|
Der Tiger von New York (Killer’s Kiss) USA 1955, 67 Minuten Regie: Stanley Kubrick
Drehbuch: Stanley Kubrick, Howard Sackler Musik: Gerald Fried Director of Photography: Stanley Kubrick Montage: Stanley Kubrick
Darsteller: Jamie Smith (Davy Gordon), Frank Silvera (Vincent Rapallo), Irene Kane (Gloria Price), Jerry Jarret (Albert, Boxmanager), Mika Dana (Gangster), Felice Orlandi (Gangster), Ruth Sobotka (Iris, Ballerina)
Dschungel der Großstadt
„There are no postcard shots in this picture. I wanted to film the smell, the feel and color of the city.” (Stanley Kubrick)
„Killer’s Kiss” ist eine besonders eigenwilliges Beispiel für einen film noir, in dem Kubrick bereits einige der Elemente seiner spezifischen Art und Weise, Filme zu drehen, offenbarte. Der Film entstand in unmittelbarer Nähe der damaligen Wohnung Kubricks in Greenwich Village. Zu sehen sind Penn Station, der Broadway, Times Square, der Garment District und einige andere Lokalitäten im Herzen New Yorks. Der damals 26jährige Kubrick selbst filmte und schnitt die Low-Budget-Produktion (75.000 Dollar), die eine kalte, dunkle, von Neonlicht, Gewalt und Einsamkeit beherrschte Großstadt zeigt, in der scheinbar der Zufall eine Geschichte ins Rollen bringt, die wiederum nur Gewalt und Tod zu bringen scheint.
Die Geschichte selbst scheint ebenfalls simpel und entwickelt sich in gerade einmal 67 Minuten. Der wenig erfolgreiche Boxer Davy (Jamie Smith) verliert gegen einen jüngeren Kollegen und entschließt sich, New York zu verlassen und zu seinem Onkel nach Seattle zu ziehen. Das einzige, was ihn noch halten könnte, ist eine Frau, die Davy von seinem Fenster aus beobachtet und die ihn fesselt. Gloria Price (Irene Kane) ist jung, blond und schön. Sie ist Tänzerin in einem der zahlreichen Lokale, das dem alternden Gangster Rapallo (Frank Silvera) gehört. Rapallo meint, auch Gloria gehöre ihm und ist rasend vor Eifersucht, wenn sie mit einem der jüngeren Männer tanzt. Als er sie eines Tages bedrängt und Gloria schreit, weil sie von Rapallo nichts mehr wissen will, kommt ihr Davy zu Hilfe. Gloria erzählt Davy, wie sie zu ihrem Job gekommen ist, von ihrer Schwester Iris (Ruth Sobotka), die sich wegen des Todes ihres Vater umgebracht hatte, und Davy bietet ihr an, sie nach Seattle mitzunehmen.
Als Rapallo davon erfährt, dass Gloria ihn verlassen will, hetzt er zwei seiner Gangster auf sie und ihren Geliebten. Wiederum der Zufall will es, dass ein anderer statt Davy dran glauben muss, den Rapallos Leute für den Geliebten Glorias halten. Davy selbst bekommt es mit der Polizei zu tun, weil die ihn für den Mörder halten. Gleichzeitig versucht er Gloria zu finden, die von Rapallo entführt wurde. Es beginnt eine Hetzjagd durch die Straßen der Stadt.
Kubrick filmte mit einer Handkamera in den Straßen von New York, im Boxring – diese Bilder gehören zu den schönsten des Films und erinnern an einen späteren Film Scorseses („Raging Bull”) –, in dunklen und gefährlichen Hinterhöfen, in herunter gekommenen, fast menschenleeren Straßen, in einem Tanzlokal und in der Schlussszene in einer Halle, in der Dutzende von Schaufensterpuppen aufbewahrt werden. Während der Film anfangs wie eine Aneinanderreihung von filmischen Skizzen wirkt – Davy beim Boxen, in seiner Wohnung, in der Umkleidekabine, nachdenklich, fast depressiv –, entwickelt sich nach einer Viertelstunde eine unglaubliche Dynamik, die sich bis zum Schluss hin ständig steigert. Die Verfolgungsjagd gehört für mich zu den schönsten und gelungensten Beispielen eines Showdown, obwohl oder gerade weil sie mit minimalen Mitteln gedreht wurde.
Der Zweikampf zwischen Davy und Rapallo zwischen den Schaufensterpuppen steht dabei schon für die in späteren Filmen zur Vollendung geführte spezifische Symbolik Kubricks, hier bezüglich Sex und Gewalt. Für eine Traumsequenz benutzte Kubrick Negativbilder, die die Straßen von New York zeigen und alptraumhaft angelegt sind. Aus dem Traum erwacht Davy durch den Schrei Glorias. Auch hier wieder der Zusammenhang von Sex und Gewalt. Die Personen wirken einerseits stilisiert – Rapallo ist ein Bilderbuchgangster, Gloria eine kühle Bilderbuchblonde, Davy das Abziehbild eines deprimierten Loosers –, andererseits aber wiederum auf überzeugende Weise authentisch, nämlich als Verlorene in einer Großstadt, die sich nur durch Gewalt dem völligen Untergang entziehen können. Alle suchen in anderen Personen nur einen Ausweg: Davy glaubt, eine Beziehung zu Gloria könnte ihn aus seinem Tief befreien. Gloria glaubt, Davy könne sie aus der Abhängigkeit der Stadt und Rapallos herausholen. Rapallo glaubt, nur durch Gewalt und Zwang könne er in der Stadt überleben und seine Wünsche erfüllen.
Auch in den mehrfach vorkommenden statischen Bildern zeigt Kubrick bereits seine Vorliebe fürs Detail, ja seine penible Sorge darum, dass in diesen Bildern „alles stimmig” sein muss – etwa in der Szene, in der Davy Gloria von seiner Wohnung aus beobachtet. Auch als er mit seinem Onkel telefoniert, sieht man Gloria auf der anderen Seite des Blocks, dann allerdings in einem Spiegel. Kubrick zeigt seine Figuren durch Fenster, Türen, Gänge, Treppenaufgänge – sie wirken wie gerahmt, um ihre Grenzen und die Begrenztheit ihres Lebens zu zeigen. Später wird man u.a. in „The Shining”, „2001: A Space Odyssee”, „A Clockwork Orange” und „Barry Lyndon” viele dieser Stilmittel zur Reife ausgeprägt wiederfinden.
Dass der Film mit einem Happyend schließt, liegt kaum in der Logik der Geschichte, sondern hat seinen Grund wohl eher darin, dass die Produktionsfirmen solches zu jener Zeit erwarteten (United Artists kaufte den Film damals von Kubrick). Der „richtige” Schluss der im Rückblick von Davy selbst erzählten Geschichte wäre es vielleicht gewesen, dass der erfolglose Boxer allein in den Zug nach Seattle eingestiegen wäre. Trotzdem kündet „Killer’s Kiss”, dem man den äußerst dämlichen deutschen Titel „Der Tiger von New York” verpasste, von den großen Kubrick-Filmen, die schon bald folgen sollten.
Übrigens spielte Kubricks damalige Frau Ruth Sobotka in dem Film die Schwester Glorias, die Tänzerin Iris.
Die Rechnung ging nicht auf (The Killing) USA 1956, 80 Minuten Regie: Stanley Kubrick
Drehbuch: Stanley Kubrick, Jim Thompson, nach dem Roman „Clean Break“ von Lionel White Musik: Gerald Fried Director of Photography: Lucien Ballard Montage: Betty Steinberg Spezialeffekte: Dave Koehler
Darsteller: Sterling Hayden (Johnny Clay), Coleen Gray (Fay), Vince Edwards (Val Cannon), Jay C. Flippen (Marvin Unger), Marie Windsor (Sherry Peatty), Ted de Corsia (Randy Kennan), Elisha Cook Jr. (George Peatty), Joe Sawyer (Mike O’Reilly), James Edwards (Parkwächter), Jay Adler (Leo), Timothy Carey (Nikki Arcane), Joe Turkel (Tiny), Kola Kwariani (Maurice Oboukhoff), Tito Vuolo (Joe), Dorothy Adams (Ruthie O’Reilly)
Individualität oder Mittelmäßigkeit?
