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Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben (Dr. Strangelove or: How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb) USA 1964, 93 Minuten Regie: Stanley Kubrick
Drehbuch: Stanley Kubrick, Peter George, Terry Southern, nach dem Roman „Red Alert“ von Peter George Musik: Laurie Johnson Director of Photography: Gilbert Taylor Montage: Anthony Harvey
Darsteller: Peter Sellers (Captain Lionel Mandrake / President Merkin Muffley / Dr. Strangelove), George C. Scott (General „Buck“ Turgidson), Sterling Hayden (Brigadegeneral Jack D. Ripper), Keenan Wynn (Colonel „Bat“ Guano), Slim Pickens (Major T. J. „King“ Kong), Peter Bull (Alexi de Sadesky, russischer Botschafter), James Earl Jones (Lt. Lothar Zogg), Tracy Reed (Miss Scott), Jack Creley (Mr. Staines), Frank Berry (Lt. H. R. Dietrich), Robert O’Neill (Admiral Randolph), Glenn Beck (Lt. W. D. Kivel), Roy Stephens (Frank), Shane Rimmer (Captain G. A. „Ace“ Owens)
We’ll meet again ... but when?
Wenn man so will, hat Stanley Kubrick drei Anti-Kriegs-Filme gedreht – natürlich „Full Metal Jacket“ (1987), sicherlich „Wege zum Ruhm“ (1958), und „Dr. Seltsam“, in dem Peter Sellers gleich drei Rollen spielte. „Dr. Seltsam“ ist eine für seine Zeit, aber auch noch heute bissige, ja bitterböse Satire auf die Ideologie der atomaren Abschreckung, die die gesamte Nachkriegszeit bis hinein in die 70er Jahre beherrschte, nicht zuletzt aber auch deswegen aktuell, weil der Film die „Hardliner“-Strategen in Washington gründlich und vernichtend dorthin stellt, wo sie hingehören: in die Ecke der Brandstifter. Selten hat sich ein Film derart treffsicher mit der Strategie des atomaren Gleichgewichts auseinander gesetzt. Und sicher hat auch dieser Film wenigstens ein bisschen zur Ablösung der Gleichgewichts-Ideologie durch die Ende der 60er Jahre begonnene Politik der vertrauensbildenden Maßnahmen, Abrüstung und Rüstungskontrolle beigetragen, die nach dem Zusammenbruch der realsozialistischen Staatenwelt durch die gefährliche US-geführte „Weltsicherheitspolitik“ der Stärke vernichtet wurde.
General Ripper (Sterling Hayden) scheint verrückt geworden zu sein. Oder doch nicht? Ripper trinkt nur noch destilliertes Wasser und meint, die Russen würden kein Wasser, nur Wodka saufen. Warum? Sie hätten das Wasser vergiftet – Teil einer kommunistischen Weltverschwörung. Die Bedrohung wird in Rippers Vorstellungswelt immer klarer, und so ordnet er eines Tages den „Code Red“ an (was eigentlich nur der Präsident darf, falls ein unmittelbarer Angriff auf die USA bevorsteht) und schickt atomar bestückte B-52-Bomber Richtung Sowjetunion. Der auf dem Stützpunkt anwesende britische Captain Mandrake (Peter Sellers – zum Ersten) ist entsetzt. Als er in Rippers Büro darauf hinweist, dass nichts für einen Angriff von sowjetischer Seite spreche – er zückt ein Radio, in dem Schlagermusik spielt und keine Katastrophennachrichten verkündet werden – und von Ripper verlangt, ihm den Code zu nennen, mit dem allein die Bomber zurückgeholt werden können, stößt er auf taube Ohren und verschlossene Türen. Ripper ist gewillt, die atomare Vernichtung der „roten Horden“ durchzuziehen, Mandrake ist hilf- und machtlos.
General Turgidson (George C. Scott) hat es gar nicht gern, wenn man ihn bei seinen Schäferstündchen stört. Das Pentagon lädt zur Krisensitzung, nachdem Präsident Muffley (Peter Sellers – zum Zweiten) von der Auslösung des atomaren „Gegenschlages“ informiert wurde. Turgidson hält einen militärisch-nüchternen Vortrag über die Umstände, die nun eingetreten sind, und weist immer wieder darauf hin, dass er sich über das Verhalten Rippers nicht äußern wolle, bevor er nicht genau wisse, warum der den „Code Red“ ausgelöst hat. Der Vernichtung der Sowjetunion stünden leidliche 25 Millionen Tote in den Vereinigten Staaten gegenüber, falls die Russen zurückschlagen würden, meint Turgidson, als ob er aus der Bilanz eines Unternehmens zitiere.
Muffley hingegen zitiert – unter Protest Turgidsons – den russischen Botschafter de Sadesky (Peter Bull) in das geheime Kommandozentrum des Pentagon, um ihn und dann auch den sowjetischen Premier Kissof zu unterrichten. Letzterer ist am roten Telefon kaum ansprechbar. Auch er hat sein Schäferstündchen und scheint besoffen. De Sadesky erfährt, dass das Pentagon keinen Kontakt zu Ripper hat, der sich und Mandrake eingebunkert hat, und man daher auch mangels Kenntnis des Rückzugs-Codes die Bomber nicht erreichen könne. De Sadesky seinerseits verkündet, dass in diesem Fall die neue sowjetische „Weltvernichtungsmaschine“ in Gang gesetzt werde, und wenn das geschehe, gebe es ebenfalls keine Möglichkeit, den Prozess der atomaren Vernichtung zu stoppen.
Muffley ordnet an, den Stützpunkt Rippers zu erobern, was den Truppen schließlich auch gelingt, allein Ripper zog es angesichts dessen vor, sich im Bad zu erschießen und den Code mit in die Ewigkeit zu nehmen. Muffley informiert die Russen über alle Geheimnisse der Bomber, Mandrake kommt – es geschehen noch Wunder – hinter den Code, etliche Bomber werden von den Sowjets abgeschossen. Aber einer kann unter dem Radar weiter seinem Ziel entgegen steuern. Denn in Major „King“ Kongs (Slim Pickens) Bomber wurde durch einen Raketenangriff der Funk lahmgelegt.
Nicht verzagen: Man hat ja schließlich noch den Wissenschaftler Dr. Strangelove (Peter Sellers zum Dritten), den ehemals besten Mann aus Hitlers Expertengremium, den die USA nach 1945 „erbten“. Nicht nur dessen rechter, steifer Arm trauert dem Führer noch nach. Die Elite der Vereinigten Staaten, Männer und zehn Mal so viele Frauen sollen sich in die atomar angeblich sicheren Bergwerke begeben, um ein unterirdisches Dasein zu fristen (immerhin: pro Mann zehn Frauen!), um nach Ablauf der atomaren Halbwertszeit „das Reich“ (welches auch immer) wiederersten zu lassen ... We’ll meet again – wherever, whenever.
Kubricks Schauplätze sind ein Bomber – unter Leitung des texanischen und texanisch sich aufführenden Major „King“ Kong, der mit patriotischen Sprüchen nicht sparsam umgeht und den Cowboy-Hut nie absetzt –, die Umgebung des Luftwaffenstützpunkts, das Pentagon und das Büro Rippers – ein von der Inszenierung her gesehen sparsamer Umgang mit räumlichen „Ressourcen“ angesichts der drohenden atomaren Vernichtung, aber eben ausreichend, um das Szenario in einer zugleich erschreckenden wie komödiantischen Weise zu entfalten. Auf diesen Schauplätzen lässt Kubrick seine Figuren tanzen, Figuren, die sich bemühen, dem Ernst der Lage gerecht zu werden und darin gnadenlos scheitern. Als da sind:
Der völlig verrückte, aber eben die militärische und politische Logik des „Kalten Krieges“ letztlich nur zu Ende denkende und von einem diffusen kommunistischen Feindbild beherrschte, ja übermannte General Ripper, der das Gespenst von vergiftetem Wasser (die Sowjets hätten das Wasser mit Fluorid angereichert) an die Wand malt und sozusagen zum therapeutischen Ausgleich ständig mit einer übergroß, ja phallisch wirkenden Zigarre im Mund herumläuft.
Zwischen Ripper und dem atomaren Desaster steht anfangs nur der Brite Mandrake, der sein Entsetzen, seine Angst, seine Panik angesichts der Situation kaum verbergen kann, das aber genau muss, weil er ansonsten Ripper, der seine Pistole demonstrativ auf dem Schreibtisch liegen hat, zu fürchten hätte. Mandrake reißt sich zusammen und wartet auf eine günstige Gelegenheit.
Dann ist da ein Präsident, der es im Grunde nicht fassen kann, was um ihn herum und in Richtung Feindstaat passiert, der versucht ruhig zu bleiben, auch als er den zu allem Überfluss angetrunkenen sowjetischen Präsidenten am Telefon beruhigen und zu „geeigneten Maßnahmen“ überreden muss, um das Schlimmste abzuwenden.
