Shining (1980)
Full Metal Jacket (1987)
Eyes Wide Shut (1999)

Shining
(The Shining)
Großbritannien 1980, 146 Minuten
Regie: Stanley Kubrick

Drehbuch: Stanley Kubrick, Diane Johnson, nach dem Roman „Shining“ von Stephen King
Musik: Béla Bartok, Wendy Carlos, Rachel Elkind, György Ligeti, Krzysztof Penderecki
Director of Photography: John Alcott
Montage: Ray Lovejoy

Darsteller: Jack Nicholson (John „Jack“ Daniel Torrance), Shelley Duvall (Wendy Torrance), Danny Lloyd (Daniel Anthony Torrance), Scatman Crothers (Richard „Dick“ Hallorann), Barry Nelson (Stuart Ullman), Philip Stone (Delbert Grady), Joe Turkel (Lloyd), Anne Jackson (Ärztin), Tony Burton (Larry Durkin), Lia Beldom (junge Frau im Bad), Billie Gibson (alte Frau im Bad), Barry Dennen (William „Bill“ Watson), David Baxt (erster Ranger), Manning Redwood (zweiter Ranger), Lisa Burns (Gradys Tochter), Alison Coleridge (Sekretärin), Kate Phelps (Empgangsdame), Norman Gay (Hotelgast)

„We all shine on“¹

Stephen King war mit der Verfilmung seines drei Jahre zuvor erschienenen Bestsellers „The Shining“ durch Stanley Kubrick überhaupt nicht zufrieden. Um sich und seine Fan-Gemeinde zufrieden zu stellen, ließ King 1997 „The Shining“ für’s Fernsehen in einer Mini-Serie von Regisseur Mick Garris (der auch andere Stoffe von King verfilmte) neu inszenieren – und alle eingefleischten King-Fans finden seitdem natürlich das Drehbuch von King und die Inszenierung durch Garris viel besser als Kubricks allzu „freie“ Interpretation. Oder irre ich mich da? Every man his and every woman her own taste. Ich kenne weder Kings eigene Interpretation, noch sein Buch. Es ist bekannt, dass es keine 1:1 Verfilmungen von Romanen gibt oder geben kann (nicht einmal, wenn Regisseure dies auf Teufel komm raus versuchen, gelingt das). Film und Literatur folgen allzu verschiedenen Regeln, um eine „werkgetreue Adaption“ möglich zu machen.

Folglich kann Kubricks Streifen nur aus sich selbst heraus beurteilt, verstanden, interpretiert werden. Und in diesem Fall bin ich ehrlich gesagt froh darüber, Kings Roman nicht zu kennen.

Jack Torrance (Jack Nicholson) ist unterwegs zum Overlook-Hotel in den Bergen von Colorado. Torrance, früher Lehrer, jetzt Schriftsteller, will dort eine Stelle als Hausmeister annehmen und seine Familie – Wendy (Shelley Duvall), seine Frau, und seinen Sohn Danny (Danny Lloyd) – später nachholen. Das Hotel liegt einsam in den Bergen und hat im Winter keine Gäste. Torrance ist dies recht, denn er benötigt Ruhe, um seinen neuen Roman zu schreiben. Der Hotelmanager Ullman (Barry Nelson) erklärt ihm seinen (relative einfachen) Job und warnt ihn vor einer sechsmonatigen Einsamkeit in Nebel und Schnee, abgeschnitten von jeglichem Kontakt mit anderen Menschen – niemand sonst hält sich zwischen November und April im Hotel auf. Ullman sieht sich ebenso veranlasst, Torrance von einem Vorfall zu erzählen, der sich 1970 ereignete. Damals habe der damalige Hausmeister Charles Grady während der Wintermonate offenbar vollständig durchgedreht, seine Frau und seine zwei Töchter ermordet und sich dann selbst durch den Mund erschossen. Torrance erklärt Ullman, dass ihn dieser schreckliche Vorfall nicht daran hindere, den Job zu übernehmen, und Frau und Sohn sich sicherlich hier wohl fühlen würden.

Danny hat inzwischen seiner Mutter erklärt, dass er sich auf die Monate im Hotel freue. So ganz überzeugt ist Danny aber nicht von dem, was er sagt. Danny hat einen „Freund“, der in seinem Inneren „haust“: Tony, der über seinen Zeigefinger zu ihm „spricht“. Tony hat ihm berichtet, dass Dannys Vater den Job angenommen hat. Nicht nur das. Danny verfügt über die Fähigkeit des „Shining“, einer Art hellseherischen Fähigkeit, nicht nur in bezug auf die Zukunft, sondern auch, was vergangene Dinge anbetrifft. In einer seiner Visionen sieht er das Innere des Hotels Overlook: Aus den Fahrstühlen flutet literweise Blut in die Lounge des Hotels. Zwei Mädchen (Lisa und Louise Burns), Zwillinge, starren ihn grimmig an.