Außergewöhnliches geschah in „The Killing“. Als einer der ersten Regisseure setzte Kubrick in diesem Gangsterfilm von 1956 permanent Rückblenden ein und zeigte die Geschichte aus den unterschiedlichen Perspektiven der einzelnen Personen. Die Handlung – Vorbereitung und Durchführung eines Raubes der Wetteinnahmen der Pferderennbahn Bay Meadows Race Track in San Francisco – wurde dadurch (einmalig zu dieser Zeit) in ihrer Linearität durchbrochen. Ein Erzähler kommentiert – gleich einem Polizeibericht – mit Angabe der Uhrzeit den jeweiligen Wechsel der Perspektive. Heutzutage ist diese Technik selbstverständlich geworden, 1956 musste Kubrick zunächst seine Produktionsfirma (United Artists) und den Agenten Sterling Haydens von dieser ungewöhnlichen überzeugen, weil man befürchtete, das Publikum könne dadurch verwirrt und der Film ein Misserfolg werden.
Fünf Jahre saß Johnny Clay (Sterling Hayden) im Gefängnis. Nun plant er seinen großen und letzten Coup. In den Wettbüros der Pferderennbahn in San Francisco lagern zwei Millionen Dollar. Mit seiner Freundin Fay (Coleen Gray) will er nach erfolgreichem Abschluss des bis in alle Einzelheiten geplanten Raubes per Flugzeug das Weite suchen. Ihm zur Seite stehen der verschuldete und korrupte Polizist Randy Kennan (Ted de Corsia), der auf der Rennbahn arbeitende Barkeeper Mike O’Reilly (Joe Sawyer), der seine kranke Frau (Dorothy Adams) pflegen muss, Clays alter und väterlicher Freund Marvin Unger (Jay C. Flippen), der die Finger von der Flasche nicht lassen kann, und der Angestellte eines Wettbüros auf der Rennbahn George Peatty (Elisha Cook Jr.), dessen Frau Sherry (Marie Windsor) sich von der Ehe mit ihm eigentlich Geld versprochen hatte.
Clay muss die anderen überzeugen, dass noch zwei weitere Männer für den Raub eingespannt werden müssen, ohne dass sie von dem Coup selbst und den anderen erfahren sollen. Er heuert für 5.000 Dollar den Schachspieler und Ex-Ringer Maurice (Kola Kwariani) an, der zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Nähe des Wettbüros eine Schlägerei mit den Aufsehern anfangen soll. Zudem benötigt Clay den Scharfschützen Nikki (Timothy Carey), der von einem Parkplatz aus zu einer vereinbarten Zeit für 2.500 Dollar eines der favorisierten Pferde erschießen soll. Warum sie das tun sollen, sagt ihnen Clay nicht.
Alles scheint perfekt geplant. George allerdings plaudert. Er erzählt seiner Frau, in einigen Tagen viel Geld zu haben. Und Sherry hat keine große Mühe, aus ihm herauszubekommen, was er und die anderen vor haben. Sie erzählt die Story ihrem Geliebten Val (Vince Edwards). Beide sind sich einig, dass man sich nicht mit Krümeln abgeben wolle, wenn man den ganzen Kuchen haben könne. Ihr Beschluss ist gefasst: Sobald die Gang das Geld gestohlen hat, wird man sich bedienen ...
Wie der englische und deutsche Titel schon andeuten, geht der Raub der Wetteinnahmen schief. Wie das allerdings geschieht, ist völlig offen. Denn nicht nur die Tatsache, dass die hintertriebene Frau des Wettbüroangestellten ihrem heimlichen Liebhaber von der Sache erzählt, trägt zum Desaster bei. Kubrick schildert einerseits die genauen Details eines – für sich genommen – perfekten Planes für den Raub, andererseits lässt er unvorhersehbare Ereignisse in die Handlung förmlich hineinplatzen. Dass Val irgendwann einmal mit der Knarre auftaucht, um für sich und Sherry die zwei Millionen Dollar zu kassieren, ist vorhersehbar, wenn auch nicht für die Gang, so für den Zuschauer. Was in diesem Moment dann passiert, allerdings nicht. Hinzu kommen die „Fehler“, die alle Gangmitglieder selbst begehen – einschließlich Clay.
Kubrick konstruiert den Fortgang der Handlung wie ein Schachspiel, in dem eine Figur nach der anderen umfällt. Am Ende – das ist im wahrsten Sinn des Wortes der Witz bei der Sache – ist es ein kläffendes Hündchen, das sozusagen den letzten der Gang Schachmatt setzt und zum absoluten Misserfolg des Unternehmens beiträgt.
Kubrick ist in „The Killing“ weit davon entfernt zu moralisieren. Er steht weder auf der Seite seiner Figuren, noch argumentiert er ethisch gegen sie. Er zeigt sie. Die Tatsache, dass man von Anfang weiß, dass das Unternehmen scheitern wird, hält Kubrick nicht davon ab, in der Zuspitzung auf den Raub beim Publikum die Hoffnung zu nähren, es könne doch irgendwie noch gut gehen, und sei es nur für einen aus der Gang. Hat Clay nicht – abseits aller Fragen nach Recht und Unrecht – nach fünf Jahren Gefängnis und in der Hoffnung auf ein Leben mit Fay eine gewisse Berechtigung, sich mit dem Geld auf und davon zu machen? Schließlich schadet er doch letztlich niemandem; die Wetteinnahmen sind sicher versichert ... Es entbehrt nicht einer guten Portion Tragikomik, wenn Kubrick genau dieses Fünkchen klammheimlicher Hoffnung am Ende durch ein ordinäres Hündchen über alle Maßen enttäuscht.
In „The Killing“ ist am Anfang klar, dass alles schief geht, dann nährt Kubrick Erwartungen und zum Schluss zerstört er sie vollends. Der Tod tut ein übriges.
Dabei handelt es sich bei den Figuren um relativ normale Durchschnittsbürger, Klein- und Kleinstkriminelle, Zufallskriminelle, Gelegenheitsdiebe und – bei Peatty – um einen erbärmlichen, miesen kleinen Angestellten eines Wettbüros, der seiner ebenso erbärmlichen, hintertriebenen Frau Sherry hörig ist, die ein falsches Spiel treibt. Peatty (pity = bedauern, bemitleiden?) ist ein bemitleidenswerter Mensch. Aber immerhin riskiert er einiges, um seiner Frau, die ihn nicht liebt und mit einem anderen hintergeht, das zu geben, was er selbst nicht in dem Maße braucht: viel Geld. „You’ve a big dollar sign where others have a heart“, sagt Peatty. Und in dieser Aussage liegt ein zentrales Moment des Films. Die Gangmitglieder sind nämlich durch die Bank weg – trotz ihrer kleinen oder größeren Schwächen – Leute, denen gegenüber man eine gewisse Sympathie nicht empfinden muss, selbst Peatty.
In einer Szene sagt der Ex-Ringer Maurice zu Clay, als der ihn wegen des Schlägerei-Jobs fragt: „Du hast noch nicht kapiert, dass Du im Leben wie jedermann sonst sein solltest: Die vollkommene Mittelmäßigkeit – nicht besser und nicht schlechter. Individualität ist ein Ungeheuer und es wäre besser, man würde sie schon in der Wiege erwürgen, um unseren Freunden das Gefühl von Vertrauen zu vermitteln. Oft habe ich gedacht, dass Künstler und Gangster in den Augen der Mehrheit dasselbe sind. Sie werden bewundert und wie Helden angebetet, und trotzdem ist da immer dieser unterschwellige Wunsch, sie auf dem Gipfel ihres Ruhms zerstört zu sehen.“ Genau diese Differenz zur Mittelmäßigkeit aber zeichnet Clay und die anderen aus. Sie können noch träumen, und sei es davon, durch einen Raub ein angenehmeres Leben zu führen, selbst Peatty träumt – davon, dass seine unsägliche Frau ihn lieben könnte, wenn er zu Geld kommt. Dass Kubrick diese Träume zerstört, ist kein Plädoyer für Mittelmäßigkeit oder vermeintliche Sicherheit, wie sie Maurice versteht (zumal er letztendlich bei der Sache auch mitmacht), sondern eher für Risiko und Individualität.