Hinzu gesellt sich ein General, Turgidson, der wahrscheinlich auch in einer Situation, in der ihm eine Bombe vor die Füße geworfen würde, noch in strenger militärischer Logik seine Vorträge halten und seine Überlegungen preisgeben würde.
Im letzten US-Bomber schließlich „King“ Kong aus Texas, der – als der automatische Auslöser für die Bombe nicht funktionieren will – texanisch-praktisch die Sache selbst in die Hand nimmt und sich auf die Bombe setzt, als wenn er einen Gaul im Rodeo besteigen würde. Slim Pickens spielt diese Rolle hervorragend, auch wenn statt ihm auch – zum Vierten – Peter Sellers vorgesehen war, der sich jedoch ein Bein gebrochen hatte und im übrigen (als Engländer) den texanischen Akzent nicht beherrschte.
Dialoge und Verhalten der Beteiligten demonstrieren auf eindrückliche Weise das gefährliche Spiel der Strategie der atomaren Abschreckung. Nicht nur dies. Nomen est Omen: Ripper: gleich Jack the Ripper; Mandrake: Alraunwurzel, der nachgesagt wird, die Potenz zu steigern; „Buck Turgidson“: „buck“ bedeutet Zuchthengst, „turgid“ angeschwollen; Merkin Muffley: „merkin“ bedeutet im Slang weibliche Schamzone, „muff“ Schamhaare (der Präsident möchte nicht als Massenmörder in die Geschichte eingehen – obwohl es nach einem atomaren Gegenschlag wohl keine Geschichte mehr geben wird); Kissof: „kiss-off“ bedeutet etwa Anfang eines Desasters; de Sadeski: der Marquis de Sade; King Kong muss niemand erklärt werden und last but not least „strange love“: perverse Liebe.
Apropos: Während der Sitzung im Pentagon ruft Turgidsons Geliebte an. Der plappert am Telefon:
„Gut, schau Kleines, ich kann nicht, kann mit Dir jetzt nicht sprechen, aber..., mein Präsident braucht mich jetzt. Selbstverständlich würde Bucky eher wieder bei Dir sein (Pause) – selbstverständlich, es ist nicht nur körperlich. Ich respektiere Dich zutiefst als menschliches Wesen. Eines Tages mache ich Dich zu Mrs. Buck Turgidson. (Pause), – hör zu, geh’ wieder schlafen. Bucky ist zurück, sobald er kann. In Ordnung? Hör zu, Süße, vergiss nicht Deine Gebete.“
Ebenso bissig und aufschlussreich ist Dr. Seltsams Rede über ein Leben nach dem Tod, sprich: nach dem atomaren Endsieg-Kahlschlag (die Analogie zu den deutschen Wissenschaftlern, die nach dem zweiten Weltkrieg begierig durch die USA aufgenommen wurden, oder auch zu dem deutschstämmigen Henry Kissinger sind offensichtlich):
„Strangelove: Ich würde die Wahrscheinlichkeit nicht völlig außer Betracht lassen, einen Kern der menschlichen Spezies zu erhalten. Es würde ziemlich einfach ... eh, eh ... [er fährt seinen Rollstuhl ins Licht; in seiner schwarzen Brille spiegelt sich das Neonlicht] sein, ganz unten in eh ... einigen unserer tieferen Bergwerke. Radioaktivität würde nie in eine Grube einige Tausend Fuß tief eindringen, und in wenigen Wochen könnten genügend Verbesserungen dort leicht durchgeführt werden. Präsident: Wie lang würden man dort unten bleiben müssen? Strangelove: ...Ich würde ...uh, vielleicht uh... [er hat mit seinem steifen Arm zu kämpfen, der sich immer wieder zum Hitlergruß nach oben bewegt] hundert Jahre denke ich ..., das wäre nicht schwierig, mein Führer!!!! [Strangelove reißt sich zusammen] Kernreaktoren könnten, eh ..., [wieder der Arm] Pardon, Herr Präsident. Kernreaktoren könnten Energie fast unbegrenzt zur Verfügung stellen. In Gewächshäusern könnten Pflanzen angebaut werden. Tiere könnten gezüchtet und geschlachtet werden. Eine schnelle Aufstellung aller vorhandenen Bergwerke im Land müsste her, aber ich würde schätzen, dass für mehrere Hunderttausende unserer Leute dort Platz wäre. Präsident: Gut, ich, ... ich würde es hassen, entscheiden zu müssen ..., wer oben bleibt und ..., wer runter geht. Strangelove: Das wäre gar nicht erforderlich, Herr Präsident. Das könnte mit einem Computer erledigt werden. Und ein Computer könnte so eingerichtet und programmiert werden, dass Faktoren wie Jugend, Gesundheit, sexuelle Fruchtbarkeit, Intelligenz und Querschnitt der notwendigen Fähigkeiten darüber entscheiden. Selbstverständlich würde es absolut lebenswichtig sein, dass unsere Regierung und die hohen Militärs dabei sind, um die erforderlichen Grundregeln der Führung und der Tradition zu garantieren und zu vermitteln.“
Und so spannt Kubrick den Bogen eben auch vom Sieg über den Nationalsozialismus hin zur Strategie der atomaren Abschreckung und wieder – natürlich auf höherem (atomaren) Niveau – zurück zu Menschenzüchtung, Diktatur und Volksgemeinschaft.
Allerdings: Kubrick lässt dies wenigstens im Film nicht zu. In einer ihm eigenen Art endet der Film in einer fast schon virtuosen Groteske des Tanzes der atomaren Pilze: We’ll meet again. Und statt eines sich erübrigenden Fazits hier der Schlusssong von Vera Lynn „We’ll Meet Again Some Sunny Day“:
We'll meet again, don't know where, don't know when But I know we'll meet again, some sunny day Keep smiling through, just like you always do Till the blue skies drive the dark clouds far away So will you please say hello to the folks that I know Tell them I won't be long They'll be happy to know, that as you saw me go I was singing this song ...
2001: Odyssee im Weltraum (2001: A Space Odyssey) USA, Großbritannien 1968, 139 Minuten Regie: Stanley Kubrick
Drehbuch: Stanley Kubrick, Arthur C. Clarke, nach einer Kurzgeschichte von Arthur C. Clarke Musik: Aram Khatschaturian, Richard Strauß, Johann Strauß, Györgi Ligeti Director of Photography: Geoffrey Unsworth, John Alcott Montage: Ray Lovejoy Spezialeffekte: Stanley Kubrick, Wally Veevers
Darsteller: Keir Dullea (Dr. David Bowman), Gary Lockwood (Dr. Frank Poole), William Sylvester (Dr. Heywood R. Floyd), Daniel Richter (Moonwatcher), Leonard Rossiter (Dr. Andre Smyslov), Margaret Tyzack (Elena), Robert Beatty (Dr. Halvorsen), Sean Sullivan (Dr. Roy Michaels), Douglas Rain (HAL 9000), Frank Miller (Mission Controller), Bill Weston, Ed Bishop, Glenn Beck, Alan Gifford, Ann Gillis
Try it again, human being!
Sciencefiction ist mehr als „Star Wars“. „2001: A Space Odyssey“ ist der schlagende Beweis. Für manche ein Sciencefiction mit zu wenig „Action“, für andere unverständlich geblieben, ist dieser Film in gewisser Hinsicht Kubricks zentrales Werk. Zumindest bringt er sein zentrales Anliegen deutlich und unverkennbar zum Ausdruck, um zugleich mehr Fragen aufzuwerfen als Antworten zu geben. Gedreht in einer Zeit des Umbruchs, in der sich „die 68er-Generation“ anschickte, die Welt umzukrempeln, zielen die zentralen Aussagen dieses Meisterwerks doch auch und gerade auf eine kritische Reflexion der (wie immer gearteten) Fortschrittsgläubigkeit. Die Raumfahrt schickte sich an, Menschen auf den Mond zu bringen. Der Glaube an die Allmacht der technologischen Möglichkeiten war auf einem Höhepunkt angelangt.
Im Mittelpunkt der Bilder, die uns Kubrick präsentiert, steht nicht zuletzt und in vorderster Reihe die Aussage, dass primäre Anliegen des „Projekts Aufklärung“ auf einer illusionären Wahrnehmung beruhen. „2001 ...“ ist in vielerlei Hinsicht eine paradox anmutende und wirkende Space-Opera. Sciencefiction und auch kein Sciencefiction, ein geschlossenes Werk, doch zugleich über und über mit „geheimnisvollen“ Brüchen versehen, eine Reise (Odyssee) durch die Transzendenz (Kubrick: „The God concept is at the heart of this film.“) vor mythologischem Hintergrund, gleichzeitig derart realistisch und nüchtern offen, dass es einem die Sprache verschlägt, ein Film, in dem jede Szene, die Ausstattung, die Dialoge, die Bilder und ihre Folge für sich wie im Gesamtkonzept bedeutungsvoll sind, aber zugleich sich weigern, Erklärungen per se zu liefern (Kubrick zur Frage der Interpretation des Schlusses: „I don’t mind discussing it.“). Nicht zuletzt ein Film, der konsequent mit den Wahrnehmungsgewohnheiten und -erwartungen des Publikums spielt. Ein zyklisch angelegtes Opus (Moonwatcher – Embryo), das die zeit-räumliche Ebene sprengt und sich der stringenten Interpretation im Sinne christlich-abendländischer Religion entzieht und doch transzendentaler Philosophie „das Wort redet“.
