Jeder für sich und Gott gegen alle
Deutschland 1974, 110 Minuten
Regie: Werner Herzog

Drehbuch: Werner Herzog, Jakob Wassermann
Musik: Pachelbel
Director of Photography: Jörg Schmidt-Reitwein
Montage: Beate Mainka-Jellinghaus
Produktionsdesign: Henning von Gierke

Darsteller: Bruno S. (Kaspar Hauser), Walter Ladengast (Professor Daumer), Brigitte Mira (Käthe), Willy Semmelrogge (Zirkusdirektor), Michael Kröcher (Lord Stanhope), Hans Musäus (Unbekannter), Volker Prechtel (Hiltel), Alfred Edel (Logik-Professor), Florian Fricke (Florian), Volker Elis Pilgrim (Pastor), Enno Patalas (Pastor)

In die Welt gestürzt ...

„Sie sagten, er käme von Nürnberg her
und er spräche kein Wort.
Auf dem Marktplatz standen sie um ihn her
und begafften ihn dort.
Die einen raunten. ‚Er ist ein Tier’,
Die andern fragten: ‚Was will der hier?’
‚Und dass er sich zum Teufel scher’,
so jagt ihn doch fort!’” (1)

„... dass mein Erscheinen auf dieser Welt
ein harter Sturz gewesen ist.”

Lange bleibt der Blick auf ein Loch gerichtet – eine Art Kellerloch, das für einen Menschen zu klein, aber eben gerade groß genug ist, um darin zu vegetieren. Ein Mann sitzt auf dem Boden, in leicht zerrissene Kleider gehüllt, die Beine ausgestreckt. Man hört fast nichts. Der Mann redet nicht. Er scheint sich in keiner Weise zu äußern – weder durch Worte, noch durch Gesten. Ein anderer Mann mit einem schwarzen Umhang kommt in das Loch, bringt ihm das Schreiben bei, kleidet ihn an, zieht ihm Schuhe über die dreckigen Füße, nimmt ihn Huckepack und verlässt mit ihm das Loch.

Schon diese erste lange Einstellung – ohne Musik, ohne viele Worte – macht deutlich, wohin Werner Herzog den Betrachter lenken will – nicht auf die über Jahrzehnte immer wieder gestellten Fragen über die Herkunft des Unbekannten, der 1828 in Nürnberg auftauchte, nicht auf die Frage, wer diesen Unbekannten gefangen hielt und wer ihn später ermordete. Die Kriminalgeschichte, zu der der wohl „bekannteste Unbekannte” der Geschichte gehörte, Kaspar Hauser, ist für Herzog fast gänzlich uninteressant. Das hier in Auszügen wiedergegebene Lied Reinhard Meys bildet insoweit einen Kontrast zu der Herzogschen Variante der Geschichte.

Der gesamte Film konzentriert sich auf die Person Kaspars und damit auch auf dessen Darsteller Bruno S., einen, der sein Leben lang gestrandet war, als Dreijähriger schon geschlagen wurde, und später von einem Heim zum nächsten, von einer Psychiatrie zur anderen gereicht wurde. Bruno S., der seinen vollen Namen nie öffentlich nennen wollte (und der auch in Herzogs späterem Film „Stroszek” 1977 die Hauptrolle neben Eva Mattes spielen sollte), ist der wohl bekannteste und begabteste Schauspieler unter den nicht ausgebildeten Mimen, die das Land je gesehen hat. Wie stark sich Bruno S. mit der Figur des Kaspar identifizierte, wird deutlich, wenn Herzog erzählt, er habe nach Drehschluss nicht einmal das Kostüm seiner Rolle ausgezogen, sondern darin sogar geschlafen.

„Sein Haar in Strähnen und wirre,
sein Gang war gebeugt.
‚Kein Zweifel, dieser Irre
ward vom Teufel gezeugt.’
Der Pfarrer reichte ihm einen Krug
voll Milch, er sog in einem Zug.
‚Er trinkt nicht vom Geschirre,
den hat die Wölfin gesäugt!’” (1)

Wie in einem stillen Traum wandert der in Schwarz gekleidete Mann mit Kaspar auf dem Rücken durch eine Wald- und Wiesenlandschaft (gedreht in und in der Nähe von Dinkelsbühl) – und es ist vor allem dieses eine Bild – Kaspar liegt im Gras, der Mann, der ihn trug, sitzt mit dem Rücken zu ihm und schaut in die Ferne, in der sich der Blick vom Berg in eine Tiefebene öffnet –, das das Gewaltige der Geschichte eröffnet, einen Moment, in dem Herzog die Musik in den Film einführt. Die Ruhe, aber zugleich auch die Ungewissheit und die Angst, die von solchen Bildern ausgehen, sind bestimmend für den ganzen Film.