Kubrick selbst weiß, dass dieses Risiko zum Risiko, dieser Mut zur Individualität in einer Welt, in der alles auf absolute Sicherheit aus ist, an Kleinigkeiten, Zufällen, unberechenbaren Ereignissen usw. rasch und brutal scheitern kann. Der Mut zur Individualität ist unverkennbar verknüpft mit dem Risiko des Todes, zumindest aber der Zerstörung aller Hoffnungen. Der Schlussakkord des Films zeugt zugleich von einer bitteren Selbstironie und Selbstzweifeln. Doch was soll man in einer Welt ohne Individualität?
„The Killing“ hat in gewisser Hinsicht „nachfolgende Ereignisse“ ausgelöst. Nicht nur, dass in „Reservoir Dogs“ Quentin Tarantino eine Szene aus „The Killing“ adaptierte und „Pulp Fiction“ zum Beispiel mit ähnlichen Rückblenden arbeitet. Kubrick gab dem Gangsterfilm, seinen Figuren in gewisser Weise ein „familiäres Antlitz“, eine Nähe, die in etlichen Filmen danach immer wieder aufgegriffen wurde.
Wege zum Ruhm (Paths of Glory) USA 1957, 86 Minuten Regie: Stanley Kubrick
Drehbuch: Stanley Kubrick, nach dem Roman von Humphrey Cobb Musik: Gerald Fried Director of Photography: Georg Krause Montage: Eva Kroll
Darsteller: Kirk Douglas (Colonel Dax), Ralph Meeker (Corporal Phillip Paris), Adolphe Menjou (General George Broulard), George Macready (General Paul Mireau), Wayne Morris (Lt. Roget / Singender Mann), Richard Anderson (Major Saint-Auban), Joe Turkel (Gefreiter Pierre Arnaud), Christiane Harlan-Kubrick (deutsche Sängerin), Jerry Hausner (Café-Besitzer), Emile Meyer (Vater Dupree), Bert Freed (Sgt. Boulanger), Kem Dibbs (Gefreiter Lejeune), Timothy Carey (Gefreiter Maurice Ferol)
„... die letzte Zuflucht eines Schurken“
Lang ist’s her, dass – abseits der Kriegsfilme, die in den letzten beiden Jahren in den USA gedreht wurden – ein Regisseur die skrupellosen Mechanismen des Krieges und der militärischen Strukturen so vorbehaltlos und rücksichtslos offen legte wie Stanley Kubrick in „Paths of Glory“. An einer Stelle des Films sagt Colonel Dax (Kirk Douglas) zu General Mireau (George Macready): „Patriotismus, das ist die letzte Zuflucht eines Schurken.“ Mireau hatte ihm gerade nüchtern vorgerechnet, unter welchen Verlusten die „Höhe 19“, die die deutschen Truppen halten, zu nehmen sei: „Natürlich, es werden Männer getötet werden, vielleicht eine Menge von ihnen. Sie absorbieren Gewehrkugeln und Schrapnells und indem sie dies tun, machen Sie es also möglich, dass andere durchkommen ... Sagen wir: fünf Prozent werden durch unsere eigenen Leute getötet – das ist eine sehr großzügige Annahme. Zehn weitere Prozent im Niemandsland und nochmals zwanzig Prozent bleiben im Draht hängen. Dann bleiben 65 Prozent und der schlimmste Teil der Arbeit ist getan. Sagen wir, weitere 25 Prozent bei Erstürmung des Hügels – wir hätten dann noch so viel Kraft, die mehr als ausreicht, um ihn zu halten.“
Erster Weltkrieg 1916. Am sog. „Westwall“ – zwischen dem Kanal und der französisch-schweizerischen Grenze – stehen sich seit Monaten die französischen und deutschen Truppen gegenüber. An einem der vielen umkämpften Plätze erscheint der sich kultiviert gebende, aber nichtsdestotrotz skrupellose General Broulard (Adolphe Menjou), um sich mit General Mireau zu treffen. Das französische Oberkommando, dem Broulard angehört, hat beschlossen, an der Front durchzubrechen, und zwar in einem Gebiet, das der Feind schon lange standhaft verteidigt: die sog. „Höhe 19“. Das Oberkommando will Erfolge sehen, auch hinsichtlich der öffentlichen Meinung. Mireau äußert zunächst seine Zweifel, da die Höhe jedenfalls derzeit als uneinnehmbar gilt. Als Broulard ihm freundlich, aber unmissverständlich verdeutlicht, dass es an diesem Befehl des Oberkommandos nichts zu rütteln gebe und Mireau immerhin eine Beförderung ins Haus stehe, falls – woran er nicht zweifle – die Operation gelinge, macht sich Mireau an die Arbeit – nicht ohne zu heucheln, das Leben „seiner“ Männer sei ihm schon immer das wichtigste gewesen.
Mireau gibt den Befehl an Colonel Dax weiter, der bezüglich der Operation deutliche Zweifel äußert. Doch Befehl ist auch für ihn Befehl: Er schickt in der Nacht drei Soldaten – Leutnant Roget (Wayne Morris), Corporal Paris (Ralph Meeker) und den Gefreiten Lejeune (Ken Dibbs) – ins Niemandsland, um die Situation vor Ort zu erkunden. Als Lejeune sich weiter vor wagt und lange Zeit nichts mehr von ihm zu sehen oder zu hören ist, bekommt es Roget mit der Angst: Er wirft eine Handgranate Richtung deutsche Schützengräben und kehrt zum eigenen Stützpunkt zurück. Paris findet Lejeune tot in einem Loch, getroffen von Rogets Handgranate. Er stellt Roget zur Rede, doch der fragt ihn: Wem würden die Generäle mehr glauben, einem Offizier oder einem Gefreiten, der behauptet, der Offizier habe einen Mord begangen. Paris zieht sich verbittert zurück.
In der Nacht unterhalten sich die Soldaten darüber, ob sie lieber durch eine Granate oder ein Maschinengewehr getötet werden möchten, wenn sie schon sterben sollen. Am Morgen inspiziert Dax die Soldaten im Schützengraben. Das Wetter macht zusätzliche Sorgen: Kein Nebel, kein Regen, sondern heller Sonnenschein. Unter Beobachtung Mireaus und dem Sperrfeuer der Deutschen treibt Dax seine Leute Richtung Höhe 19. Das, was abzusehen war, geschieht. Die Verluste sind groß, die Soldaten kommen kaum voran.
Mireau ist wütend. Er sieht seine Beförderung in Gefahr und gibt den Befehl aus, auf die eigenen Reihen zu schießen, um die Soldaten im Niemandsland voranzutreiben. Der zuständige Leutnant weigert sich; das würde er nur tun, wenn er von Mireau einen schriftlichen Befehl erhalte, wie es die Vorschrift vorsehe. Mireau wird immer wütender. Er lässt den Leutnant festnehmen und droht der gesamten Kompanie mit dem Kriegsgericht.
Der Angriff auf die Höhe 19 ist gescheitert. Mireau aber will ein Exempel statuieren: Er fordert von Broulard, 100 dieser „Feiglinge“ aus Dax Truppe sollten vors Kriegsgericht. Broulard reduziert die Zahl auf drei. Dax gibt den Befehl weiter. Roget benennt Corporal Paris. Wenn der erst einmal tot ist, ist Roget den einzigen Zeugen los, der von seinem Handgranatenwurf weiß. Hinzu kommen die Gefreiten Arnaud (Joe Turkel) per Los und Ferol (Timothy Carey), der bestimmt wurde, weil er dumm, ungehobelt und „sozial unerwünscht“ sei. Dax, der von Beruf Strafverteidiger ist, setzt durch, dass er die drei Soldaten verteidigen darf.
Doch Verteidigung – das zeigt sich schnell – ist vor diesem Kriegsgericht eine Farce. Die drei Soldaten werden zum Tode verurteilt und hingerichtet. Dax, der von dem von Roget begangenen Mord weiß, bestimmt diesen zum Leiter des Exekutionskommandos. Als Dax dann erfährt, dass Mireau den Befehl ausgegeben hatte, auf die eigenen Leute zu schießen, lässt er sich dies in Erklärungen von mehreren Soldaten eidesstattlich versichern und kontaktiert General Broulard. Dax hofft, Broulard würde – so unter Druck gesetzt – die Exekution doch noch verhindern. Er irrt sich ...