„2001 ...“ ist offen für alle möglichen Interpretationen, doch zugleich Kubricks deutlichster zivilisationskritischer Film, eine permanente Herausforderung an die Reflexion, ein Werk, das bei jeder erneuten Sicht neue Aspekte aufwirft und Empfindungen auslöst – jedenfalls geht es mir so, der ich den Film vielleicht fünfmal verschlungen habe. Ein Film, der massiv und radikal durch die Bilder wirkt, der extrem manipuliert, doch zugleich diese Manipulation wieder zurücknimmt um zu fordern: Denke und fühle selbst und lass mich nicht Deine Arbeit tun.
Ich gebe den gesamten Inhalt des Films wieder. Also aufpassen, wenn man nicht alles wissen möchte:
The Dawn of Man Ein schwarzer Bildschirm. Strauß „Also sprach Zarathustra“. Die Planeten. Ruhe. Die rote Sonne, eine weite steppenartige Landschaft. Skelette. Affen, die essen und Tiere vertreiben, die ihnen die knappen Nahrungsmittel nehmen. Affen, die sich lausen. Der Angriff eines Raubtieres. Affen an einem Wasserloch, eine andere Gruppe, die die erste vertreibt. Das Wasserloch muss geteilt werden. Affen, die schlafen. Als sie erwachen, herrscht Aufregung. Ein schwarzer Monolith, ein offenbar homogener und fein geschliffener Quader steht in ihrem Lebensraum. Angst, Vorsicht, Lärm. Einer der Affen berührt den Monolithen. Wenig später: Einer der Affen, Moonwatcher (Daniel Richter) sitzt vor einem Tierskelett, spielt mit den Knochen, ergreift einen der größeren, hantiert mit ihm herum, bewegt ihn, schon halb wie ein Werkzeug. Der Monolith im Zenit der Sonne. Moonwatcher haut mit dem Knochen immer wieder auf den Boden. „Also sprach Zarathustra“. Der durch das Werkzeug verlängerte Arm des Affen ermöglicht das Töten von Tieren, aber auch von Menschen, die einem das Wasser streitig machen. Werkzeug, Waffe, Kultur, Schuld. Moonwatcher wirft den Knochen in die Luft, der Knochen dreht sich im Himmel.
Die phantastischste Montage der Filmgeschichte führt uns „wie im Flug“ vier Millionen Jahre weiter in die Weiten des Alls. „An der schönen blauen Donau“. Die Raumfahrzeuge, das erste ein technologischer „Knochen“, und die Raumstation „tanzen“ im Weltraum zwischen den Planeten. Im Innern eines Raumschiffs „tanzt“ ein Kugelschreiber oder Füller schwerelos durch die Kabine. Wie ein Riesenrad im Prater bewegt sich die kreisförmige Raumstation zu Johann Strauß Walzer.
Dr. Floyd (William Sylvester) vom National Council of Astronautics befindet sich auf dem Weg zum Mond. Er geht durch einen hellen, grell weißen länglichen Raum, in dem knallrote Sessel stehen, und nach einem Telefonat mit seiner Tochter, die tags darauf Geburtstag hat, trifft er auf eine Bekannte, Elena (Margaret Tyzack), und deren russische Begleiter. Einer von ihnen, Dr. Smyslov (Leonard Rossiter), fragt Floyd nach den Vorkommnissen auf der amerikanischen Mondbasis Clavius. Man habe von einer Epidemie gehört, ob deshalb jegliche Verbindung zu Clavius abgebrochen sei. Floyd erklärt, darüber nicht sprechen zu dürfen. Sein Weg führt ihn in eine Konferenz auf Clavius, auf der er die anwesenden Wissenschaftler und Experten nochmals um Verschwiegenheit bittet. Floyd und einige andere machen sich auf den Weg zu einem Krater, in dem sich der Monolith befindet. Aus seinem Alter und der Tatsache, dass er ein Kraftfeld erzeugt, schließen die Experten auf außerirdische Lebewesen. Daher die erfundene Geschichte von der Epidemie. Wie die Affen vier Millionen Jahre zuvor stehen die amerikanischen Experten nun vor dem Monolithen. Als einer von ihnen die Gruppe fotografieren will, ertönt ein schriller Ton. Der Monolith steht im Zenit der Sonne.
Jupiter-mission (18 Months Later) Ein längliches Raumschiff, das von der Form her einer riesigen Keule ähnelt, die Discovery, befindet sich auf dem Weg zu Jupiter. Einer der Astronauten joggt durch das Schiff wie ein Hamster in seinem Laufrad. An Bord: Commander Dr. Dave Bowman (Keir Dullea), sein Assistent Dr. Frank Pole (Gary Lockwood) sowie drei in Tiefschlaf versetzte, in sargähnlichen Kabinen liegende Wissenschaftler, deren Lebensfunktionen durch den Sechsten an Bord, das Computersystem HAL 9000, überwacht werden. Dave und Frank essen sich offenbar nur farblich unterscheidbaren Astro-Fraß, sehen sich im Fernsehen ein mit ihnen und HAL aufgezeichnetes Interview an. HAL berichtet den Fernsehzuschauern, dass er 100%ig sicher sei und gerne mit Menschen arbeite. Er sei ständig in Anspruch genommen und arbeite voll im Dienst des Unternehmens. Als der Reporter fragt, ob HAL wie ein Mensch sei, antwortet Dave: Ja, er reagiere so, als ob er Gefühle habe, er sei darauf programmiert.
Frank ruht auf einer Liege. Über TV hört er sich lustlos und teilnahmslos die Geburtstagsglückwünsche seiner Eltern an. Während Frank mit HAL Schach spielt und verliert, zeichnet Dave die drei Tiefschläfer. HAL möchte die Bilder durch sein „rotes Auge“ mit gelber Pupille sehen.
HAL stellt Dave eine Frage: Ob er mit der Mission im Einklang stehe. Ihm, HAL, käme alles etwas merkwürdig vor: ein Monolith auf dem Mond, Wissenschaftler im Tiefschlag, absolute Geheimhaltung. HAL meldet den Astronauten, dass in 72 Stunden die Alpha-5-Einheit einen Totalausfall haben werde. Doch Frank findet beim Ausstieg keinen Fehler. Ob er sich nicht geirrt haben könne, wird HAL gefragt.
Frank und HAL begeben sich in eine Raumkapsel und stellen die Funkverbindung zu HAL ab, um ungehört reden zu können. Sie zweifeln an HALs Funktionsfähigkeit. Sie beschließen, wenn sich herausstelle, dass er fehlerhaft arbeite, müssten sie ihn notfalls abstellen. HAL aber liest die Worte der beiden über sein Auge von den Lippen ab.
Intermission Kubrick versetzt nun das Publikum zwei Minuten vor eine schwarze Leinwand. Musik von Ligeti. Dann hört man das schwere Atmen von Frank, der sich ein weiteres Mal außerhalb der Raumfähre im All bewegt. HAL lässt ihn ins Bodenlose stürzen, Frank treibt regungslos davon. Dave begibt sich in einen Raumgleiter und versucht Frank mit den Greifarmen des Gleiters zu retten. Inzwischen stellt HAL die Lebensfunktionen der drei Tiefschläfer ab und verweigert Dave die Rückkehr in das Raumschiff. HAL sagt Dave, der würde das Unternehmen gefährden, weil Dave beabsichtige, ihn abzustellen. „Das Gespräch hat keinen Zweck mehr. Es führt zu nichts. Leb wohl.“ Dave schafft es, durch die Notschleuse in das Raumschiff zu gelangen. HAL fragt Dave, was er vor habe. Er räumt ein, dass er nicht ganz in Ordnung war, versichert jedoch, bald wieder ganz normal zu funktionieren. Ohne darauf zu reagieren, nimmt Dave einen Schlüssel und stellt HAL nach und nach ab. HAL sagt, er habe Angst. Sein Gedächtnis schwindet. HAL reagiert zunehmend wie ein Kind. Er kennt ein Lied, dass ihm sein Schöpfer beigebracht habe. „Ich möchte es gern hören“, sagt Dave. HAL singt „Hänschen klein“. Seine Stimme wird langsamer und dunkler. Nach der letzten Zeile „läuft nach Haus’ geschwind“ ist HAL völlig abgestellt.