Die Familie Torrance begibt sich auf den Weg zu Jacks neuer Arbeitsstelle. Angekommen wird Jack von Mitarbeitern des Hotels mit den Räumlichkeiten bekannt gemacht. Der Küchenchef Dick Hallorann (Scatman Crothers) führt Wendy und Danny durch die Großküche, zeigt ihnen den Kühlraum und die Vorratskammer, ist sehr zuvorkommend und freundlich zu beiden. Er nennt Danny plötzlich Doc, was Wendy sehr wundert, weil niemand diesen Spitznamen erwähnt hat. Als Dick Danny zu einem Eis einlädt, erzählt er ihm, dass auch er die Fähigkeit „Shining“ besitzt. Er versucht Danny zu beschwichtigen, als der danach fragt, ob es in dem Hotel etwas Furchtbares gebe. Aber Danny weiß schon etwas mehr. Er fragt nach dem Raum 237 und Hallorann verbietet ihm, jemals diesen Raum zu betreten.

Nach etwa einem Monat beginnt Jack sich zu verändern. Als ihn Wendy in der Lounge aufsucht, fühlt er sich beim Schreiben gestört und erklärt ihr unmissverständlich und barsch, sie solle sich verpissen. Danny sieht wiederum die beiden Mädchen, die ihn auffordern, mit ihm zu spielen. Jack erzählt Wendy, er habe den schrecklichsten Alptraum seines Lebens gehabt: Er habe sie und Danny getötet und zerstückelt. Danny kommt aus dem verbotenen Raum 237 und hat Würgemale am Hals. Wendy verdächtigt Jack, der alles abstreitet, und Danny erzählt von einer Frau, die ihm das angetan habe. Jack braucht einen Drink. Er betritt die Bar, die plötzlich mit allerlei Leuten gefüllt ist, gekleidet wie in den 20er Jahren. An der Theke spricht er mit Barkeeper Lloyd (Joe Turkel). Als Jack danach das Zimmer 237 betritt, steigt aus der Badewanne eine junge, schöne Frau. Als er sie jedoch in den Arm nimmt, verwandelt sie sich in eine hässliche alte Frau mit krankhaften Ausschlägen auf der Haut, die ihn auslacht.

Wendy berichtet Jack, er habe nichts gesehen in Zimmer 237. Als sie meint, sie müssten weg von hier und mit Danny zum Arzt, gerät Jack wieder in Wut und beschimpft Wendy. Wieder in der Bar rempelt ihn ein Kellner an. Als der ihm im Bad die Flecken von der Jacke entfernt, meint Jack, in ihm Mr. Grady zu erkennen, der Frau und Töchter im Hotel umgebracht hatte. Aber Grady erklärt, nicht er, sondern Jack sei hier der Hausmeister, der für Ordnung zu sorgen habe, und die werde durch seinen Sohn Danny gefährdet, der einen Fremden, einen „Niggerkoch“, in das Hotel holen wolle: Hallorann. Jacks Pflicht sei es, dies zu verhindern:

„Grady: Ihr Sohn hat eine außergewöhnliche Fähigkeit. Ich glaube nicht, dass Ihnen bewusst ist, wie groß sie ist. Und dass er versucht, sie gegen Ihren Willen zu verwenden.
Jack: Er ist ein sehr eigenwilliger Junge.
Grady: Das ist er, Mr. Torrance. Ein sehr eigenwilliger Junge. Ein ziemlich frecher Junge, wenn ich so frei sein darf, Sir.
Jack: Es ist seine Mutter. Sie ist, ah, gestört.
Grady: Möglicherweise benötigen beide Zuspruch, wenn Sie mir nicht glauben wollen. Möglicherweise ein bisschen mehr. Meine Mädchen, Sir, mochten das ‘Overlook’ anfangs nicht. Eine von ihnen stahl doch tatsächlich Streichhölzer und versuchte, das Hotel anzuzünden. Aber ich korrigierte sie, Sir. Und als meine Frau versuchte, mich an der Ausübung meiner Pflicht zu hindern, korrigierte ich auch sie.“

Die Ereignisse überstürzen sich. In einer weiteren Vision malt Danny mit roter Farbe in Spiegelschrift „Redrum“ (Murder) auf eine Tür. Hallorann macht sich zum Hotel auf, weil er Schlimmes befürchtet. Die Telefonleitungen sind wegen eines Schneesturms ausgefallen, Jack hat inzwischen die Verbindung über ein Funkgerät zur Polizei lahmgelegt und Wendy hat Todesangst: Auf den Hunderten von Seiten – Jacks angeblichem Roman – steht immer wieder nur ein Satz: „All work and no play makes Jack a dull boy.“ ...

