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Kira (En Kærlighedhistorie) Dänemark 2001, 93 Minuten Regie: Ole Christian Madsen
Drehbuch: Ole Christian Madsen, Mogens Rukov Musik: Øyvind Ougaard, César Berti Kamera: Jørgen Johansson Montage: Søren B. Ebbe
Darsteller: Stine Stengade (Kira), Lars Mikkelsen (Mads), Sven Wollter (Kiras Vater), Peacheslatrice Petersen (Kay), Camilla Bendix (Charlotte), Lotte Bergstrøm (Michelle), Thomas W. Gabrielsson (Gustav), Ronnie Hiort Lorenzen (Mikkel), Oliver Appelt Nielsen (Julius), Kalus Pagh (Mads Chef)
„Ein bisschen verrückt ...“
Ein Zertifikat strahlt einem entgegen. Der offiziell 31. Dogma-Film mit der zertifizierten Nummer 21 erzählt eine Geschichte über Liebe und (Selbst-)Zerstörung – was auch sonst? Mit einer im Vergleich zu anderen Dogmas nur gering „geschüttelten“ Handkamera versucht Ole Christian Madsen seine beiden Hauptfiguren Kira und Mads – meist hautnah – einzufangen, festzuhalten. Ein großer Vorteil spielt dabei die Handkamera, denn diesem Einfangen, Festsetzen, Festnageln entgleiten die Figuren immer wieder. Die Kamera verfolgt sie, kann sie jedoch nur in wenigen Momenten erreichen. Die gewollte Nähe zu den Personen, zu ihren Gesichtern, ihren Bewegungen, ihren Reaktionen gleicht dem Versuch eines Raumschiffs, sich einem Fixstern zu nähern, wohlweislich, ihm nie ganz nahe sein zu können, wenn es nicht verglühen soll. Würde die Kamera in Mads und Kiras Seele hineinschauen können, wäre sie, sprich: wären wir verloren.
„En Kærlighedhistorie“ heißt „Eine Liebesgeschichte“. Der deutsche Titel fokussiert die Geschichte auf Kira, nicht ganz zu Unrecht, und doch geht es um beide, Kira (Stine Stengade) und Mads (Lars Mikkelsen), verheiratet, zwei kleine Söhne. Er ist Architekt, viel beschäftigt, seine Gedanken kreisen um eine gesicherte Existenz mit allem, was dazu gehört. Kira ist vor allem Mutter und Hausfrau. Finanzielle Probleme hat die Familie nicht.
Mads hat in der Zeit, als Kira sich in der Psychiatrie aufhalten muss, ein Verhältnis mit Kiras Schwester. Als Kira entlassen wird, beendet er diese Liaison. Mads liebt Kira, verlangt nach ihrer Nähe, hat eine Feier mit Freunden und Bekannten anlässlich ihrer Rückkehr organisiert. Auch sie liebt ihren Mann, kann ihm aber nicht nahe sein, was sie ihm auch sagt. Zu sehr ist sie mit sich selbst beschäftigt, mit einem Leid, das uns zunächst verborgen bleibt. „Vielleicht war ich einfach zu traurig“, erzählt sie denen, die fragen. Die Feier wird ihr zu viel, sie hält es nicht aus, geht auf ihr Zimmer. Kira reißt aus, flüchtet sich in Vergnügungen, um sich abzulenken, lässt sich von einem fremden Mann mit nach Malmö nehmen, verbringt mit ihm eine Nacht und ruft am anderen Morgen, erschreckt über ihr eigenes Tun, nur mit einem Federbett umhüllt in einer Telefonzelle vor dem Hochhaus Mads an, der sie abholen soll. Mads scheint hilflos, wirft ihr den Satz zu: „Eine ordentliche Frau macht das unbemerkt“, wohl wie er mit Kiras Schwester.
Im Schwimmbad tollt Kira mit ihren Söhnen im Planschbecken herum, so heftig, dass die anderen Kinder Angst bekommen und deren Eltern sie aus dem Wasser holen. Die Bademeister zerren Kira mit Gewalt aus dem Wasser, Kira schreit, als ob die beiden Männer ihr etwas antun wollten. Die haben kein Verständnis, sehen nicht, was mit Kira los ist, wie auch? Wiederum ist es Mads, der sie abholt.
Trotzdem gibt Mads nicht auf, lässt Kira ein Geschäftsessen in einem luxuriösen Hotel organisieren, auf dem ein Gast sie hinter vorgehaltener Hand fragt, ob sie verrückt ist. „Nur ein bisschen“, antwortet sie. Der Gast erzählt kurz von seinem Sohn, der „ganz“ verrückt sei, daher habe er erkannt, was mit ihr los sei. Kira will tanzen, nichts hören von den Business-Gesprächen der Männer beim Kaffee. Mads Chef erkennt, dass Kira in der Lage wäre, die ganze Zeremonie zum Platzen zu bringen. Er tanzt mit ihr und sagte ihr in ruhigem Ton, aber bestimmt, sie solle sich zurückziehen, um nicht alles zu zerstören.