Kubricks erster von drei Anti-Kriegs-Filmen (es folgten „Dr. Seltsam, oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben“, 1964; „Full Metall Jacket“, 1987) ist – auch aus heutiger Sicht – so schonungslos wie seine beiden anderen Filme. Kubrick wählte nicht etwa die deutsche Wehrmacht, die Kriegstreiber des ersten Weltkrieges, sondern eine der Armeen auf alliierter Seite, um den Krieg und den Charakter des Militärs bloßzustellen. Die Marseillaise leitet den Film ein, aber was ist von der Revolution geblieben? „Paths of Glory“ ist vordergründig, in Charakteren und Handlung, ein schlicht gestrickter Film. Erst bei näherem Hinsehen erweist sich eine Komplexität der Figuren und Handlungsstränge, wie sie danach selten in anderen Filmen zu sehen war.
Es gibt keine Helden in „Paths of Glory“ – nur Opfer und Täter. Die drei Hingerichteten büßen für die Karrieresucht eines Generals, der sich hinter der militaristischen Tradition und patriotischen Floskeln versteckt, um seine egoistischen, über Leichen gehenden Ambitionen zu verwirklichen (Mireau). General Broulard hingegen ist der gewiefte und skrupellose Taktiker, der für das System steht, das System des Militärs, und die öffentliche Meinung im Auge hat. Er opfert sogar Mireau, ohne mit der Wimper zu zucken, um eine in jeder Hinsicht unmenschliche Struktur aufrechtzuerhalten. Als Dax ihn gegen Ende als degenerierten, sadistischen alten Mann dahin abqualifiziert, wo er wirklich hingehört, antwortet Broulard in aller Ruhe:
„Oberst Dax, Sie sind eine Enttäuschung für mich. Sie haben sich der Schärfe Ihres Verstandes beraubt durch ihre Sentimentalitäten. Sie wollten wirklich jene Männer retten, und Sie wollten nicht das Kommando Mireaus? Sie sind ein Idealist – und ich bedaure Sie wie der Dorfidiot. Wir führen einen Krieg, Dax, einen Krieg, den wir zu gewinnen haben. Jene Männer kämpften nicht, deshalb wurden sie erschossen. Sie kommen zu mir mit Anschuldigungen gegen General Mireau, also bestehe ich darauf, dass er sie beantwortet. Inwiefern also habe ich etwas falsch gemacht?“
Broulard weiß es wirklich nicht. Er ist Personifikation einer politisch-militärisch-ökonomischen Struktur, in der Gefühle, Mitgefühl und Sentimentalität Fremdwörter sind. Wenn an dieser Struktur Zweifel aufkommen, kennt man nur eine Antwort: Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Mireau ist Täter und Opfer dieses Systems zugleich, Broulard ist sein optimaler und optimierter Repräsentant. Und Dax? Kubrick stellt Dax nicht als Helden dar. Dax führt die Befehle aus, er leistet einem – auch vom militärischen Standpunkt her gesehen – irrsinnigen Befehl – wenn auch unter Protest – folge und schickt seine Gefreiten in den sicheren Tod. Erst als drei von ihnen, die überlebt haben, zum Dank und für die Legitimation des Systems zum Tode verurteilt werden sollen, lotet er aus, inwieweit er die Regeln durchbrechen kann. Zwecklos. Seine Schlussworte, die kein Plädoyer, sondern Ausdruck der Verzweiflung sind, verhallen vor Gericht und Ankläger:
„Es gibt Zeiten, in denen ich mich schäme, ein Mitglied der menschlichen Rasse zu sein, und das ist jetzt ein solcher Moment. Ich protestiere dagegen, dass ich daran gehindert werde, Beweise vorzubringen, die für die Verteidigung lebensnotwendig sind. Die Anklage benannte keine Zeugen, es hat nie eine schriftliche Anklage gegeben mit den Punkten, die man den Angeklagten vorwirft, und schließlich protestiere ich dagegen, dass über diese Verhandlung keine stenographischen Aufzeichnungen gefertigt wurden.
Der Angriff gestern früh hat die Ehre Frankreichs nicht beschmutzt, aber dieses Standgericht ist eine solche Beschmutzung. Hohes Gericht, diese Männer für schuldig zu erklären, wäre ein Verbrechen, das sie alle bis zu dem Tag, an dem Sie sterben werden, verfolgen wird. Ich kann nicht glauben, dass der vortrefflichste Antrieb im Menschen, sein Mitleid für andere, in diesem Raum vollständig tot sein soll. Folglich bitte Ich Sie in aller Ergebenheit, diesen Männer Gnade zukommen zu lassen.“
Das militaristische System, das Kubrick demontiert, hat nur einen Zweck: seine eigene Aufrechterhaltung. Wenn dafür ein Sieg notwendig ist, muss gesiegt werden. Wenn dafür die Opferung eines Generals erforderlich ist, muss der General geopfert werden. Und so weiter. Diejenigen, die sich in diesem System befinden, sind ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Keiner der Soldaten, weder des Erschießungskommandos, noch Dax, letztendlich nicht einmal Roget, der Feigling, dessen Feigheit das System selbst initiierte, wollen, dass die drei Soldaten exekutiert werden. Aber sie tun, was ihnen befohlen wurde. Das enthüllt nicht nur die Brüchigkeit und Absurdität dessen, was „Kameradschaft“ genannt wird, sondern die ganze Verlogenheit dieser „Kameradschaft“, die zu nichts anderem dient als zur Aufrechterhaltung des Systems von Befehl und Gehorsam. Die Selbstschutzmechanismen, die die „Kameradschaft“ beinhaltet, haben ihre Grenzen genau in diesem Punkt.
Kubrick eigen ist der Schluss des Films. Als eine junge deutsche Frau (Christiane Harlan, die spätere dritte Frau Kubricks) auf der Bühne vor den Soldaten das Lied „Der treue Husar“ singt, laufen den anwesenden Soldaten die Tränen ins Gesicht. Die Erinnerung an Zuhause. an ihre Jugend, an ihre Familie, an ein menschliches, ein anderes Leben werden wach. Stärker kann man in dieser Schlusssequenz die Diskrepanz zum vorherigen kaum darstellen.
„Wege zum Ruhm“ setzt auch heute noch einen deutlichen Kontrapunkt zu all den US-Kriegsfilmen, die in den letzten beiden Jahren die Kinos überschwemmt haben. Während Kubrick das militaristische System und die militärische Logik schonungslos demontiert, geben sich „Pearl Harbor“, „Wir waren Soldaten“ usw. dem Feiern dieser Logik hin und produzieren Mitleid nicht mit den Menschen, die diesem System unterworfen sind, sondern mit der Macht, die es produziert. Die Deckmäntelchen des „Anti-Kriegs-Films“, die sich diese Filme teilweise umhängen, sind löchrig, besonders dann, wenn man einen Film wie „Wege zum Ruhm“ erneut gesehen hat.
Spartacus (Spartacus) USA 1960, 189 Minuten Regie: Stanley Kubrick
Drehbuch: Dalton Trumbo, nach dem Roman von Howard Fast Musik: Alex North Director of Photography: Russell Metty, Clifford Stine Montage: Robert Lawrence
Darsteller: Kirk Douglas (Spartacus), Sir Laurence Olivier (Marcus Licinius Crassus), Jean Simmons (Varinia), Charles Laughton (Sempronius Gracchus), Peter Ustinov (Lentulus Batiatus), John Gavin (Julius Cäsar), Nina Foch (Helena Glabrus), John Ireland (Crixus), Herbert Lom (Tigranes Levantus), John Dall (Marcus Publius Glabrus), Charles McGraw (Marcellus), Joanna Barnes (Claudius Marius), Harold Stone (David, jüdischer Gladiator), Woody Strode (Draba, äthiopischer Gladiator), Peter Brocco (Ramon), Tony Curtis (Antoninus)
Die Utopie der Freiheit
Ein „Sandalenfilm“ von Stanley Kubrick? Der damals 31jährige Regisseur hat wohl nie vorher und nach „Spartacus“ einen Film gedreht, in dem derart wenige Ideen von ihm selbst realisiert wurden – heißt es zumindest in einigen Filmkritiken. Sicherlich: Die Handschriften Dalton Trumbos, der das Drehbuch schrieb, und Kirk Douglas, der den Streifen produzierte, sind deutlich zu erkennen. „Spartacus“ war Kubricks einzige Auftragsarbeit. Nichtsdestoweniger geht Kubrick in „Spartacus“ dem Thema „Freiheit und Individuum“ in ähnlicher Weise nach wie viel später in „Barry Lyndon“.