Kubricks Film endet mit einem Foto. Es zeigt die Teilnehmer eines Balls anlässlich des Unabhängigkeitstages, des 4. Juli im Jahre 1921, im Vordergrund ist deutlich eine Person zu sehen, die Jack Torrance mehr als ähnlich sieht. Ganz am Ende des Films applaudiert diese Ballgesellschaft der 20er Jahre; sie wird eins mit dem Kinopublikum, das einem Film applaudiert. Das Hotel und seine Ballgesellschaft haben überlebt. Jack Torrance ist präsent, zu jeder Zeit, an jedem Ort. Das Hotel und die immer wieder in der Phantasie von Jack und in den Visionen von Danny, dann auch für Wendy sichtbaren einzelnen Mitglieder dieses Balls stehen für das Potential an Gewalt – und zwar in jedem von uns. The Fourth of July – die Unabhängigkeit der USA –, gegründet auf der Vertreibung und Ermordung der Indianer, auch das ist nicht irgend etwas Zufälliges bei Kubrick, in dessen Filmen es keine Zufälle gibt. Das Hotel, so erzählt ein Manager, wurde auf indianischem Gebiet gebaut. Und die Arbeiter mussten immer wieder Angriffe von Indianern abwehren. Das Hotel wurde auf Gewalt gebaut – wie die Vereinigten Staaten von Amerika.

„The Shining“ beginnt mit einer Fahrt ins Blaue, ins schier Übermächtige einer von heller Sonne umstrahlten Bergwelt. Eine realistische und doch zugleich illusionäre Welt. Nicholson tritt auf, als freundlicher, ruhiger Familienvater, als angehender Schriftsteller, der für ein halbes Jahr mit seiner Familie die Ruhe sucht. Kubrick durchbricht sehr schnell diese Illusion, die auch für den Betrachter von Beginn an brüchig ist. Die hellseherischen Fähigkeiten von Danny (exzellent gespielt von Danny Lloyd) paaren sich mit dem Blutrausch, der das Leben aus dem Hotel verbannt. Der aus einer penibel geschnittenen Hecke konstruierte Irrgarten vor dem Hotel wird zum Sinnbild der Angst, des Schreckens, der Verfolgung und der Ausweglosigkeit. Die Phantasien Dannys, Jacks und Wendys vermischen sich mit der Realität, die Grenzen von Trauma und Wahnsinn hier, von für einzig fassbar, greifbar Gehaltenem dort verschwimmen, die Zeitebenen geraten völlig durcheinander. Für Kubricks Figuren gibt es nur ein Jetzt, in dem sie leben und sterben werden. Die Vergangenheit – individuelle wie kollektive – ist allgegenwärtig wie die Gegenwart geronnene Vergangenheit. Was die Indianer in der Gründerzeit waren, das ist der „Nigger“, der sich von außen einmischen will, wie Grady formuliert („your son is attempting to bring an outside party into this situation“). Grady erteilt Jack einen klaren Auftrag: Er muss für Ordnung sorgen. Als er das erste Mal versagt hat und Wendy Jack in die Speisekammer eingesperrt hat, bekommt er von Grady die letzte Chance. Die Vergangenheit muss gegenwärtig bleiben. Dafür hat Jack zu sorgen. Seine Frau und sein Sohn haben ihm zu gehorchen, wenn nicht, muss er sie „korrigieren“. Der „Nigger“ kann nicht eines besseren belehrt werden.

Ist Grady „wirklich“ oder phantasiert? Er ist beides. Er ist das Gewissenlose in Jack, repräsentiert seine Ängste, Frustrationen, seinen Willen zur Macht, zur Gewalt, zur Aufrechterhaltung einer überkommenen Ordnung, der Jack selbst nicht gewachsen ist. Als sich die junge schöne Frau in eine hässliche Alte verwandelt, die ihn wie eine böse Hexe auslacht, ist Jack in seiner Hilflosigkeit bloß gestellt. Selbst das Weibliche, das Erotische verwandelt sich in den Schrecken unter solchen Bedingungen. Daraus zieht er aber nicht die Konsequenz der Reflexion seiner selbst und seiner Situation. Er macht weiter. Er geht einen Schritt weiter, und noch einen. Er will etwas zusammenhalten, indem er seine Frau und seinen Sohn opfert.