Die Bodenstation gibt Dave den Zweck der Reise zum Jupiter bekannt. Die Strahlung des Monoliths seit auf Jupiter gerichtet. Man rechne mit außerirdischem Leben.
Jupiter and Beyond the Infinite Der Monolith schwebt durch den Raum. Die Planeten des Sonnensystems reihen sich wie Perlen in einer Gerade auf. Der Monolith reiht sich ein. Dave wird in einen undefinierbaren „Strudel“ gerissen, durch eine farbige Schleuse im All. Er sieht, ohne einen Laut von sich zu geben, bei rasender Geschwindigkeit farbige Sternhaufen, Spiralen, Farbtupfer und Farbkleckse, Schlieren, Kristalle. Ganze Landschaften in grellen, künstlich wirkenden Farben tun sich auf, erste hellblau und braun, dann gelb, grün, Inseln, ein violetter Himmel. Nach einer ganzen Weile steht seine Raumkapsel plötzlich in einem Raum, mit gläsernem Boden und barocker Einrichtung, grünen Möbeln und hellblauen Wänden, Skulpturen und einigen alten Gemälden. Dave steht da in seinem roten Raumanzug und geht ins das nächste Zimmer, das Bad. Er betrachtet sich im Spiegel, scheint gealtert zu sein.
Als er sich zum ersten Raum zurückwendet, sieht er einen ergrauten alten Mann, schwarz gekleidet. Es ist Dave selbst, der isst und trinkt. Ein Glas fällt ihm zu Boden. Als er danach schaut, sieht er sich selbst, steinalt, ohne Haare, im Bett liegen, sterbend. Der sterbende Dave hebt die Hand und zeigt mit dem Finger auf den Monolith, der im Raum steht. Es ist still. Auf dem Bett liegt ein Embryo in der Fruchtblase.
Das All. „Also sprach Zarathustra.“ Der Embryo schwebt durch den Weltraum, die Augen geöffnet, mit reglosem Gesicht, den Blick auf den Mond gerichtet. Zweifelnd?
„An der schönen blauen Donau.“
Kaum ein Film hat so viel Diskussionen ausgelöst wie Kubricks Space-Opus. Kubrick lässt dem Betrachter enorm viele Möglichkeiten zur Interpretation, vor allem stellt er mit „2001: ...“ einen „Raum der Empfindung“ zur Verfügung. Die Dialoge sind spärlich und zumeist dem äußeren Anschein nach arm an Inhalt. Umso mehr manipulieren die Bilder im Verein mit der Musik. Trotz allen „Mangels“ an „Erklärung“, trotz aller Zurückhaltung Kubricks in bezug auf Botschaften oder eigener Sinngebung des Geschehens enthält „2001: ...“ eine Dichte an Bedeutung wie kaum ein anderer Film. Dieses Paradoxon erklärt sich durch eine in dieser Form einmalige Bildersprache und Bilderabfolge – gepaart mit gezieltem Einsatz von Musik –, die den grundlegenden Zweifel an dem, was gemeinhin als Summe von Zivilisation + Fortschritt + Aufklärung = soziale Evolution im positiven Sinn charakterisiert wird, zum Ausdruck bringt.
Es wird darum gestritten, ob der Monolith Zeichen einer übernatürlichen Kraft (Gott) oder einer außerirdischen Intelligenz sei. Ich halte diese Frage – trotz oder gerade wegen Kubricks eigenem Einwurf („The God concept is at the heart of this film.“) für relativ belanglos. Der Monolith ist der „Anstoß“ für die Entwicklung von Kultur, manifestiert zuerst im Gebrauch von Gegenständen als Werkzeug und Waffe und auch Objekt der Reflexion. Die Berührung des Monolithen kann als auslösende Moment betrachtet werden, ebenso aber als mythologisches Bild analog zur Vertreibung aus dem Paradies: Der Biss in den Apfel, der Mensch wird schuldig.
Moonwatcher sitzt vor dem Skelett und „sinniert“, „überlegt“, „denkt“ und reflektiert den Knochen in seiner Nutzung als Nicht-Knochen: Zum Jagen von Tieren und zum Töten von Menschen. Das ist der Beginn von Kultur – wie auch immer man ihn sehen will: „realistisch“, mythologisch, religiös.
Er modifiziert den Knochen in seiner ursprünglichen Eigenschaft. Der Knochen wird zur ersten „Technologie“, zum Gebrauchsgegenstand jenseits seiner ursprünglichen Funktion. Das, was Moonwatcher dabei „vergisst“, ist die Reflexion über die „Folgen“ dieses Gebrauchs. Schon in dieser Anfangsszene spaltet sich der allererste Erkenntnisprozess des „neuen Menschen“, der noch Affe ist, in „Tun“ und „Folgen“, in Ursache und Wirkung, in kausales Denken, in das Auseinanderklaffen einer „an sich“, bis dahin praktischen Einheit. Eine Ethik wird daher erst im nachhinein denkbar, sozusagen als Reaktion „nach den Folgen“, als Katalog hehrer Grundsätze, statt als Ergebnis praktischer Überlegung bzw. mit-gedachtes Resultat eines einheitlichen Prozesses von Praxis und Denken im praktischen Vorgang. Das Denken spaltet sich von der Erfahrung, die Reflexion von der Praxis, der Kopf vom Körper.
Das ist genau das – ja „Problem“ wäre zu gelinde gesagt – strukturelle Moment dessen, was wir heute als Zivilisation bezeichnen. In der denkmöglichen Trennung von Denken und Erfahrung liegt der Keim für eine sehr spezifische Denkweise. Wenn ich die Welt denken kann, kann ich sie mir zunutze machen. Wenn ich sie mir zunutze machen kann, kann ich mich ihrer bemächtigen. Folge: Der Mensch, der sich zur „Krone der Schöpfung“ erklärt mit dem Recht, sich die Welt untertan zu machen – nach uns die Sintflut. (Theorien über „ganzheitliches Denken“ in „Netzwerkstrukturen“, wie sie in den 70er Jahren aufkamen, versuchten diesen strukturellen „Mangel“ allen bisherigen Denkens und Handelns zu kritisieren und Gegenentwürfe zu entwickeln.)
Der gewaltigste Film-Schnitt der Filmgeschichte – vom in die Luft geworfenen Knochen zum Raumschiff vier Millionen Jahre später – versinnbildlicht auf eindrucksvolle Weise die Kontinuität einer Kultur, in der sich in dieser Hinsicht tatsächlich so gut wie nichts geändert hat. Die „verbliebene Kommunikation“ der Menschen in den Raumstationen und -schiffen in „2001: ...“ besteht in einer Mischung aus formalen Freundlichkeiten und technizistischer „Sprache“, gepaart mit einer extrem ausgebildeten kontrollierten Unterdrückung von Emotionen. Der defizitäre, kontrollierte, technizistische „Sprache“ ist die Anpassung des emotionsbeladenen Menschen an das Denken der Herrschaft über die Welt. Gefühle stören.
Man schaue in das Gesicht von Dave, als ihm der Weltraum-Tod droht, weil HAL ihn nicht wieder in die Raumfähre hinein lassen will: er beherrscht seine Gefühle bis zum „rationalistischen Exzess“ – was ihm allerdings (ausgerechnet!) in dieser Situation das Leben rettet. Auch der Vortrag Floyds vor den versammelten Wissenschaftlern, der Anruf bei seiner Tochter, das „Gespräch“ über das Essen oder Franks teilnahmsloses Aufnehmen der Geburtstagsglückwünsche seiner Eltern repräsentieren einen fast schon „maschinellen“, durchrationalisierten zwischenmenschlichen Umgang als aber eben zu Ende gedachte Herrschaft eines Rationalismus, der keine Emotionalisierung menschlicher Beziehungen mehr kennt.
Ganz im Gegensatz dazu und wiederum in paradoxer Weise reagiert HAL 9000, ein Computersystem, dem auch „Gefühle beigebracht“ wurden. Als Frank und Dave überlegen, ihn notfalls abzuschalten, reagiert HAL „emotional“: Bevor er „getötet“ wird, tötet er lieber das Team an Bord. Als Dave einen Schaltkreis nach dem anderen bei HAL abstellt, bekommt HAL „Angst“ und endet in einer kindlich-naiven, fast schon spielerisch anmutenden Weise. Er singt „Hänschen klein“. Dieses Kinderlied kann auch als eine Art Hilferuf an die verloren gegangene Durchdringung menschlichen Handelns durch Emotionalität verstanden werden – ein Rekurs auf die Vergangenheit vier Millionen Jahre zuvor.