Douglas hatte Trumbo (*1905, † 1976) übrigens unter einem Pseudonym als Drehbuchautor verpflichtet. Trumbo stand auf der sog. „Schwarzen Liste“, weil er im Zuge der McCarthy-Verfolgungen „unamerikanischer Umtriebe“ bezichtigt wurde. Trumbo hatte das „Verbrechen“ begangen, vor dem entsprechenden Ausschuss, dem auch Richard Nixon angehörte, auf die Frage, ob er Mitglied der kommunistischen Partei sei, nicht zu antworten. Zwischen 1943 und 1948 war Trumbo Kommunist. Ein Jahr Haft und zwölf Jahre auf der „Schwarzen Liste“ waren die Folgen. 1971 führte er selbst Regie, als er seinen eigenen Antikriegsroman „Johnny Got His Gun“ inszenierte. Bis heute ist nicht vollständig bekannt, für welche Filme Trumbo Drehbücher geschrieben hat (1). Trumbo hatte dazu auch später nichts verlauten lassen, um die Autoren, die formal mit ihrem Namen zeichneten, nicht zu gefährden oder in Misskredit zu bringen.
Trumbo trug jedenfalls mit zu Kubricks internationalem Durchbruch bei.
Die auf DVD erhältliche Version des Films ist eine überarbeitete Fassung, in der u.a. auch eine Szene, in der Crassus gegenüber seinem Sklaven Antoninus seine Bisexualität offenbart („Ich mag Austern und Schnecken“), wieder aufgenommen wurde. Robert E. Harris rekonstruierte den Film so, wie Kubrick ihn wollte, aus Originalmaterial.
Rom im ersten Jahrhundert vor Christi. In Thrakien muss der Sklave Spartacus (Kirk Douglas) in einem Steinbruch arbeiten. Batiatus (Peter Ustinov), der vom Verkauf von Gladiatoren für die römischen Arenenkämpfe in Capua lebt, kauft Spartacus, der eigentlich getötet werden soll, weil er einen römischen Aufseher ins Bein gebissen hatte. Mit etlichen anderen Sklaven erhält er eine Ausbildung durch Batiatus Oberausbilder Marcellus (Charles McGraw). Den Sklaven, die nachts in von oben einsehbaren Einzelzellen eingesperrt werden, werden regelmäßig Sklavinnen zugeführt. Spartacus lernt so die schöne Varinia (Jean Simmons) kennen, schläft nicht mit ihr, verliebt sich aber unsterblich in sie.
Als der römische Senator und Patrizier Crassus (Laurence Olivier) mit seinem Gefolge – dem Kohortenführer Glabrus (John Dall), Helena Glabrus (Nina Foch) und Claudia Marius (Joanna Barnes) – bei Batiatus erscheint, wünschen besonders die Frauen, einen Gladiatorenkampf zu sehen. Spartacus muss gegen den Äthiopier Draba (Woody Strode) antreten. Als er schon besiegt scheint, weigert sich Draba, Spartacus zu töten. Statt dessen geht er auf Crassus und sein Gefolge los und wird vom Speer eines Soldaten getötet.
Als der sadistisch veranlagte Marcellus Spartacus einmal wieder provoziert, geht Spartacus auf ihn los und ertränkt ihn in einem Essenstopf. Die anderen Gladiatoren schließen sich dem Widerstand an und können die Soldaten besiegen. Batiatus entkommt im letzten Augenblick mit Varinia, die Crassus von ihm gekauft hat, Richtung Rom.
Spartacus und die anderen entflohenen Sklaven ziehen plündernd durchs Land und befreien etliche Sklaven. Viele Sklaven fliehen und schließen sich dem Aufstand an.
In Rom versucht Crassus, den Sklavenaufstand für seine Ziele zu nutzen. Er will die Herrschaft des „Pöbels“ beseitigen und sich zum Diktator machen. Ihm gegenüber steht der Anführer des „Volkes“, Gracchus (Charles Laughton), der auf geschickte Weise dafür sorgt, dass Crassus Vertrauter vom Senat zum Heerführer über sechs Kohorten erwählt wird, die den Sklavenaufstand beenden sollen. Die verbleibenden Kohorten werden einem anderen Vertrauten Gracchus unterstellt: Julius Cäsar (John Gavin).
Spartacus sorgt zur gleichen Zeit dafür, dass seine Gefolgsleute sich nicht dadurch an den Römern rächen, dass sie diese in tödliche Gladiatorenkämpfe schicken. Auf dem Zug der Sklaven Richtung Süden trifft Spartacus Varinia wieder, die dem unbeholfenen Batiatus entfliehen konnte. Sie liebt Spartacus wie er sie. Als Varinia ihn fragt, was er vor hat, erzählt ihr Spartacus, er wolle an die Küste nach Brundisium (Brindisi), damit alle Sklaven mit Hilfe von Piraten, die ebenfalls gegen Rom kämpfen, in ihre Heimat zurück können. Er will nicht mehr kämpfen müssen. „Wer hat schon den Wunsch zu kämpfen. Auch ein Tier kämpft nur, wenn es muss.“ Er sei jetzt frei. Aber was wisse er schon, er könne nicht einmal lesen. Er wisse nichts. Aber ab jetzt möchte er alles wissen. Warum die Sonne untergeht und woher der Wind komme. Und er wolle wissen, warum Varinias Herz schlage und warum sie atme. Für kurze Zeit herrscht ein sanfter Frieden im Lage der entflohenen Sklaven.
Der Unterhändler der Piraten, Tigranes Levantus (Herbert Lom), mit dem Spartacus über den Verkauf von Schiffen verhandelt, äußert Zweifel, ob Spartacus und seine Leute jemals Rom entkommen könnten. Wenn er in eine Kristallkugel schauen könne und sehen würde, wie er und seine Anhänger von den römischen Soldaten niedergemetzelt würden, würde er dann immer noch planen, Rom zu entkommen, fragt ihn Levantus. Spartacus antwortet:
„Was verlieren Sklaven? Alle Menschen verlieren, wenn sie sterben, und alle Menschen sterben. Nur dass ein Sklave beim Tod etwas anderes verliert als ein freier Mensch.“
Levantus: „Beide verlieren das Leben.“
Spartacus: „Wenn ein freier Mensch stirbt, verliert er die Freude am Leben. Ein Sklave verliert den Schmerz. Der Tod ist für einen Sklaven der Weg in die Freiheit. Deshalb ist er ohne Furcht vor ihm. Und deshalb werden wir gewinnen.“
Spartacus und seine Männer schlagen die von Rom entsandten sechs Kohorten und nehmen Glabrus gefangen. Spartacus lässt Glabrus nach Rom zurückkehren, um dem Senat zu melden, dass die Sklaven nichts von Rom fordern – außer ihre Freiheit.
Glabrus wird vom Senat wegen der Schande der Niederlage verbannt. Crassus hingegen, der vortäuscht, sich ins Privatleben zurückziehen zu wollen, plant, die Führung des Kampfes gegen Spartacus zu übernehmen. Doch dafür verlangt er Vollmachten, deren Durchsetzung der Diktatur gleichkommen würde, die er immer anstrebte. Der schlaue Gracchus durchschaut seinen Widersacher und nimmt heimlich Kontakt mit den Piraten auf. Die sollen Spartacus ruhig helfen. Sind die Sklaven erst einmal auf dem Meer, kann er Crassus Pläne durchkreuzen.
Crassus hingegen besticht die Piraten, die sich mit ihren Schiffen aufs Meer zurückziehen. Die Heerführer Pompeius und Lucullus nähern sich mit ihren Kohorten von Sizilien bzw. vom Meer aus, so dass Spartacus gezwungen wird, um nicht zwischen beiden aufgerieben zu werden, Richtung Rom zu ziehen. Es kommt zur Entscheidungsschlacht. Was Spartacus nicht weiß: Crassus hat Pompeius und Lucullus befohlen, auf geheimen Wegen durch die Apenninen sich mit seinem Heer zu vereinigen. Gegen diese Übermacht haben Spartacus Kämpfer keine Chance. Nur ca. 5.000 seiner Männer, Frauen und Kinder überleben die blutige Schlacht. Crassus Erfolg verhilft ihm endlich zu dem, was er schon immer wollte: Er lässt sich zum ersten Konsul ernennen und entmachtet Gracchus. Die Via Apia säumen die gekreuzigten Sklaven. Batiatus, dem versprochen war, die überlebenden Sklaven verkaufen zu dürfen, wird von Crassus aus dem Lager gepeitscht. Varinia, die ihren Sohn geboren hat, wird von Crassus in sein Haus gebracht. Batiatus und Gracchus schwören Rache. Batiatus soll Varinia entführen. Dafür erhält er von Gracchus zwei Millionen Sesterzen.