Welchen Realitätsgehalt haben Dannys Phantasien und Visionen? Sie sind Vorboten, Ausdruck eines kindlichen, aber dennoch realistischen Gespürs für die Gefahren dieser überkommenen, skrupellosen Ordnung, der sich zu widersetzen mit dem Tode bedroht ist. Wenn Danny mit dem Dreirad über die Gänge des Hotels rast, wechseln die Geräusche, je nachdem, ob er über Teppichboden oder Parkett fährt, mal bedrohlich laut, mal kaum hörbar – bis er auf die toten Zwillinge trifft. Alles in diesem Hotel, alle Wege führen offenbar nur zu einem: zum Tod.

Kubricks „The Shining“ – vordergründig ein Horrorfilm – entpuppt sich als Mosaikstein im Gesamtwerk des Regisseurs, das von schwerwiegenden Zweifeln an der Zivilisation geprägt ist. Kubrick hat „The Shining“ in mehrere Teile unterteilt mit den Überschriften „Das Interview“, „Abschluss eines Tages“, „Einen Monat später“, „Dienstag“, „Donnerstag“, „Samstag“, „Montag“, „Mittwoch“, „8 Uhr morgens“, „4 Uhr nachmittags) – dann ist „Johnny“ da: „Hereeeeeee’s Johnny“! (der Ausspruch rekurriert auf eine Talk-Show von Johnny Carson: „The Tonight Show“). Der Schrecken rückt wie ein schneller werdender Zug immer näher und ist doch zugleich von Beginn an präsent. Für Wendy und Danny beginnt ein Kampf um ihr Leben.

Im Irrgarten macht Danny das einzige, was ihm Rettung verspricht: er legt eine falsche Fährte. Er greift auf etwas zurück, was die Indianer meisterhaft beherrschten: Er setzt seine Füße rückwärts in die Schneespuren, versteckt sich hinter einer Hecke, bis sein ihn verfolgender Vater vorbei gegangen ist, um dann mit seiner Mutter zu fliehen: in dem Schneefahrzeug, mit dem Hallorann (der „Nigger“) zum Hotel gefahren war. Hier – in dem Rückgriff auf die Opfer der amerikanischen Geschichte – steckt neben der tiefen Verzweiflung über die Geschichte der Zivilisation ein Hauch von Optimismus, nur ein zarter Anflug von Hoffnung, der – immerhin – Danny und Wendy das Leben rettet. Der Überlebenswille und Mut von Wendy – bei aller Angst – und die visionäre Kraft von Danny – unter Rückgriff auf Indianer und Schwarze – repräsentieren dieses Fünkchen Hoffnung.

Was Kubrick in seinem für mich zentralen Film – „2001: A Space Odyssey“ –, in diesem großen, epischen, durchkomponierten, geradezu sinfonischen Werk zum Ausdruck gebracht hatte – in einer Zeit (1968) der großen Illusion des noch größer geglaubten Fortschritts –, führte er in „The Shining“, sehr intensiv und subtil kritisch auf amerikanische Verhältnisse zugespitzt, fort. Man darf nicht vergessen, dass das Jahr 1980 auch für eine Zeit steht, in der die mittelmäßigen, aber nichtsdestotrotz gefährlichen „Cowboys“ (Ronald Reagan) wieder zur Macht gelangt waren.

(1) Der Titel des Films rekurriert auf den Song „Instant Karma“ von John Lennon, in dem es u.a. heißt:

„Why in the world are we here?
Surely not to live in pain and fear
Why on Earth are you there
When you're everywhere
Gonna get your share
Well, we all shine on
Like the moon and the stars and the sunYeah, we all shine on.“



Full Metal Jacket
(Full Metal Jacket)
USA 1987, 116 Minuten
Regie: Stanley Kubrick

Drehbuch: Stanley Kubrick, Gustav Hasford (Roman: »The Short Timers«), Douglas Herr
Musik: Vivian Kubrick, Mick Jagger
Director of Photography: Douglas Milsome
Montage: Martin Hunter
Spezialeffekte: Alan Barnard u.a.

Darsteller: Matthew Modine (Private Joker / J. T. Davis), R. Lee Ermey (Gunnery Sgt. Hartman), Vincent D’Onofrio (Private Gomer Pyle / Leonard Lawrence), Adam Baldwin (Animal Mother), Dorian Harewood (Private Eightball), Arliss Howard (Private Cowboy), Kevin Mayor Howard (Private Rafterman), Ed O’Ross (Lt. Walter J »Touchdown« Tinoshky), John Terry (Lt. Lockhart), Kieron Jecchinis (Crazy Earl), Kirk Taylor (Private Payback)