„2001: ...“, das soll hier nochmals betont werden, entstand in einer Zeit ungebändigten Fortschrittsglaubens – trotz der kritischen Stimmen, die sich aus der Erfahrung des Faschismus beispielsweise in den Schriften von Adorno und Horkheimer Geltung verschafften. Die „Studentenbewegung“ wollte davon – entgegen aller gegenteiligen Behauptungen – in ihrer Wortführerschaft nicht sehr viel wissen. Es wurde „Position“ bezogen, nicht in Form eines Gegenentwurfs zum zivilisatorischen „Konzept“, sondern als Pseudo-Alternative in dessen Rahmen: Marxismus-Leninismus oder bestimmte Abarten davon. War die Aufklärung einerseits „der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (Kant), so eben andererseits auch das Robespierre’sche „Tugend durch Terror“, ein in die Brutalität zu Ende gedachter Rationalismus.
Die Menschen an Bord der Raumschiffe und -stationen in „2001: ...“ sind keine Mörder, keine Hitler und keine Stalin, aber eiserne Verfechter des Prinzips „Der Zweck heiligt die Mittel“ – und deshalb eben doch potentielle „Zerstörer“ und Hilflose ihrer Spezies zugleich.
Kubrick selbst „pendelt“ in der Inszenierung zwischen tiefgreifender Zivilisationskritik hier und Bewunderung für die (technologischen) menschlichen Errungenschaften dort. Der „Tanz“ der Raumschiffe vor dem Hintergrund des Planetensystems ist zum einen ein Tanz der Vampire. Aber zugleich drückt sich in diesen Bildern etwas Feierliches aus, ein Staunen vor den Leistungen der menschlichen Gemeinschaft. Es ist diese Sicht der menschlichen Entwicklung zwischen Barbarei und Humanität die „2001: ...“ zu einem zutiefst ehrlichen Film hat werden lassen, einen Film ohne das Pathos der simplen Botschaften oder äußerlichen Appelle an die Menschlichkeit. Das Bild des Menschenkindes am Schluss widersetzt sich irgendeinem wirklichen Ende, Schluss, der Abgeschlossenheit. „2001: ...“ ist wie eine Oper komponiert – die Ouvertüre in „The Dawn of Man“, der Hauptteil im Jahre 2001 und der tragische Schluss –, doch zugleich so offen und verletzlich wie eine tiefe Wunde.
Es entbehrt daher nicht nur eines Fazits. Es gibt kein Fazit. Oder wie sich Arthur C. Clarke ausdrückte: „Wenn Sie 2001 vollständig verstanden haben, haben wir versagt: Wir wollten viel mehr Fragen stellen, als wir beantwortet haben.“ Try it again, man.
Zusätzliche Informationen und Zitate: „Epilog Filmlexikon“: http://www.epilog.de/Film/1-9/2001_Odyssee_im_Weltraum_GB_1968.htm Peter W. Jansen (Hrsg.): Stanley Kubrick, München / Wien 1984 Arthur C. Clarke: 2001: Odyssee im Weltraum, Düsseldorf 1969 Arthur C. Clarke: The Lost Worlds of 2001, Boston 1972
Uhrwerk Orange (A Clockwork Orange) Großbritannien 1971, 137 Minuten Regie: Stanley Kubrick
Drehbuch: Stanley Kubrick, nach einer Vorlage von Anthony Burgess Musik: Nacio Herb Brown, Wendy Carlos, Rachel Elkind, Edward Elgar, Henry Purcell, Nikolai Rimsky-Korsakov, Gioacchino Rossini, Ludwig van Beethoven Director of Photography: John Alcott Montage: Bill Butler
Darsteller: Malcolm McDowell (Alexander DeLarge, Erzähler), Patrick Magee (Frank Alexander), Michael Bates (Barnes), Warren Clarke (Dim), John Clive (Schauspieler), Adrienne Corri (Mrs. Alexander), Carl Duering (Dr. Brodsky), Paul Farrell (Tramp), Clive Francis (Joe, Untermieter), Michael Gover (Gefängnisdirektor), Miriam Karlin (Miss Weatherly), James Marcus (Georgie), Pete (Michael Tarn), Aubrey Morris (P. R. Deltoid), Godfrey Quigley (Gefängnis-Kaplan), Sheila Raynor (Mrs. DeLarge)
Der sozialdisziplinierte Mensch
Kubricks „A Clockwork Orange“ firmiert seit 30 Jahren als bissige Gesellschaftssatire über die Frage, ob Staat und Gesellschaft das Recht haben, kriminelle Gewalt dadurch zu bekämpfen, dass man dem „Gewalttäter“ den freien Willen nimmt – wie im Film Alex DeLarge, der seine Geschichte vom „Gewalttäter“ zum „willenlosen Subjekt“ selbst erzählt. Ich meine, dass in dem durchkomponierten Kunstwerk, das Kubrick 1971 in die Kinos brachte und das ihm Kritiken von „brutal und inhaltsleer“ bis „bitterböse Satire auf die Entmenschlichung unserer Gesellschaft“ einbrachte, wesentlich mehr steckt als „nur“ eine solche Kritik. In Kubricks Filmen steht im Zentrum oft die „Frage der Gewalt“, aber nicht so sehr in einem moralisch-ethischen Sinne, sondern tatsächlich als eine Frage, mit der sich der Regisseur intensiv und vor allem im Hinblick auf die Genese von Gewalt, auseinander gesetzt hat. Das gilt zumindest für „Full Metall Jacket“ (1987) – Kubricks „Vietnam-Film“ – , „The Shining“ (1980), „Lolita“ (1962) und „Spartacus“ (1960), in einem speziellen Sinn auch für „2001: Odyssee im Weltraum“ (1968). Für „A Clockwork Orange“ nicht unwesentlich ist zudem der Zeitraum der Entstehung des Films.
Alexander DeLarge (Malcolm McDowell) erzählt seine Geschichte: „Das hier bin ich: Alex, und meine drei droogs [Slang für: Kumpels]: Pete [Michael Tarn], Georgie [James Marcus] und Dim [Warren Clarke]. Wir hockten in der Korova Milchbar und wir überlegten uns, was wir mit diesem Tag anfangen sollten. In der Korova Milchbar konnte man Milch-Plus kriegen. Milch mit Velocet [ein Halluzinogen]. Das heizt einen an und ist genau das richtige, wenn man Bock auf ein bisschen äußerste Gewalt hat.“ Alex Lebensinhalt ist Gewalt – gegen einen betrunkenen Penner (Paul Farrell) oder gegen eine rivalisierende Bande in Nazi-Kleidung, die auf der Bühne eines verfallenen Opernhauses dabei sind, eine Frau zu vergewaltigen. Alex und seine Gang träumen ebenfalls davon „to perform a little of the old in-out, in-out“, von sadomasochistischem Sex und von Vergewaltigung.
Mit bizarren Masken dringen die vier in das Haus der Alexanders ein. Alex trägt eine Maske mit einer langen, phallusartigen Nase. Sie verprügeln den Schriftsteller Frank (Patrick Magee) und vergewaltigen seine Frau (Adrienne Corri) vor seinen Augen. Frank wird so schwer verletzt, dass er fortan im Rollstuhl sitzen muss, seine Frau stirbt später, weil sie das, was man ihr angetan hat, nicht verkraftet.
Wenige Zeit später versuchen die vier, in das Haus der „Cat Lady“ (Miriam Karlin) einzubrechen. Alex gelingt dies und er tötet die Frau mit einem großen Kunststoff-Penis. Als er das Haus verlässt, schlagen ihn seine Kumpels zusammen und die kurz darauf eintreffende Polizei nimmt ihn fest. Alex wird zu 14 Jahren Gefängnis wegen Mordes verurteilt.
Im Gefängnis beträgt sich Alex vorbildlich, lässt sich nichts zu schulden kommen und ergreift die Gelegenheit, sich einem Experiment des Innenministers (Anthony Sharp) zur Verfügung zu stellen. Das sieht vor, dass der Delinquent aus dem Gefängnis in eine Anstalt verlegt wird, in der er sich einer neuen Form der Behandlung, der „Ludovico Treatment Technique“, unterziehen muss. Ziel dieser Technik ist es, schon den Gedanken an Gewalt und Sexualität zu bestrafen. Alex Körper und Kopf wird verkabelt, seine Augen mit Zangen offen gehalten, so dass er sie nicht schließen kann. Er bekommt Tropfen in die Augen geflößt und muss sich stundenlang gewalttätige Filme anschauen. Das Ergebnis der zweiwöchigen Therapie: Sobald Alex auch nur an Gewalt oder Sexualität denkt, wird ihm übel, schwindlig, es stößt ihn ab. Sogar seine Widerstandsfähigkeit gegen Angriffe auf ihn ist nun gleich Null. Alex ist nicht mehr der gewissenlose Gewalttäter, sondern ein willenloses Subjekt, das keine Straftaten mehr begehen wird. Der Minister, die Ärzte und andere Experten sind zufrieden. Das Experiment ist geglückt.
Aber wie wird die Umwelt auf diesen „neuen“ Alex reagieren? ...