Inzwischen hat Crassus Spartacus und Antoninus, seinen ehemaligen Sklaven, gefunden. Er zwingt sie, im Schwertkampf gegeneinander zu kämpfen. Der Überlebende soll gekreuzigt werden. Beide wollen dem anderen das Leid der Kreuzigung ersparen. Spartacus tötet Antoninus und wird ans Kreuz geschlagen. Er soll nicht begraben, sondern verbrannt, seine Asche in alle Himmelsrichtungen verstreut werden.
Gracchus besorgt Varinia, ihrem Sohn und Batiatus Passierscheine, mit denen sie Crassus Zugriff entfliehen können. Er entlässt Varinia und ihren Sohn aus der Sklaverei. Als sie mit Batiatus Rom verlässt, sieht sie Spartacus am Kreuz. Der sieht zum ersten Mal seinen Sohn. Varinia verspricht Spartacus, ihrem Sohn über seinen Vater alles zu berichten. Der Schmerz und der Tod trennt die Liebenden für immer.
Ein „Sandalenfilm“? Die äußeren Merkmale weisen darauf deutlich hin. Die Frisuren der weiblichen Darsteller entsprechen sicherlich nicht der Realität. Varinia sieht des öfteren aus, als käme sie gerade vom Friseur in der 5th Avenue. Auch etliche Szenenabfolgen erinnern an andere Filme, die in der Antike spielen. Doch von diesen Dingen einmal abgesehen, ist Kubricks großes Thema – Freiheit, Individuum, Zivilisation – auch in „Spartacus“ deutlich zu erkennen. Für Spartacus und alle Sklaven ist der Tod der Verlust des Schmerzes, für einen freien Menschen dagegen der Verlust der Freude. Er fürchtet sich vor dem Tod nicht mehr als vor dem Leben als Sklave, sagt er Antoninus kurz vor beider Tod.
Kubrick setzt der Figur des Spartacus zwei Charaktere entgegen: Crassus, den hintertriebenen Schurken im blendenden Gewand des römischen Patriziers, der nach der Diktatur strebt, und Gracchus, ebenfalls hintertrieben, aber mehr von den Verhältnissen dazu getrieben, den Vertreter des römischen Volkes, des „Pöbels“, wie Crassus die einfachen Leute nennt, Gracchus, der die Lebensfreude repräsentiert. In einem übertragenen Sinn steht Crassus für den Typ Mensch, der seine Allmachtsphantasien mit allen Mitteln realisieren will, Gracchus für den Pluralismus des „Leben und Leben lassen“. Um diese drei Figuren gruppiert Kubrick die Handlung, die insofern mehr mit der Gegenwart als mit römischer Geschichte zu tun hat.
Spartacus hatte eine Entscheidung getroffen, als er sich in das „Zwischenreich“ zwischen Sklaverei und Freiheit begab: Nie wieder Gladiatorenkämpfe. Das reicht ihm jedoch nicht. Als Mensch will er wissen, „Wissen“ nicht in einem technizistischen, ökonomisierten, sondern in einem eher existenziellen Sinn. Er will wissen, was das Leben ist, was es ausmacht, er will erfahren. Er will nicht so sehr wissen, wozu er lebt, zu welchem Zweck. Denn eines hat Spartacus längst akzeptiert, was Crassus nie akzeptieren könnte: Der einzige Sinn des Lebens, die einzige absolute Sicherheit im Leben ist der Tod. Crassus will über den Tod hinaus, den Tod besiegen. Er ist der erbärmliche, feige und seine Feigheit hinter der Macht der Kohorten, der Intrige, der Skrupellosigkeit versteckende Mörder, der den Tod überwinden will, indem er andere tötet. Er fragt Varinia, was sie an Spartacus fasziniere. In diesem Moment spürt Crassus selbst, das etwas existiert, das er nie begreifen wird und vor dem er Angst hat: das Leben vor dem Tod.
Als sein entflohener Sklave Antoninus im Lager der Sklaven Gedichte vorträgt und zaubert, ist Spartacus fasziniert. Für ihn ist dies der Beginn des Lebens als einer transzendenten (vielleicht auch religiösen), philosophischen Erfahrung. Das Leben als „Kunst“ des Lebens, als „Genuss“, als sinnliche Erfahrung.
Hier manifestiert sich das Gespür Kubricks, seine Idee vom „einfachen“ Leben, nicht im Sinn eines irgendwie gearteten „Zurück zu ...“, einer abstrakten Sinnfrage oder Träumen vom Paradies. Spartacus weiß, dass der Mensch längst den paradiesischen Zustand der Unschuld verlassen hat. Er fragt nach den Bedingungen von Sinnlichkeit und Freiheit. Crassus liebt nicht das Leben, sondern die Macht, also den Tod. Gracchus liebt das Leben, ist aber Gefangener im Gefüge des römischen Staates. Als er Varinia und ihrem Sohn die Freiheit schenkt, ist dies nicht nur ein Gnadenakt, nicht nur eine Verbeugung vor Spartacus. Es ist das Gespür dafür, was Spartacus trieb.
Die Idee der Freiheit und des Lebens als Sinnlichkeit, als Genuss sind eine Art „Gegenkonzept“ zum „Konzept“ der Zivilisation, eine Utopie gegen den „realistischen Realismus“. Kubricks Idee ist verwundbar, angreifbar, weil sie die Idee des Lebens offen hält für die Chancen, die sich damit auftun. Die Perspektive eines „realistischen Realismus“ liegt im Sollen dessen, was ist, in der geforderten Fortschreibung dessen, was festgehalten werden soll – gegen alle Einsicht, dass das Leben im stetigen Fluss ist und sich nicht aufhalten lässt. Crassus repräsentiert diesen lebensfeindlichen Realismus. Die Perspektive der Utopie ist das Aufspüren der Freiheit und des Genusses in dem, was ist.
Ich muss essen, weil ich sonst sterbe. Ich will essen, weil es ein Genuss ist (oder jedenfalls sein kann). Beides ist möglich und notwendig. Aber was macht den Menschen aus, was ist für das Menschsein primär: die biologische oder die kulturelle Notwendigkeit? Hier liegt die Frage der Freiheit begründet. Für einen Sklaven ist das Leben und alles, was dazu gehört, eine Qual und der Tod die Erlösung vom Schmerz. Was für das Essen als kulturellem Genuss gilt, als Teil des sinnlichen Lebens für uns hier im Norden der Erdkugel in der Regel möglich geworden ist, ist für Millionen andere eine nackte existenzielle Frage. Sie sind auf ihre Biologie zurückgeworfen (worden).
Die Utopie des „Spartacus“ ist keine abstrakte Wunschvorstellung. Sie sucht in dem, was ist, nach Anhaltspunkten und Möglichkeiten der Freiheit, dem, was sein soll. Sie beruht nicht auf abstrakten, hehren Grundsätzen, sondern auf der Erfahrung des Lebens selbst. Sie ist ein universelles „Konzept“, das entweder für alle gelten muss oder für niemand gelten kann, eine Vorstellung, die in jedem Menschen auch die Idee des Menschen und damit die Menschheit umfasst. Spartacus hält seine Anhänger davon ab, römische Soldaten als Gladiatoren gegeneinander zu hetzen. Das ist Universalität.
Der „realistische Realismus“ (heutzutage die neoliberale Weltordnung und die Ideologie des Neoliberalismus) ist auch ein universelles Konzept der Fixierung dessen, was äußerlich „ist“,und dessen Fortschreibung – leider. We are all living in the best of all possible worlds.
Die Besetzung des Films ist hervorragend gewählt. Douglas, Olivier, Laughton, Ustinov, Simmons und auch Curtis waren in dieser Hinsicht Glücksfälle für Kubrick.