These Boots were made for walking

Die Frage ist oft diskutiert worden: Kann es einen Antikriegsfilm geben? Truffaut hatte behauptet: Nein, Antikriegsfilme sind unmöglich, weil alle Filme über den Krieg letztlich Kampf als eine Art Vergnügen erscheinen lassen, als Abenteuer. Man könnte die Frage erweitern: Sind nicht Antikriegsfilme schon deswegen unmöglich, weil das Kriegsgeschehen selbst, das in solchen Filmen weitgehend bestimmend ist, kaum Auskunft über die Ursachen, Konflikte, Entscheidungen usw. geben kann, die zu einem Krieg führen? Der amerikanische Kriegsfilm der letzten 30 Jahre hatte vor allem den Vietnamkrieg zum Thema. Während neuere Filme dieser Art wie etwa »We were soldiers« Vietnam zum Anlass für eine neue produktive Kriegsideologie ge- und missbrauchen, gab sich Kubricks »Full Metal Jacket« noch ganz im Sinne eines Versuchs, im Kriegsgeschehen selbst die Ablehnung des Krieges als Mittel der Politik zu finden.

Der Film stieß auf ein zwiespältiges Echo. Besonders der zweite Teil, der in Vietnam spielt, wurde als missglückt betrachtet.

Parris Island, Rekrutenausbildung für den Einsatz in Vietnam, etwa 1968. Die Gefreiten, darunter J. T. Davis, genannt Private Joker (Matthew Modine), Leonard Lawrence, genannt Private Gomer Pyle (Vincent D’Onofrio) und Private Cowboy (Arliss Howard) unterliegen der strengen Ausbildung durch Gunnery Sergeant Hartman (R. Lee Ermey, früher selbst Rekrutenausbilder), der sich mit folgenden Worten vorstellt: »I am Gunnery Sergeant Hartman, your Senior Drill Instructor. From now on, you will speak only when spoken to, and the first and last words out of your filthy sewers will be ›Sir‹. Do you maggots understand that? [...] Bullshit! I can’t hear you; sound off like you’ve got a pair!«

Hartmans Auftrag ist sonnenklar. Und Kubrick zeigt in diesem ersten Teil des Streifens, wie Hartman ihn versteht: »You are nothing but unorganized garbage pieces of amphibian shit.« Aus dieser »Scheiße« sollen Kampfmaschinen produziert werden – im wahrsten Sinn: produziert werden. Hartman striezt den »Abfall«, den er vor sich hat, durch den Dreck, bis zum Umfallen. Seine Sprache besteht aus einer Mischung von sexuellen Anspielungen und erbärmlichen Erniedrigungen. Die Waffe, sagt er z.B., ist für die Rekruten das einzige Weibliche, das akzeptiert wird. Mit ihr haben sie ins Bett zu gehen. Jeder, der Hartmans Meinung nach einen Fehler gemacht hat, fragt er, ob er ein dreckiger Schwanzlutscher sei.

Besonders im Visier hat Hartman den übergewichtigen Private Leonard, der es z.B. nicht schafft, Hindernisse zu überwinden. Hartman macht ihn fertig. Erst als er sieht, wie treffsicher Leonard schießen kann, scheint er für ihn etwas zu taugen. Die anderen Rekruten glauben, ihre Subjektivität, die hier aus ihnen heraus geprügelt werden soll, beibehalten zu können, wenn sie die Ausbildung ertragen, durchstehen. Leonard jedoch schafft dies nicht. Kurz vor dem geplanten Einsatz in Vietnam kommt es zu einer blutigen Katastrophe ...

Vietnam. Private Joker wird als Kriegsberichterstatter bei der Militärzeitung »Stars & Stripes« eingesetzt und hat Private Rafterman (Kevin Mayor Howard) zur Seite. Joker trägt auf seinem feschen Military-Outlook ein Peace-Zeichen, fällt durch sarkastische Bemerkungen auf und kann sich eine Weile lang dem Kriegsgeschehen entziehen, während die anderen in den Tod ziehen. Doch als die Tet-Offensive naht, werden auch Joker und Rafterman in eine kämpfende Einheit einbezogen. Dort treffen sie u.a. auf Animal Mother (Adam Baldwin), einer jener Soldaten, wie sie sich Hartman wünschte: eine Killermaschine. Als die Einheit in einem verwüsteten Ort unter Beschuss der Nordvietnamesen gerät und ein Scharfschütze mehrere Soldaten aus dem Hinterhalt tötet, beschließen die anderen, dem Heckenschützen den Garaus zu machen. Sie nähern sich dem Gebäude und können den Schützen stellen. Eine vietnamesische Frau ...