Bis zum Schluss erfährt niemand, warum sich Kira „entgrenzt“, die Regeln des „bürgerlichen“ Lebens nicht einhält, in das sie doch zurück will. Kiras Verhältnis zu ihrem Vater könnte der Schlüssel zu ihrem Verhalten sein. Der hatte Kira und die Mutter früh verlassen, „sich selbst gewählt“, wie er Kira zu erklären versucht, weil er es bei seiner Frau nicht mehr aushielt, bei der es nur noch um Gefühle, Gefühle, Gefühle gegangen sei, die schon von allen Wänden trieften. Er habe leben und nicht leiden wollen. Kira, das verlorene Kind, das verstoßene Kind?
Die Erklärung für ihr Verhalten liegt jedoch woanders – in einem existenziellen Ereignis, das jeder Frau einen Schlag versetzt, von dem sie sich nur schwer erholen kann, ein Verlustereignis.
Madsen zeichnet diese Frau in intensiven Bildern zwischen Regel und Verstoß. Kira kämpft gegen ihre eigenen Verstöße. Als sie morgens bei dem fremden Mann, mit dem sie geschlafen hat, aufwacht, glaubt sie sich in einem Alptraum, ist völlig erschrocken. Ihre eigenen Wechselbäder zwischen einem „normalen“ Leben und „abnormalem“ Verhalten bewegen sich hart an der Grenze zur Selbstzerstörung. Sie merkt dies in der konkreten Situation meist gar nicht. Als sie mit ihren kleinen Söhnen plantscht, sind alle anderen für sie Luft, sie nimmt sie nicht wahr. Sie versucht, sich völlig auf das Spiel zu konzentrieren, Nähe zu den beiden Jungen herzustellen. Auch mit Mads scheitern diese Versuche. Sie schläft mit ihm, genauer: sie versucht, mit ihm zu schlafen – und flüchtet. Sie will seine Nähe und stößt ihn zurück. Sie ist entgrenzt. Ihr Gewissen durchsiebt von den Löchern des chronischen Leids. Noch ist sie nicht der Psychopath, der zwischen Recht und Unrecht, erlaubt und verboten ihres eigenen Gewissens nicht mehr unterscheiden kann. Aber sie bewegt sich nahe an dieser Grenze.
Mads will sie zurückholen. Instinktiv sind seine Reaktionen zwischen vordergründigem Unverständnis einerseits und einer tieferen emotionalen Berührtheit, die ihn dazu veranlasst, bei ihr zu bleiben. „Willst du mich nicht lieber verlassen?“ fragt ihn Kira. Mads liebt sie. Er liebt sie bedingungslos, auch wenn es ihm schwer fällt, er sie betrügt, ausgerechnet mit ihrer Schwester. Doch auch dies ist für Kira wie Mads unwichtig. Darunter leidet nur eine: Kiras Schwester.
Die „fremden Betten“ sind für beide aus einer unterschiedlichen Position heraus Ausdruck der entgrenzenden Situation, der Hilflosigkeit, der nicht weiter erklärbaren emotionalen Verzweiflung. Es wäre nicht ganz zutreffend, dass – wie in einigen Filmkritiken mit negativem Unterton zu lesen war – Mads die „bürgerliche Normalität“ repräsentiere, während Kiras Verhalten vor allem „Protestverhalten“ sei. Es geht hier um eine Liebesgeschichte, um die Folgen eines Scheiterns, das niemand wirklich verhindern konnte, um die Frage, ob eine Rückkehr trotzdem möglich ist, nicht „einfach“ in die bürgerliche Existenz, sondern in ein eigenes, selbstbestimmtes Leben, das nicht mehr durch ein tiefsitzendes Leid gehindert und behindert wird.
Madsen zeigt diese Geschichte in wunderschönen Bildern. Allerdings gibt es einige Übertreibungen, die die Figur der Kira allzu krass mit kindlichem Verhalten in eins setzt. Etwa wenn sie und Mads auf dem Bett anfangen zu hüpfen, wirkt dies eher wie eine allzu gewollte Verdeutlichung des Erzählten, die überhaupt nicht nötig wäre. In ein paar Szenen gerät so das Leid zu arg in den Geruch des für das Publikum inszenierten Selbstmitleids.
Die Schlusssequenz des Films gehört zu den schönsten Liebesszenen, die ich kenne. Kira und Mads, schon angetrunken, aber dennoch so nüchtern wie wohl selten in ihrem Leben, tanzen, zunächst verborgen unter ihren Mänteln und einem Stück Papiertischdecke, dann liegen sie aufeinander – alles in dem Hotel nach dem Geschäftsessen –, stehen auf, eng umschlungen, Mads nimmt Kira hoch, sie streckt ihre Beine an seinem Körper vorbei, und sie tanzen. Kiras Schwester und Vater sind anwesend. Der Vater ahnt, was hier passiert. Da lieben sich zwei Menschen, wie sie sich nur lieben können. Kiras Schwester weiß es ebenfalls und weint. Denn sie weiß, dass es keine Hoffnung für sie mit Mads gibt.
Madsen – der u.a. für das dänische Fernsehen die sechs Stunden dauernde Serie „The Spider“ drehte – stellt mit „Kira“ einen Film vor, der eine sehr persönliche Geschichte erzählt, die zugleich jedoch über das individuelle Schicksal hinausweist. Der Film ist unprätentiös, stellt Handlung und Charaktere über die Mittel, auch des Dogmafilms, und verzichtet auf Effekthascherei.
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