumsideologie des Marxismus-Leninismus frönten und frönen.
Ein bewegendes, aufwühlendes und spannendes Buch, selbst wenn man nicht alles teilen mag, worauf Quinn vielleicht hinaus will. Ein Buch, das zum Nachdenken anregt, vor allem über Dinge, die uns so selbstverständlich erscheinen, das wir sie nicht mehr hinterfragen.
Daniel Quinn: Ismael. Roman. Goldmann Taschenbuch Nr. 42376, München 1994, 250 Seiten.
© Ulrich Behrens 2009 (16. Juli 2009)
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