Kubrick schildert die Rekrutenausbildung in Parris Island in einer Intensität, wie ich es selten in einem anderen Film gesehen habe. Die gewaltsame Metamorphose der Privates in Killermaschinen wird in allen Einzelheiten nahegebracht. Die Verzweiflung Private Gomer Pyles, die in einem psychischen Desaster endet, das sich gegen Hartman und ihn selbst richtet, ist eine Entwicklung, die sich im zweiten Teil des Films auf analoge Weise wiederholt. Die Beschwörung der »Werte der westlichen Welt«, der Freiheit usw. wird im ersten Teil des Films mit einer Realität konfrontiert, in der dies alles nicht mehr zählt. Die Moral dieser Rekrutenausbildung ist: Nur wenn Du Dich zur ent-subjektivierten Kampfmaschine formen lässt, kannst Du diese Werte verteidigen. Aber diese Moral entpuppt sich als bloßer Schein. Hartman sieht in den Rekruten »ungeformte Scheiße«, was nichts anderes bedeutet, als dass all das, was sie bisher waren, woran sie glaubten und wofür sie lebten, nicht nur nichts bedeutet, sondern wertloser Dreck ist. Schon das offenbart, dass es in Hartmans Ausbildung und im Krieg nicht um die Verteidigung dieses als »Scheiße« gebrandmarkten Lebens geht.

Und noch etwas stellt sich als Illusion heraus: Die Rekruten – allen voran der zynische Private Joker, der glaubt, seine moralischen Werte während der Ausbildung und erst recht im Kriegsgeschehen aufrecht erhalten zu können – gehen nach Vietnam und erweisen sich (in unterschiedlichem Ausmaß) als das, was sie werden sollten: als Kampfmaschinen. Ihr Glaube, im Krieg Regeln einhalten zu können, erweist sich als trügerisch. Private Jokers Moral kann dem Kampfgeschehen und seinen Gesetzen keinen Einhalt gebieten. Das Gebäude, in dem sich der Heckenschütze verborgen hält und aus dem er mehrere Soldaten erschießt, wirkt wie ein teuflischer Tempel. Dort wohnt kein Gott, keine Moral, keine Gerechtigkeit, keine Menschlichkeit. Von dort kommt nur der Tod. Als die Soldaten das Gebäude erreichen und den Heckenschützen stellen, sehen sie eine junge Frau am Boden liegen, die – tödlich verletzt – darum bettelt, man solle sie erlösen. Private Joker sagt zu den anderen: »We can’t just leave her like this.« Die anderen überlegen, einige wollen gehen, Private Joker wiederholt, dass man sie nicht einfach so da liegen lassen könne. Es ist ruhig, die Worte werden fast geflüstert. Private Joker erschießt die Frau – eine Frau, die ihre Heimat verteidigen wollte.

Die Parallelen zwischen den Szenen in Parris Island und Vietnam sind frappierend. Die Rekrutenausbildung endet mit dem Tod Hartmans und Private Gomer Pyles. Private Joker ist entsetzt, hilflos – und geht nach Vietnam. Die Gesetze des Krieges gehen schon in der Rekrutenausbildung über Leichen, ohne Gnade. Private Joker hatte immer wieder versucht, Gomer Pyle zu helfen, damit ihn Hartman nicht immer wieder ins Visier nimmt. Die Tötung Hartmans durch Gomer Pyle und dessen anschließender Selbstmord sieht Private Joker als moralische und menschliche Katastrophe. Doch sein Name ist Symbol. Er ist ein Joker im Spiel des Krieges. In Vietnam tötet er eine Heckenschützin und vollzieht diese Kriegsregeln, wie er es nie gewollt hatte. Er ist längst Teil des Krieges. Seine moralische Überzeugung, seine Distanz zum Krieg, sein schwarzer Humor, all das hat hier nichts, gar nichts zu bedeuten. Was sich in der Rekrutenausbildung abspielte, wiederholt sich auf dem Kriegsschauplatz. Gomer Pyle ist tot, Hartman ist tot, die junge vietnamesische Heckenschützin ist tot. Der Krieg geht weiter, noch lange Jahre, mit Flächenbombardements vor allem gegen die Zivilbevölkerung, mit Napalm, mit Kriegsverbrechen wie in My Lai, mit Folter und Vergewaltigung.

Kubricks Film enthüllt zwei Welten, die unterschiedlichen Regeln gehorchen, obwohl die Welt des Krieges der Welt des Nicht-Krieges entspringt. Er entzaubert die Illusion, über Regeln zum Schutz der Zivilbevölkerung, zur Behandlung von Kriegsgefangenen usw. könne dem Krieg in seinen Exzessen irgendeine Grenze gesetzt werden. Ist es Mord, wenn Gomer Pyle seinen Peiniger ermordet? Sicher, hätte er sich danach nicht selbst umgebracht, wäre er vor ein Kriegsgericht gestellt worden. Denn diese Tat war die eines Verzweifelten, der seine Subjektivität nicht verlieren wollte, aber daran irre geworden ist: eine Tat aus der Nicht-Kriegs-Welt gegen die Welt des Krieges.