„A Clockwork Orange“ spielt in der nahen Zukunft, 1983. Der Titel des Films ist ein Wortspiel – ein mechanisches, künstliches, roboterhaftes Wesen, „orange“ Orang-Utan, eine haarige affenartige Gestalt. Die Sprache der vier „droogs“ (Burgess nannte sie Nasdat) ist eine Mischung aus englischer und russischer „vornehmer“ Sprache und Slang. Alex Interessen – Vergewaltigung, extreme Gewalt und Beethoven – praktiziert er in einer polizeistaatsähnlichen Umgebung, aber auch in einer von grellen, sich beißenden Farben, Plastikmöbeln, moderner Kunst und kalten Räumen geprägten Atmosphäre des (sozialen) Desinteresses und Egoismus.
Kubrick inszeniert die gewalttätigen Szenen im ersten Drittel des Films virtuos als Ballett, durchzogen von klassischer Musik oder sentimental-schönen Hits wie „Singin’ in the Rain“, die – während der Vergewaltigung von Mrs. Alexander – zur Perversität des Geschehens beitragen. Der zeitgenössische Vorwurf, Kubrick habe damit zur Gewaltverherrlichung beigetragen, ist unsinnig. Er inszeniert und visualisiert die Mentalität seiner zentralen Figur aus dessen Sicht: Sein Leben ist eine Sinfonie aus Gewalt und gewalttätigem Sex. Etwas anderes kennt er nicht, will er nicht. Kubrick fragt – scheinbar – nicht nach der Entstehung dieser Mentalität. Das allerdings täuscht, wenn man sich den Film als Ganzes vor Augen führt. Während er im ersten Drittel den Eindruck erweckt, Gewalt würde von Personen ausgeübt, die sich quasi außerhalb der Norm gestellt haben und deshalb verfolgt werden müssten, offenbaren die Drohungen des Bewährungshelfers Deltoid (Aubrey Morris) schon etwas anderes: Er verlangt von Alex, sich aus allem Schmutz herauszuhalten, sich also einer freiwilligen „Gehirnwäsche“ zu unterziehen – und greift ihm, während er dies sagt, fest an seinen Genitalien. Das Normale erweist sich schon hier als Abstraktum, denn es rührt nicht aus Erfahrung, sondern stellt sich gegen sie. Als Alex sich dem Experiment stellt, in einem ambivalenten Sinne „freiwillig“ (denn wenn er es erfolgreich hinter sich bringt, wird er freigelassen), setzt man ihm die „Dornenkrone“ auf. Alex starrt – wie tot, mit aufgerissenen Augen – auf die Leinwand, die ihm die ganze Gewalt der Geschichte und der Gesellschaft demonstriert. Die Abscheu, die dies in ihm hervorrufen soll, entsteht – aber nicht aus einer allumfassenden Absicht der Ächtung von Gewalt, sondern mit dem Ziel des Schutzes der legalen und legitimen Staatsgewalt.
Die Analogie zur Kreuzigung Jesus ist aus dieser Szene nicht wegzudenken: Die „Dornenkrone“ (Verkabelung), das „Kreuz“ (die Leinwand), die „Mörder“ des „freien Willens“ (Staat und Ärzte) – eine extreme Provokation, die jedoch einen realen Hintergrund hat.
Denn so abscheulich das ist, was Alex und seine Bande getan haben: die „Mörder“ des „freien Willens“, der Widerstandsfähigkeit praktizieren nichts anderes, als aus einem Menschen eine funktionierende Maschine zu kreieren, einen disziplinierten Mechanismus, wie ihn „die Gesellschaft“ vermeintlich braucht. „Die Gewalt“ erweist sich – wie man einzelne Akte der Gewalt auch beurteilen mag – als zentrales, ja konstituierendes Moment von Gesellschaft. Sie entstammt nicht Menschen, die sich außerhalb ihrer gestellt haben, sondern ihr selbst.
Existieren die Polizei, die Staatsmacht nur, weil die Gewalt besteht? Oder umgekehrt? Keines von beiden. „Verbrecher“ und „Staatsmacht“ sind zwei Seiten einer Medaille. In „2001: A Space Odyssey“ gibt es eine ganz ähnliche Analogie, als einer der ersten Menschen gezeigt wird, wie er einen größeren Knochen aus einem Skelett aufhebt, ihn zunächst auf und ab bewegt, dann damit auf den Boden schlägt und entdeckt, dass er mit der Wucht dieses, seines verlängerten Arms töten kann, erst Tiere, dann auch Menschen. Das ist die Geburtsstunde der Waffe, vor allem aber der Gewalt als sozialer Erscheinung. Wenig später schmeißt er den Knochen in die Luft, Kubrick wechselt die Szene und zeigt – Tausende Jahre später – ein Raumschiff – der moderne verlängerte Arm der Gewalt.
Die erfolgreiche Mutation eines gewalttätigen jungen Mannes zum willenlosen, blutarmen Werkzeug verschafft ihm jedoch keine Ruhe. Zwei seiner Freunde sind ebenfalls mutiert: zu Polizisten, die ihn zusammenschlagen, fast ertränken.
Ein Gegenentwurf zur christlichen Heilslehre? Vielleicht, aber nicht nur. „A Clockwork Orange“ ist in meinen Augen vor allem ein kritischer Wurf gegen die Folgen und Bedingungen der Aufklärung, gegen das, was man auch „Sozialdisziplinierung“ nennen könnte, gegen das von Foucault beschriebene „Gefängnis“, die von Norbert Elias analysierte Einzwängung der emotionalen Bedürfnisse in das zivilisatorische Korsett und die schleichende Disziplinierung, gegen das allumfassende Bewerten, „Schubladisieren“, Einordnen, Interpretieren.
Der Historiker Gerhard Oestreich, der sich mit den Folgen sozialdisziplinierender Prozesse beschäftigte, zitierte in einem seiner Aufsätze den Anarchisten Proudhon: „Proudhon hat in einem Satz die Gesamtwirkung [von Sozialdisziplinierung] in der Sicht eines Anarchisten beschrieben: ‘Regiert sein, das heißt unter polizeilicher Überwachung stehen, inspiziert, spioniert, dirigiert, mit Gesetzen überschüttet, reglementiert, eingepfercht, belehrt, bepredigt, kontrolliert, eingeschätzt, zensiert, kommandiert zu werden [...], bei jeder Handlung, bei jedem Geschäft, bei jeder Bewegung notiert, registriert, erfasst, gestempelt, vermessen, bewertet, versteuert, patentiert, lizenziert, autorisiert, befürwortet, ermahnt, verhindert, reformiert, ausgerichtet, bestraft zu werden.’ Das sind die negativen Resultate, mit denen wir auch heute noch nicht fertiggeworden sind« (1).
Kubricks Film erscheint wie eine satirische, bitterböse Farce über diesen Prozess, zu einer Zeit, als sich Menschen aufmachten, die Schrecken der Vergangenheit aus ihrer Verdrängung zu treiben, sich aber gleichzeitig neuen (alten) Ideologien über den „neuen Menschen“ verschrieben. Einem der Opfer von Alex, dem Schriftsteller Alexander, steht die Wut, der Hass im Gesicht geschrieben, als er Alex aufpäppelt. Alexander ist Gegner der Ludovico-Technik, aber als er erkennt, dass Alex der Peiniger seiner Frau ist, steigt auch in ihm die Bereitschaft zur Gewalt. Der Fortschritt und das fortschrittliche Denken verkehren sich in die Bereitschaft zum Mord, von der Alexander nur deshalb keinen Gebrauch macht, weil der Innenminister sein erklärter Gegner ist.
„A Clockwork Orange“ ist nach 30 Jahren ein für mich noch immer aktueller, sehr gegenwärtiger und gegenwartsbezogener Film. Das, was man mit dem Begriff „Diktatur“ umschrieben hat, ergießt sich heutzutage nicht mehr so sehr aus den inszenierten Gesten eines „Führers“ und dem schlachtenden Hinlangen seiner Adjutanten und Helfershelfer; sie ist subtiler geworden, schleichender, unmerklicher. Sie diszipliniert uns, ohne das wir es unbedingt bemerken. Sie überzieht uns mit einer Normalität, die wir uns oft empörend weigern auch nur ansatzweise in Frage zu stellen.
(1) Gerhard Oestreich, Geist und Gestalt des modernen Staates. Ausgewählte Aufsätze, Berlin 1969, S. 195 f.