Wenn der schwarze Mann Kaspar auf den Marktplatz in Nürnberg stellt, Kaspar einen Brief in der Hand hält und stundenlang dort steht, bis er entdeckt wird, und wir ihn beobachten, wie er dort wie angewurzelt steht und wartet – aber auf was? –, so kommt uns unweigerlich das Bild von dem Hineingeworfensein in die Welt in den Sinn. Schon hier spielt es fast keine Rolle mehr, ob auf dem Platz ein erwachsener Mensch oder ein Kleinkind abgestellt wurde. Es ist dieses Sinnbildhafte, das Kaspar später einmal beschreibt als den Sturz in die Welt. Nichts hat er bislang gesehen außer den Mauern seines Loches. Und nun steht er hier – ohne Mauern, im Freien, in einer Welt, die er nicht kennt, mit der er nicht viel anfangen kann. Er meint später zu dem Mann, der ihn bei sich aufnimmt, der Raum im Turm sei viel größer als der Turm selbst. Die Grenzen haben sich in seiner Wahrnehmung verschoben. Durch den jahrelangen Aufenthalt in einem engen Raum wird diese – für uns eingeschränkte, aber für Kaspar eben einzige – Welt zur einzigen, zum Maßstab aller Dinge – während das spätere Erkennen dessen, was da draußen ist, relativ auf ihn wirkt. Kaspar und das Loch, später noch einmal eine Gefängniszelle, in die man ihn vorerst steckt, sind fast eins geworden. Wie kann es etwas größeres geben? Wie sollte alles andere nicht lediglich gemessen werden an dieser Welt. Die Relationen haben sich für ihn verkehrt.

Die Einwohner finden ihn, ein Rittmeister liest den Brief, der nur mehr Unklarheit über seine Herkunft bringt, findet bei Kaspar in Papier eingewickeltes Gold, einen Rosenkranz, ein paar Seiten und eine Bibel. Und ein kleiner Schreiber – Clemens Scheitz in einer Paraderolle – notiert säuberlich und akkurat, was die anderen beobachten. Es ist die Neugier, die die Einwohner dieser biedermeierlichen Stadt treibt – eine Atmosphäre, die von den Machern des Films durch entsprechende zusätzliche Utensilien noch unterstrichen wurde (ein Storch wurde implementiert, Hühner unter einer Bank und einiges mehr). Sie sind es, die den Unbekannten, der auf einen Zettel „Kaspar Hauser” schreibt, zu einer extravaganten Ausnahmeerscheinung ihres reglementierten Lebens werden lassen. Einer, der nicht oder kaum spricht, einer, der das Essen, das man ihm reicht, wieder ausspeit, einer, der keine Auskunft geben kann oder will. Und einer, der, wenn er denn später etwas sagt, so ganz anders denkt als sie selbst.

Er wird herumgereicht, und alle meinen es wirklich gut mit ihm, auch damit, ihn dem Zirkus des von Willy Semmelrogge so exzellent gespielten Zirkusdirektors als Attraktion zu leihen – neben einem „zahmen” Bären, einem vermeintlichen Indio, einem ebenso vermeintlichen jungen Mozart und einem König, der geschrumpft sei, weil die Königreiche geschrumpft seien.

Kaspar wächst schließlich im Hause des wohlmeinenden Professor Daumer (Walter Ladengast) und seiner Haushälterin Käthe (Brigitte Mira) auf, lernt sprechen, schreiben und so einiges andere – und bleibt doch ein anderer, einer, der einen eigenen Blick auf die nun vor ihm liegende Welt behält. Selbst die örtlichen Pfarrer (Enno Patalas, Volker Elis Pilgrim) können ihn vom Glauben nicht überzeugen. Und auch die Frage eines eigens heran gereisten Professors für Logik (Alfred Edel) quittiert Kaspar Hauser mit einer ungewöhnlichen und von dem Professor barsch zurückgewiesenen Antwort: Mit welcher Frage könne er herausbekommen, ob eine Person aus dem Dorf der Lügner oder dem der Wahrheit komme, fragt ihn der Professor, und erwartet eine wissenschaftlich einwandfreie Antwort (die eine zweifache Negation enthält). Doch Kaspar hat eine andere Antwort: Er würde die Person fragen, ob sie ein Laubfrosch sei.