Ist es Mord, als Private Joker die vietnamesische Heckenschützin tötet, die ihn selbst darum gebeten hat? Ist es ein »Gnadenschuss«? Das spielt keine Rolle. Im Krieg ist – wenn auch nicht rechtlich – alles erlaubt. Die Bestrafung von Kriegsverbrechen ist mehr ein Zufall, denn die Regel, und geschieht nur dann, wenn die Welt des Nicht-Krieges der Welt des Krieges einmal Grenzen setzen kann. Aber die Welt des Nicht-Krieges produziert immer wieder die Welt des Krieges, und so bleibt die Bestrafung die Ausnahme und der Krieg mit all seinen Exzessen die Regel.

Für die junge Frau, die offenbar tödlich verletzt wurde, war es vielleicht Erlösung von ihrem Leid. Aber was blitzte hier in Private Joker auf? Ein Rest von Mitgefühl, selbst für einen Kriegsgegner, der gerade etliche Kameraden in den Tod geschickt hatte? Ein Rest von Mitgefühl, das sich ausgerechnet im Tod materialisiert?

Kubricks »Full Metal Jacket« ist ein unpatriotischer Film, der in keiner Weise den Krieg glorifiziert. Er legt auf skrupellose Art offen, dass ein Soldat keine Chance hat, etwas aus der ersten Welt – der Nicht-Kriegs-Welt – herüber zu retten, es sei denn den »Gnadenschuss«. Private Joker steht am Schluss in dem brennenden Gebäude, erschießt die junge Vietnamesin, als wenn es ein alltäglicher Akt wäre. Das ist es auch. Jedenfalls im Krieg. Er vollzieht dies ruhig, ohne Skrupel, ohne Angst, ohne eine Miene zu verziehen. Der Schuss, den er auf die Frau abgibt, ist die zweite Kapitulation, die er – und wir – erleben müssen: Die Kapitulation vor dem Krieg.

Antikriegsfilm? Ja, ich glaube »Full Metal Jacket« ist ein Antikriegsfilm, in dem es Kubrick gelang, aus der Rekrutenausbildung und dem Kriegsgeschehen heraus ein starkes und zugleich verstörendes Gefühl gegen den Krieg zu entwickeln. Truffauts Prophezeiung, man könne den Krieg nicht darstellen, ohne in die Falle zu tappen, den Kampf als irgendwie vergnügliche Action zu inszenieren, erweist sich in diesem Film als falsch. Wenn »These boots were made for walking, and that’s just what they do« von Nancy Sinatra erklingt, erhält Kubricks Botschaft (und der Song selbst) eine sarkastischen Ausdruck: Deine Stiefel trägst Du für den Krieg, für nichts anderes.



Eyes Wide Shut
(Eyes Wide Shut)
Großbritannien, USA 1999, 159 Minuten
Regie: Stanley Kubrick

Drehbuch: Stanley Kubrick, Frederic Raphael, nach Arthur Schnitzlers „Traumnovelle“
Musik: Jocelyn Pook, Chris Isaak, Györgi Ligeti, Franz Liszt, Wolfgang Amadeus Mozart, Dmitri Shostakovich
Director of Photography: Larry Smith
Montage: Nigel Galt

Darsteller: Tom Cruise (Dr. William Harford), Nicole Kidman (Alice Harford), Madison Eginton (Helena Harford), Jackie Sawiris (Roz), Sydney Pollack (Victor Ziegler), Leslie Lowe (Illona Ziegler), Peter Banson (Bandleader), Todd Field (Nick Nightingale), Michael Doven (Zieglers Sekretär), Sky Dumont (Sandor Szavost), Louise J. Taylor (Gayle), Stewart Thorndike (Nuala Windsor), Randall Paul (Harris), Julienne Davis (Amanda „Mandy“ Curran), Lisa Leone (Lisa), Marie Richardson (Marion Nathanson), Vinessa Shaw (Domino), Rade Serbedzija (Milich), Leelee Sobieski (Milichs Tochter), Togo Igawa (erster Japaner), Eiji Kusuhara (zweiter Japaner), Fay Masterson (Sally), Alan Cumming (Hotelangestellter)

Die verschlossene Sexualität

Stanley Kubricks letzter Film – zwölf Jahre nach „Full Metall Jacket“ (1987) und kurz vor seinem Tod am 7. März 1999 gedreht – löste nicht gerade überall wahre Begeisterungsstürme aus. Es gab sogar Kritiker, die Kubrick vorwarfen, er verteufele sexuelle Beziehungen, vor allem außerhalb der Ehe. Andere (dis)qualifizierten den Film als „Alterswerk“ oder „schwerblütiges Vermächtnis“. Kaum jemand, der versuchte, den Film in das Gesamtwerk des Regisseurs einzuordnen.