(1) Trumbo schrieb u.a. die Drehbücher zu „Exodus“ (1960, R: Otto Preminger), „The Last Sunset“ (1961, R: Robert Aldrich), „The Sandpiper“ (1965, R: Vincente Minelli), „The Fixer“ (1968, R: John Frankenheimer), „The Horsemen“ (1971, R: John Frankenheimer) und „Papillon“ (1973, R: Franklin J. Schaffner).
Zur historischen Figur des Spartacus vgl. u.a.: http://www.jop-kriegskunst.de/spcus.htm
Lolita (Lolita) USA 1962, 152 Minuten Regie: Stanley Kubrick
Drehbuch: Stanley Kubrick, nach dem Roman von Vladimir Nabokov (1899-1977) Musik: Bob Harris, Nelson Riddle Director of Photography: Oswald Morris Montage: Anthony Harvey
Darsteller: James Mason (Prof. Humbert Humbert / Erzähler), Shelley Winters (Charlotte Haze / Humbert), Sue Lyon (Dolores „Lolita“ Haze / Mrs. Richard Schiller), Gary Cockrell (Dick Schiller / Richard T.), Jerry Stovin (John Farlow), Lois Maxwell (Mary Lore), Cec Linder (Dr. Keegee), Bill Greene (George Swine), Shirley Douglas (Mrs. Starch), Marianne Stone (Vivian Darkbloom), Marion Mathie (Miss Lebone), James Dyrenforth (Frederick Beale Senior), John Harrison (Tom), Roland Brand (Bill Crest), Peter Sellers (Clare Quilty / Dr. Zempf), Colin Maitland (Charlie Sedgewick)
Guilty !
Als1955 Nabokovs Roman „Lolita“ erschien, löste er einen Skandal aus. Während Literaten das Werk feierten, wurde das Buch in den USA und Großbritannien seit 1958 nie in seiner vollständigen Fassung veröffentlicht. Die inzestuöse Geschichte über ein im Roman 12jähriges Mädchen und einen Literaturprofessor mittleren Alters wurde 1997 von Andrew Lyne erneut inszeniert, mit Jeremy Irons, Melanie Griffith, Dominique Swain und Frank Langella in den Hauptrollen. „Lolita“ ist (nach „Fear and Desire“, 1953; „Killer’s Kiss“, 1955; „The Killing“, 1956; „Paths of Glory“, 1957 und „Spartacus“, 1960) Kubricks sechster Kinofilm (nach drei Kurzfilmen, die er Anfang der 50er Jahre gedreht hatte).
Kubrick suchte lange nach einer Darstellerin für Lolita und fand schließlich die blauäugige, blonde 14jährige Sue Lyon, bei Erscheinen des Films 16 Jahre alt (Dominique Swain war übrigens 17, als sie die Rolle in dem Remake von 1997 spielte). Der Plan, auf Basis des Romans Nabokovs einen Film zu drehen, war für die frühen 60er Jahre natürlich mutig. Sue Lyon wirkt eher wie 17; Produktionsfirma, Öffentlichkeit und Zensur werden das magische Dreieck gewesen sein, das Kubrick veranlasste, für die Rolle keine jüngere Schauspielerin zu verpflichten bzw. eine, die derart jung wirkt.
Der Film selbst jedoch lässt keinen Zweifel über die Geschichte und ihre Implikationen. Vordergründig ist „Lolita“ „sauber“: kein Sex. Der Vorspann allerdings zentriert bereits die Sicht auf das Objekt der Begierde Professor Humbert Humberts (James Mason). Kubrick zeigt Sue Lyons Beine. Die linke Hand eines Mannes lackiert Lolita die Nägel, schiebt Wattebäuschchen zwischen ihre Zehen. Der Mann trägt einen Ehering. Er wirkt unterwürfig.
Ein Mann betritt ein vornehmes Haus. Die Möbel sind zum Teil durch Leinentücher verdeckt, es herrscht Unordnung wie nach einer feucht-fröhlichen Party oder Orgie, überall zerbrochene Gläser, umgeworfene Stühle, leere Flaschen. Verborgen hinter einem Laken schläft ein anderer Mann, noch betrunken. Humbert Humbert fragt ihn, ob er Quilty (Peter Sellers) sei. Der antwortet: „Nein, ich bin Spartacus“ (Kubricks Film aus dem Jahr 1960). Humbert ist ernst, Quilty – im Pyjama und Hausschuhen – alkoholisiert, zynisch, albern. Quilty kann oder will sich nicht an Humbert erinnern, ebenso auf Frage nicht an Dolores (Lolita) Haze. Humbert versucht, Quilty deutlich zu machen, dass er sterben werde. Er richtet eine Pistole auf ihn. Quilty greift nach Boxhandschuhen und meint, sie sollten wie zivilisierte Menschen kämpfen. Humbert schießt durch einen der Boxhandschuhe. Humbert schießt erneut, diesmal in Quiltys Bein. Der erkennt langsam die Situation, versucht über die Treppe zu entkommen, kann aber nicht mehr laufen. Er verbirgt sich hinter einem Gemälde, dem Portrait eines jungen Mädchens. Humbert feuert durch das Gemälde hindurch. Quilty ist tot.
Vier Jahre zuvor. Der Literaturprofessor Humbert kommt in Ramsdale (New Hampshire) an, für ihn eine Zwischenstation auf dem Weg nach Ohio, wo er am Beardsley College Vorlesungen halten soll. Humbert trifft auf die Witwe Charlotte Haze (Shelley Winters), eine redselige, matronenhaft wirkende Frau, die ihren Mann vor sieben Jahren verloren hat. Seine Urne steht in ihrem Schlafzimmer vor dem Spiegel. Charlotte Haze sucht einen Mann. Humbert kommt ihr gerade recht. Sie führt ihn durch das Haus, zeigt ihm das Zimmer, das sie zu vermieten hat. Die deutliche Aufdringlichkeit geht Humbert auf die Nerven, er bleibt aber äußerlich ruhig, sagt Charlotte, sie solle ihm ihre Telefonnummer geben, er würde sich wegen des Zimmers dann melden.
Er müsse unbedingt noch ihren Garten sehen, meint Charlotte. Unwillig geht Humbert mit. Im Garten liegt Charlottes Tochter Dolores, genannt Lolita. Sie trägt eine rote Sonnenbrille, die Gläser in Herzform, bräunt sich im Bikini auf einer Liege. Sie schaut kühl in Richtung auf Humbert und ihre Mutter, die von ihren prämierten Rosen redet. Humbert ist fasziniert von Lolita, schaut sie gebannt an, aber so, dass Charlotte es nicht merkt. Er nehme das Zimmer. „Was hat Sie letztlich dazu veranlasst, mein Garten?“ fragt ihn Charlotte. „Ich glaube, es war ihr Kirschkuchen.“
Humbert hat sich verloren. Auf einem Sommerball der High-School hat er nur Augen für Lolita, die mit ihrem Schulfreund tanzt, während ihre Mutter schnurstracks auf den Schriftsteller Clare Quilty zugeht, den sie von früher zu kennen scheint, der sich aber nicht erinnern will. Später, als Lolita noch auf einer Party von Bekannten weilt, fragt Humbert Charlotte, ob sie Lolita nicht zu viel erlaube. Charlotte hat keine Augen für ihre Tochter. Sie ist ihr lästig, zu frech, ein Dorn im Auge, ihren Absichten gegenüber Humbert im Weg. Sie schickt sie in ein Feriencamp, um sie los zu werden. Humbert ist innerlich aufgewühlt. Was soll er tun, wenn Lolita möglicherweise Monate weg ist?
Da erhält er, noch verzweifelt auf Lolitas Bett liegend, einen Brief von Charlotte, in dem sie ihn bittet, entweder sofort zu gehen oder sie zu heiraten, denn sie liebe ihn. Humbert lacht zynisch. Diese ekelhafte Frau heiraten?
Er heiratet Charlotte, um in der Nähe von Lolita sein zu können.
Heimlich schreibt Humbert ein Tagebuch, in dem er über seine Besessenheit, seine Ablehnung Charlottes, seine Pläne, seine Überlegungen schreibt. Als Charlotte, die keine Geheimnisse dulden will, das Tagebuch findet, kommt es zu einer kurzen heftigen Auseinandersetzung, in deren Verlauf Humbert überlegt, Charlotte zu erschießen, es als Unfall aussehen zu lassen, den Plan wieder verwirft; doch dann läuft Charlotte – ohne dass er es merkt – über die Straße und wird von einem Auto erfasst. Sie stirbt. Unfall? Selbstmord?