Barry Lyndon (Barry Lyndon) Großbritannien 1975, 184 Minuten Regie: Stanley Kubrick
Drehbuch: Stanley Kubrick, nach dem Roman von William Makepeace Thackeray (1811-1863) Musik: The Chieftains, Leonard Rosenman, Johann Sebastian Bach, Georg Friedrich Händel, Wolfgang A. Mozart, Giovanni Paisiello, Franz Schubert, Frederick The Great, Antonio Vivaldi Director of Photography: John Alcott Montage: Tony Lawson
Darsteller: Ryan O’Neal (Barry Lyndon / Redmond Barry /Lt. Jonathan Fakenham /Lazlo Zilagy), Marisa Berenson (Lady Lyndon), Patrick Magee (Chevalier de Balibari), Hardy Krüger (Captain Potzdorf), Steven Berkoff (Lord Ludd), Gay Hamilton (Nora Brady / Mrs. John Quin), Marie Kean (Belle, Barrys Mutter), Diana Körner (Lischen, deutsches Mädchen), Murray Melvin (Reverend Samuel Runt), Frank Middlemass (Sir Charles Reginald Lyndon), André Morell (Lord Gustavos Adolphus Wendover), Arthur O’Sullivan (Captain Feeny), Godfrey Quigley (Captain Grogan, Barrys Onkel), Leonard Rossiter (Captain John Quinn), Philip Stone (Graham, Lady Lyndons Sekretär), Lord Bullingdon (Leon Vitali, Dominic Savage), Wolf Kahler (Prinz von Tübingen), David Morley (Brian Patrick Lyndon)
Sisyphos und die Freiheit
Stanley Kubricks „Barry Lyndon“ ist ein Gemälde, eine Gemäldegalerie, besser gesagt, eine bewegte Abfolge von lebendig gewordenen Bildern, farbenprächtig, satt, barock. Schon die Eingangsszene erinnert deutlich an ein solches Ölbild aus vergangenen Zeiten. Aus etwa hundert Meter Entfernung, von einem Baum aus, durch die fallenden Äste hindurch hält die Kamera, hält der Künstler, der Film-Maler, auf eine Duell-Szene. Doch Kubricks „Malerei“ ist weit entfernt von der Idylle. Er nutzt diese Idylle als Form, als manipulatives Instrument für eine Geschichte, die mit dem Epilog endet: „Es war zu Zeiten George III., in der die genannten Personen lebten und kämpften, gut oder böse, schön oder hässlich, reich oder arm. Jetzt sind sie alle gleich.“
Teil 1. „Auf welche Weise Redmond Barry den Namen und Titel Barry Lyndon errang.“
Irland im späten 18. Jahrhundert. Redmond Barry (Ryan O’Neal), der seinen Vater in besagtem Duell verloren hat, verliebt sich in seine Cousine Nora Brady (Gay Hamilton). Als die englischen Truppen sich auf eine befürchtete französische Invasion vorbereiten, lernt Nora Captain John Quin (Leonard Rossiter) kennen. Die Verwandtschaft setzt alles daran, Nora mit Quin zu verkuppeln. Es winken etliche Guineas Mitgift pro Jahr für die irische Familie Brady. Barry – von der romantischen Liebe getrieben – fordert Quin zum Duell. Er trifft Quin und die Anwesenden stellen dessen Tod fest. Sie raten Barry, nach Dublin zu gehen, wo ihn niemand kennt, da er befürchten müsse, wegen des Duells von den englischen Soldaten festgenommen zu werden. Mit 20 Guineas in der Tasche reitet er los. Zwei Wegelagerer nehmen ihm Geld und Pferd und so entscheidet sich Barry angesichts fehlender Alternativen, Soldat bei den Engländern zu werden. Dort trifft er seinen Onkel Captain Grogan (Godfrey Quigley) wieder, der ihm nun erzählt, dass Quin gar nicht tot ist. Man habe Barrys Pistole mit harmloser Munition gefüllt und den Tod nur vorgetäuscht, um die Ehe zwischen Quin und Nora zu ermöglichen in Erwartung des entsprechenden Geldsegens.
Barry muss als Soldat am Siebenjährigen Krieg teilnehmen, in dem England an der Seite Preußens, gegen Russland und Frankreich kämpft. Als Grogan in einem Scharmützel tödlich getroffen wird, erbt Barry von ihm 100 Guineas und entschließt sich, bei nächster Gelegenheit zu desertieren. Die kommt. Er belauscht zwei Offiziere beim Bad im See, stiehlt ein Pferd und die Depesche des einen Offiziers und begibt sich auf den Weg Richtung Holland, um von dort in die Heimat zu gelangen. Er begegnet und schläft mit Lischen (Diana Körner), einer deutschen Frau, deren Mann im Krieg ist, und bleibt bei ihr einige Tage. Dann stößt er unterwegs auf den preußischen Offizier Potzdorf (Hardy Krüger), den Neffen des preußischen Polizeiministers. Der ahnt, dass Barry nicht der Leutnant Fakenham ist, für den er sich ausgibt, und zwingt ihn – als Deserteur entlarvt –, in die preußische Armee einzutreten. Fünf Jahre dauert der Krieg schon, die Preußen rekrutieren zwielichtige Gestalten für ihre Armee und Barry lernt von ihnen Betrug und Verstellung. Während eines Gefechts rettet er Potzdorf das Leben, erhält dafür einen Orden und ein bisschen Geld und genießt das Vertrauen des Offiziers, der ihn nach Beendigung des Krieges in Berlin als Spion für seinen Onkel rekrutiert. Barry soll einen irischen Adligen, den Chevalier de Balibari (Patrick Magee) bespitzeln, der im Verdacht steht, als Spion zu arbeiten.
Als er vor Balibari steht, muss Barry weinen. Heimweh überkommt ihn, und beide vereinbaren, dass Barry nur zum Schein den Adligen bespitzeln soll. Der ist ein betrügerischer Spieler. Als er den Prinzen von Tübingen (Wolf Kahler) um etliche Beträge mit Hilfe Barrys beim Kartenspiel erleichtert, meldet der Prinz dies dem Polizeiminister. Der beschließt Balibari auszuweisen. Barry sieht seine große Chance: Als Balibari verkleidet, lässt er sich unter dem Schutz der preußischen Staatsmacht nach Sachsen bringen. Balibari flüchtet auf anderem Weg aus Preußen, und beide beginnen eine Karriere als Spieler an den Höfen Europas.
Barry fasst einen Beschluss. Von der romantischen Liebe sich abwendend und aufgrund der Erfahrungen der letzten Jahre schwört er, nach einer reichen, angesehenen Frau zu suchen, deren Vermögen ihm das Leben versüßen soll. Schnell ist die entsprechende Dame gefunden, die Countess of Lyndon, Viscountess of Bullingdon, kurz Lady Lyndon (Marisa Berenson), verheiratet mit dem todkranken Sir Charles, Minister unter George III. Barry hat keine besondere Mühe, die Lady zu becircen und für sich zu gewinnen. Und ein weiterer Glücksfall kommt ihm zugute. Sir Charles, der von der Affäre seiner Frau mit Barry weiß, erliegt einem Herzanfall in Spa in Belgien.
Teil 2: „Eine Auflistung des Unglücks und der Plagen, die Barry Lyndon zuteil wurden.“ 1773 heiraten Barry, nun Barry Lyndon, und Lady Lyndon. Er behandelt seine Frau allerdings wie die Teppiche, Bilder und Einrichtungsgegenstände, die ihr herrschaftliches Haus zieren: als Mittel zum Zweck. Lady Lyndons Sohn, Lord Bullingdon (Dominic Savage, als Erwachsener: Leon Vitali), erkennt schon als Kind in Barry den Opportunisten. Er beginnt, seinen Stiefvater zu hassen. Ein Jahr nach der Trauung wird Sohn Brian (David Morley) geboren. Barry erfüllt seine standesgemäßen Pflichten und geht ansonsten einem Leben in Saus und Braus nach, hat eine Liebschaft nach der anderen, sogar mit dem Kindermädchen. Lady Lyndon, die ihn liebt, muss – schon von Natur aus melancholisch veranlagt – jetzt auch noch ihre Eifersucht ertragen.
Barrys Mutter (Marie Kean), die bei den Eheleuten wohnt, rät ihrem Sohn, einen Titel zu erwerben, sonst würde er beim Tod seiner Frau wieder mittellos auf der Straße stehen. Barry kauft teures, aber wertloses Land, Ölgemälde, zahlt Bestechungsgelder, nimmt Kontakt zu den Adligen auf – doch all das nützt nichts. Die feine Gesellschaft zeigt ihm die kalte Schulter. Als Jahre später das Vermögen Lady Lyndons fast aufgebraucht ist, stellt Lord Bullingdon Barry während eines Hauskonzerts vor den versammelten Gästen bloß, worauf ihn Barry verprügelt und der Lord das Haus verlässt. Nun ist Barry bei der adligen Gesellschaft völlig desavouiert. Die Gläubiger rücken in einer Front gegen ihn vor. Als dann noch Brian nach einem Sturz vom Pferd stirbt, ist es um Barry geschehen. Er trinkt, Lady Lyndon begeht einen Selbstmordversuch und Lord Bullingdon fordert Barry zum Duell, bei dem Barry durch einen Schuss so schwer verletzt wird, dass ihm ein Bein amputiert werden muss.