„Mein Vater brachte ihn ins Haus,
‚heiße Kaspar.’
Meine Mutter wusch ihm die Kleider aus
und schnitt ihm das Haar.
Sprechen lehrte mein Vater ihn,
Lesen und schreiben, und es schien,
Was man ihn lehrte, sog er in sich auf,
wie gierig er war!” (1)

„Jeder für sich und Gott gegen alle” lässt die Grenzen zwischen der Normalität – hier dem biedermeierlichen Reglement – und dem Fremden – hier der „Findling” – nicht verschwimmen. Aber Herzog katapultiert die Figur des Kaspar Hauser nicht in das außergewöhnliche Extra der Sensation. Selbst der Zirkusauftritt ist nur eine – wenn auch filmisch und darstellerisch wunderbare – kurze Episode, die nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass Herzog den Kaspar Hauser zu einem macht, der wie jeder andere, nur auf etwas andere Weise, in die Welt geworfen wurde und nun zusehen muss, wie er damit fertig wird. Die (mal mehr, mal weniger) elastische Spannung zwischen Integration (in das biedermeierliche Nürnberg) und dem Bestehen auf dem eigenen Sinn, die Welt zu betrachten, macht Kaspar Hauser in dieser Darstellung zu einem (wenn schon) „gewöhnlichen Außergewöhnlichen”, der sich so gut wie nicht mehr unterscheidet von jedem Neugeborenen, das die Welt erblickt. Nur, dass er vorgeformt ist durch das jahrelange Leben in einem Loch.

Es ist genau dieses Heranführen der Figur Hausers an uns, die das Spannungsverhältnis zwischen Integration und Eigensinn in uns selbst zum Vorschein geraten lässt. Dabei wird zudem deutlich, wie wenig Hauser sich auf Dinge einlassen will und einlässt, die ihm nicht nur fremd sind, sondern auch in seinem Sinne unnötig. So verlässt er die Kirche, weil er im Gesang der Gemeinde nur Krach hört, und in der Predigt des Pfarrers nichts anderes. Er kann damit nichts anfangen. Er schreibt lieber seine Biografie (dieses Aufschreiben seines Lebens, meinen einige, die sich mit dem wirklichen Hauser beschäftigt haben, könnte auch der Grund für den Mord an Kaspar gewesen sein), fragt, warum es eigentlich „Frauenzimmer” gebe (eine für uns merkwürdige, für ihn aber durchaus berechtigte Frage) und bewegt sich so zwischen Erkennen, Neugier und vor allem Herausbildung seiner Persönlichkeit, die nicht alles glaubt, was man ihm als selbstverständlich oder gar natürlich vorgesetzt wird. Ganz anders seine Umgebung, für die Hauser in vielen Punkten in das Reglement der Gemeinde noch lange nicht genug eingebunden ist. Auch der eigens angereiste Lord Stanhope (Michael Kröcher), der Kaspar zu einer Sensation in England machen wollte, ist später entsetzt über seinen „Schützling”, als dieser einfach in einer Ecke sitzt und – strickt.

Der Mord an Kaspar Hauser erscheint – abseits der historischen Figur, aber nicht unbedingt fern einer möglichen Erklärung, an der Herzog aber wie gesagt nicht interessiert war – unter Berücksichtigung dieser Aspekte eher wie der Schlussstrich unter den Versuch, in einer Welt zu bestehen, die zu arg reglementiert ist und dem Eigensinn des einzelnen zu wenig Raum bietet. Wenn die Ärzte am Schluss Kaspars Hirn untersuchen, so glauben sie vor allem, dort die Antwort auf den Eigensinn des Ermordeten zu finden – vergeblich. Herzog stellt aber mit dem Film darüber hinaus die Frage, ob unsere Kriterien zur Beurteilung von Sozialisation überhaupt stimmig sind. Durch die Übertragung dieser Frage nicht auf ein Kind, sondern einen Erwachsenen, der lange Zeit nur in einem Kellerloch aufgewachsen war, wird dies besonders deutlich und tragisch zugleich. Hauser selbst legt dies nahe, wenn er auf dem Totenbett seinen Traum erzählt, eine Geschichte, von der er nur den Anfang kennt: Er sieht Menschen in einer Karawane durch die Wüste ziehen, angeführt von einem Blinden. Kaspar Hauser, „ein noch unbearbeitetes Stück Mensch” (Herzog) hat uns am Ende viel zu sagen.

In Nebenrollen sind übrigens u.a. Florian Fricke von der Musikgruppe Popol Vuh, der Skispringer Walter Steiner (über den Herzog einen eigenen Film gedreht hat) und der Filmemacher Herbert Achternbusch zu sehen. Für das Szenenbild ist Henning von Gierke zu loben, der u.a. eine zeitgenössische Stube akkurat (aber ohne Übertreibung in den Details) nachbaute. Schließlich ist die exzellente Kameraarbeit von Jörg Schmidt-Reitwein zu erwähnen.

„Wir suchten und wir fanden ihn
auf dem Pfad bei dem Feld.
Der Neuschnee wehte über ihn,
sein Gesicht war entstellt,
Die Augen angstvoll aufgerissen,
Sein Hemd war blutig und zerrissen.
Erstochen hatten sie ihn,
dort am Üttinger Feld!” (1)

© Bilder: Kinowelt Home Entertainment.
Screenshots von der DVD.

(1) Musik und Text: Reinhard Mey
Aus: Ich wollte wie Orpheus singen. Chansons von Reinhard Mey.
Bonn – Bad Godesberg (Voggenreiter), 1970, S. 19.