Für Humbert als Stiefvater von Lolita scheint der Weg frei zu sein. Das Schicksal hat ihm geholfen. Er beschließt, Lolita frühzeitig aus dem Camp zu holen und mit ihr nach Beardsley zu fahren, wo er sowieso Vorlesungen halten muss und die beiden niemand kennt. Er erzählt Lolita nichts vom Tod ihrer Mutter, nur, dass sie krank sei und im Krankenhaus liege, dass er zunächst mit Lolita in ein schönes Hotel fahren wolle, um dann am nächsten Tag ihre Mutter zu besuchen.
Im Hotel bekommen Humbert und Lolita nur noch ein Zimmer. Humbert wird von einem Mann angesprochen, der sich als Polizist ausgibt und mehr oder weniger eindeutige Andeutungen über Humbert und Lolita macht, die ihn als jemand ausweisen, der anscheinend gut über beide Bescheid weiß. Der Mann ist kein anderer als Quilty. Humbert jedoch erkennt ihn nicht.
Lolita erzählt am nächsten Morgen Humbert von einem Spiel, das sie im Camp mit einem Jungen gespielt habe. Als Humbert nicht zu verstehen glaubt, flüstert sie ihm etwas ins Ohr. Kurz darauf gibt sie sich Humbert hin. Auf der Weiterfahrt erzählt Humbert Lolita die Wahrheit über ihre Mutter. Auf dem Weg nach Beardsley werden sie von einem Auto verfolgt.
In der Zeit in Ohio versucht Humbert ständig, Lolita zu kontrollieren. Er verbietet ihr den Umgang mit jungen Männern, will verhindern, dass sie an einer Theateraufführung der Schule teilnimmt.
Was Humbert noch nicht weiß: Quilty spielt für die Beziehung zwischen ihm und Lolita eine entscheidende Rolle ...
Auch „Lolita“ gehört zu den Filmen Kubricks, in der bezüglich keiner Figur so etwas wie Sympathie aufkommt. Eine merkwürdige Distanz tut sich auf, die eine Identifizierung mit den Charakteren (für mich jedenfalls) ausschließt. In „Lolita“ steht offenbar das inzestähnliche Verhältnis zwischen Humbert und Lolita im Vordergrund. Aber es geht in diesem Film um mehr, letztlich um ein grundlegendes, sozusagen „strukturelles“ Scheitern menschlicher Beziehungen in jeder Hinsicht.
In Charlotte Haze sehen wir eine Frau, deren einziges Problem darin zu bestehen scheint, einen Mann aufzutun, eine Frau, die auf absolute Sicherheit setzt, weil sie in sich selbst derart unsicher und schwach ist, dass sie glaubt, dieses Manko nur überjemand anders wettmachen zu können. Gleichzeitig will sie diesen Mann – wer immer es auch sei – beherrschen. Sie sagt Humbert, als dieser sich im Bad eingeschlossen hat, um Tagebuch zu schreiben, sie wolle nicht, dass zwischen ihnen irgendwelche Geheimnisse bestehen. Diese extrem egozentrische Ausrichtung der Figur der Charlotte wird noch dadurch verstärkt, dass sie ihre Schwäche auszugleichen versucht, indem sie immer wieder betont, einem literarischen Zirkel anzugehören, Preise für ihre Blumen gewonnen zu haben usw. Sie verdeckt ihre Schwächen, ihre Unselbständigkeit, um gleichzeitig ihren Machtanspruch gegenüber anderen durchzusetzen. Sie heiratet Humbert nicht aus Liebe, sondern – so paradox das vielleicht klingen mag –, um Macht auszuüben und um ihre Schwäche über ihn auszugleichen. Sie benutzt Humbert.
Humbert, dieser scheinbar so zurückhaltende, fast schüchtern wirkende, „leicht“ freundliche Literaturprofessor, ist auf seine Weise nicht anders. Ihm ist nicht nur Charlotte ein Mittel zum Zweck, um Lolita nahe zu sein. Humbert verliebt sich nicht in Lolita, sondern in das Bild, das er von dem hat, was er „Liebe“ nennt. Nichts kann ihn daran hindern, sich in die Jugendlichkeit, die Schönheit, den Reiz der Kindlichkeit, der noch halb in Lolita steckt, die scheinbare Unschuld dieses Mädchens zu verlieben. Lolita selbst ist nur die Personifizierung dieses naiven Traums, dieser kindlichen Phantasie eines Mannes, der – obwohl Erwachsener – nicht erwachsen ist, der ausschließlich zu einer Beziehung fähig ist zwischen devoter Hingabe hier, herrschsüchtiger Kontrolle dort. In einer Szene gegen Schluss des Films sitzt er neben Lolita und weint wie ein kleines Kind. Das ist die eine Seite Humberts.
Die andere: Er überlegt einen Moment, vor dem Verkehrsunfall oder Selbstmord Charlottes, sie mit deren eigenem Revolver zu erschießen und es wie einen Unfall aussehen zu lassen (Charlotte selbst hatte ihn auf die Idee gebracht, weil sie behauptete, der Revolver sei nicht geladen). Doch er kommt davon ab. Er hat nicht den Mut, sich seinen eigenen irrsinnigen Weg freizuschießen. Statt dessen erzählt er, weil er meint Charlotte sei noch im oberen Stockwerk, seine Tagebuchnotizen seien nur Aufzeichnungen für einen Roman und er habe nur ihre Namen benutzt, wie Schriftsteller das des öfteren praktizierten – eine Geschichte, die Charlotte ihm nie abgenommen hätte. Da kommt ihm „das Schicksal“ zu Hilfe. Charlotte läuft in ein Auto und ist tot. Humbert ist unfähig, seine Verantwortung für diesen Tod zu sehen. Warum auch? Nein, er bringt ihm nur Vorteile. Er ist jetzt Stiefvater von Lolita. Er hat freie Hand.
Lolita, die – nur scheinbare – Unschuld, treibt ein ebenso böses Spiel mit Humbert wie dieser mit ihr. Der Unterschied ist: Humberts Spiel ist für Lolita leicht zu durchschauen, ihr Spiel für Humbert überhaupt nicht. Sie und Quilty spielen mit Humbert; sie instrumentalisieren ihn für ihre eigenen Zwecke. Als Humbert darüber aufgeklärt wird, erschießt er Quilty. Er richtet ihn hin und wird selbst dafür bezahlen.
Die Beziehungen sämtlicher Personen sind geprägt von egozentrischer Funktionalisierung der anderen, Betrug und Selbstbetrug. Lolita heiratet einen Mann, den sie nicht liebt, wird von ihm schwanger; er sei ein netter Kerl, sagt sie Humbert. Sie ist nicht fähig, sie hat nicht gelernt zu lieben. Humbert fleht sie an, bettelt, heult, erniedrigt sich vor ihr – ohne Sinn, Verstand und Erfolg. Humberts Leben ist auf der ganzen Linie gescheitert.
Erich Fromm hat seinen Patienten des öfteren die Frage gestellt: „Lieben Sie Ihren Partner, weil sie ihn brauchen; oder brauchen Sie ihn, weil sie ihn lieben?“ Das kennzeichnet die Situationen in „Lolita“ deutlich.
Peter Sellers spielt (ähnlich wie kurz darauf in „Dr. Seltsam, oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben“, 1964) drei Rollen bzw. ein und dieselbe Person in verschiedenen Verkleidungen exzellent. James Mason, die junge Sue Lyon und Shelley Winters holen aus ihren Rollen alles heraus. Ebenso grandios.
„Lolita“ war sicherlich ein für seine Zeit gewagtes Unternehmen. Die – wenn auch im Film nicht gezeigte, so doch immer wieder angedeutete – (sexuelle) Freizügigkeit, die ja auch Nabokovs Roman kennzeichnet, arbeitet Kubrick als das heraus, was sie hier ist: als Teil eines sozialen Geflechts, das ausschließlich aus Abhängigkeiten besteht, aus instrumentellen Beziehungen, in denen die inzestähnliche Situation nur einen Moment neben anderen darstellt. Ganz zu Anfang des Films, als Charlotte Humbert ihre Telefonnummer(1776) gibt, sagt er: „1776 – ah, das Jahr der Unabhängigkeitserklärung, leicht zu merken.“ Nur, wer in diesem Film ist unabhängig?
|