Gegen eine Jahresrente von 500 Guineas – gezahlt von Lady Lyndon, der er nie wieder begegnen wird, und ihrem Sohn Lord Bullingdon – und mit dem Versprechen, England nie wieder zu betreten, kehrt Barry mit seiner Mutter nach Irland zurück – gedemütigt und geschlagen.
Kubrick lässt die Geschichte Barry Lyndons alias Redmond Barry von einem Erzähler schildern. Und da heißt es gleich zu Anfang: „Wie anders hätte Barrys Schicksal doch sein können, hätte er sich nicht in Nora verliebt und hätte er Captain Quin nicht das Glas ins Gesicht geworfen“, und später: „und hätte er nicht Lord Bullingdon angegriffen und hätte er nicht auf den Boden geschossen“ (beim Duell mit Bullingdon). Barrys Charakter scheint sein Schicksal zu bestimmen. Aber nicht nur sein Charakter, auch seine Herkunft und die Umstände der Zeit lassen den jungen Mann ins Leben stürzen, so dass man im ersten Teil des Films den Eindruck hat: Er wird gestürzt, zum Spielball der Interessen anderer, des englischen und preußischen Militärs usw. – ganz im Gegensatz zum zweiten Teil, indem Barry anscheinend sein Schicksal, wenn auch an entscheidenden Punkten kontraproduktiv, in die eigenen Hände nimmt. Er scheint es jetzt zu sein, der sich der anderen bedient, um einen Titel, einen Namen, Wohlstand zu erreichen.
Man kann in „Barry Lyndon“, diesem malerisch anmutenden und doch zugleich erschreckenden Epos des barock anmutenden 18. Jahrhunderts, so etwas sehen wie die Miniatur der Geschichte, die Kubrick in „2001: Odyssee im Weltraum“ erzählt. Der Bogen, der in „2001: ...“ vom Ursprung des Menschen, der Kultur über Millionen Jahre hin gespannt wird, verkürzt sich in „Barry Lyndon“ auf die Länge eines Menschenlebens. Wo steht Barry am Ende seines Lebens, als noch berichtet wird, dass er an den Höfen Europas wieder als Spieler aufgetaucht sein soll, allerdings nicht mit dem Erfolg, den er dabei früher mit Balibari hatte, wo steht er, wenn nicht da, wo er als junger Mann in seiner irischen Heimat schon zu Beginn seines Erwachsenenlebens gestanden hatte? Ist er klüger? Weise gar? Oder doch nur gestrauchelt, gedemütigt und geschlagen wie der tragische Held einer griechischen Sage? Allerdings reicher um die Erfahrung, als Individuum gescheitert zu sein?
Es gibt nur zwei Momente im Film, in denen ich wirkliche Nähe zu Redmond Barry empfinden konnte. Das eine ist die Liebe zu seinem Sohn Brian, der auf dem Totenbett seinen Eltern das Versprechen abnimmt, sich nie wieder zu streiten. Barry bricht in Tränen aus, Lady Lyndon ist verzweifelt. Hier spürt man in drei, vier Minuten das einzige Mal die tragische und doch zugleich von tiefer Zuneigung geprägte Nähe dreier Menschen, abseits von Stand, Stellung, Vermögen, Interessen. Dass Barry danach eine Zeitlang dem Alkohol verfällt und seine Frau versucht, sich zu vergiften, zeugt von der Machtlosigkeit zweier Menschen und nicht zweier Figuren im Schachspiel ihrer Biografien.
Die andere Szene: Als Lord Bullingdon sich mit Barry innerhalb eines alten Gemäuers duellieren will, geht dem rachsüchtigen und auf Standesdünkel bedachten Lord beim Spannen der Pistole aus Versehen der Schuss los, der eigentlich Barry gelten sollte. Der Lord übergibt sich vor Angst, zittert, kann sich gerade noch beherrschen, nicht zu wimmern oder sich in die Hose zu machen. Barry demgegenüber steht von Anfang an furchtlos, fast gelassen, dem Schicksal ergeben zehn Schritte von ihm entfernt. Er ist an der Reihe zu schießen. Aber er schießt absichtlich in den Boden. Dann schießt ihm der Lord, sogar unfähig, mit der Waffe richtig zu zielen, Barry ins Bein, das später amputiert werden muss. Eine zentrale Szene: Die Sympathien sind hier zum zweiten Mal eindeutig auf Barrys Seite. Er, der seine Frau nur geheiratet hat, um zu Ansehen in der gesellschaftlichen Hierarchie zu kommen, der sich derselben Mittel bedient hat wie die, zu denen er nie stoßen wird, steht einem Feigling gegenüber. Die Masken fallen: Nicht Bullingdon ist hier der Gentleman, für den er und seinesgleichen sich ausgeben, sondern Barry.
Die Szene steht aber noch für etwas anderes, für die Freiheit und die Individualität. Barrys Entscheidung in dieser Situation ist zum ersten und letzten Mal: frei. Alle seine bisherigen Entscheidungen waren erzwungen – aus der Situation heraus, von anderen auferlegt, durch seinen Charakter bestimmt. Jetzt, in diesem einen Moment, in dem er sich Bullingdon ein für allemal entledigen könnte, um damit endgültig seine Freiheit aufzugeben, begibt er sich selbst in eine Art „Camus’sche Situation“. Er wird Sisyphos:
„Sisyphos ist der Held des Absurden. Dank seinen Leidenschaften und dank seiner Qual. [...] So sehen wir nur, wie ein angespannte Körper sich anstrengt, den gewaltigen Stein fortzubewegen, ihn hinauf zu wälzen und mit ihm wieder und wieder einen Abhang zu erklimmen; wir sehen das verzerrte Gesicht, die Wange, die sich an den Stein schmiegt, sehen, wie eine Schulter sich gegen den erdbedeckten Koloss legt, wie ein Fuß ihn stemmt und der Arm die Bewegung aufnimmt, wir erleben die ganze menschliche Selbstsicherheit zweier erdbeschmutzter Hände. Schließlich ist nach diese langen Anstrengung (gemessen an einem Raum, der keinen Himmel, und an einer Zeit, die keine Tiefe hat) das Ziel erreicht. Und nun sieht Sisyphos, wie der Stein im Nu in jene Tiefe rollt, aus der er ihn wieder auf den Gipfel wälzen muss. Er geht in die Ebene hinunter. Auf diesem Rückweg, während dieser Pause, interessiert mich Sisyphos. Ein Gesicht, das sich so nahe am Stein abmüht, ist selber bereits Stein! Ich sehe, wie dieser Mann schwerfälligen, aber gleichmäßigen Schrittes zu der Qual hinuntergeht, deren Ende er nicht kennt. Diese Stunde, die gleichsam ein Aufatmen ist und ebenso zuverlässig ist wiederkehrt wie sein Unheil, ist die Stunde des Bewusstseins. In diesen Augenblicken, in denen er den Gipfel verlässt und allmählich in die Höhlen der Götter entschwindet, ist er seinem Schicksal überlegen. Er ist stärker als sein Fels.“ (1)
Kubricks Individualismus ist genau dieser der Freiheit, der Überwindung der Tragik, des Todes und des Schicksals – gerichtet gegen den amerikanischen Individualismus, der letztlich bloß ein ausgeprägter Egozentrismus ist, wie gegen die fordernde Unterordnung kollektivistischer Ideologien – zwei Seiten ein und derselben Medaille der Zivilisation.
Barry ist frei und beschließt mit dieser Freiheit zugleich sein eigenes Schicksal. Kein Titel, kein Reichtum, keine Zukunft im Sinne der sozialen Vorgaben, die seine Zeit prägen. Hinter der voluminösen, prachtvollen, barocken Fassade der manipulierenden, bewusst (ver)blendenden Bilder in „Barry Lyndon“ entpuppt sich für einen Moment, einen kurzen, aber erhellenden Augenblick ein freier Mensch, der „wirkliche“, „wirkende“ Individualist, der weder damals noch heute eine reelle Perspektive zu haben scheint.
„Barry Lyndon“ ist kein moralischer oder moralisierender Film. Kubrick spart nicht mit bissiger Ironie, mit sozialer Kritik, ja mit Spott; doch es geht hier nicht so sehr um ethische Urteile, sondern um das Aufdecken von zivilisationsbedingten Verstrickungen. Wenn es am Schluss heißt: „Es war zu Zeiten George III., in der die genannten Personen lebten und kämpften, gut oder böse, schön oder hässlich, reich oder arm. Jetzt sind sie alle gleich“, bedeutet dies, dass sich individuelle Freiheit wie soziale Gleichheit erst im Tod realisieren. Ein vernichtendes Urteil? Oder eher eine tragische Realität?
(1) Albert Camus: Der Mythos des Sisyphos, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt (rororo 22765) 2000, S. 155 f.
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