Dr. William Harford (Tom Cruise) ist ein erfolgreicher Arzt, Alice Harford (Nicole Kidman), seine Frau, eine nicht so erfolgreiche Galeristin. Beide gehören der besseren Gesellschaft in Manhattan an. Auf einem Ball, zu dem sie Victor Ziegler (Sydney Pollack) eingeladen hat, wird Alice von einem smarten Ungarn (Sky Dumont) bedrängt, der sie fragt, ob sie die Liebesgedichte Ovids kenne, und sie gerne mit in den ersten Stock entführen würde, um ihr nicht nur irgendwelche Skulpturen zu zeigen. Er fragt sie beim Tanz: „Glauben Sie nicht, dass das Reizvolle der Ehe unter anderem darin besteht, dass sie für beide Beteiligten die Täuschung zu einer Notwendigkeit macht.“ Alice entzieht sich Mr. Szavost, denkt aber danach über die Frage der Treue, bezüglich Bill und in bezug auf sie selbst, nach.

Zur selben Zeit wird William von zwei jungen Frauen umschwärmt. Allerdings nicht lange, da ihn Ziegler auf sein Zimmer bestellt, der sich gerade wieder ankleidet. Dort liegt die Prostituierte Mandy (Julienne Davis) nackt mit einer Überdosis im Sessel. Harford warnt Mandy, sie müsse sich einer Entziehungskur unterziehen, sonst würden die Drogen sie bald umbringen. Auf dem Ball trifft Harford einen alten Freund, den Pianisten Nick (Todd Field), der ihn in einen Nachtclub einlädt, in dem er gerade noch ein paar Tage spielen wird. Harford sagt zu, ihn dort zu besuchen.

Nachts nehmen Bill und Alice Drogen. Sie fragt Bill, was er denn mit den beiden jungen Frauen gemacht habe. Bill fragt, wie es mit dem Tänzer war. Alice scheint eifersüchtig; sie wirkt äußerst relaxed und belustigt durch die Drogen und erzählt Bill von einer sexuellen Phantasie aus ihrem letzten Urlaub in Cape Cod. Sie hatte dort einen jungen Marineoffizier gesehen und erklärt Bill, sie habe immer wieder an ihn gedacht: „Und ich dachte, wenn er mich gewollt hätte, und sei es nur für eine Nacht, wäre ich bereit gewesen alles aufzugeben.“

Bill ist erschüttert, enttäuscht. Ein Anruf von Marion Nathanson (Marie Richardson) unterbricht das Gespräch mit Alice. Marions Vater ist gestorben. Ab diesem Zeitpunkt stellt sich Bill immer wieder vor, wie Alice mit diesem Offizier schläft. Bill geht auf eine Reise durch die Stadt, in deren Verlauf fast jeder, der ihm begegnet, sexuell auf ihn reagiert. Zuerst Marion, die ihm vor dem Bett mit dem toten Vater erklärt, dass sie Bill liebe. Als ihr designierter Ehemann auftaucht, verlässt Bill das Haus. Als nächstes trifft er die Prostituierte Domino (Vinessa Shaw), die ihn mit in ihre Wohnung nimmt. Als Alice über Handy anruft und fragt, wo er bleibe, verlässt Bill Domino wieder, nicht ohne sie – trotz nicht geleisteter Dienste – mit 150 Dollar zu bezahlen.

Bill geht in das Nachtlokal „Café Sonata“, in dem Nick gerade sein letztes Stück gespielt hat. Es ist 2 Uhr nachts, und Nick hat noch einen speziellen Auftrag: Er soll auf einer besonderen Party, auf der sich die reiche Gesellschaft zu sexuellen Spielchen trifft, gekleidet in schwarze Umhänge und maskiert, damit niemand desavouiert wird, Klavier spielen – mit verbundenen Augen. Das Passwort lautet „Fidelio“. Bill beschließt, auch auf diese Party zu gehen, Nick ist wenig begeistert darüber. Allerdings benötigt Bill noch entsprechende Kleidung und erinnert sich an einen Patienten, der einen Kleiderverleih betreibt. Der allerdings hat sein Geschäft an den patriarchalisch auftretenden Milich (Rade Serbedzija) verkauft, der Bill gegen einen Aufpreis von etlichen Dollar Umhang und Maske ausleiht. Als Bill schon gehen will, hören beide ein Geräusch. Hinter dem Verkaufstresen treibt es Milichs noch relativ junge Tochter (Leelee Sobieski) mit zwei wesentlich älteren Japanern (Togo Igawa, Eiji Kusuhara), die sich als Frauen verkleidet haben. Milich scheint entsetzt. Bill ist es.

Ein Taxi bringt ihn zu einem prunkvollen Landsitz außerhalb der Stadt. Bill gibt dem Fahrer zusätzlich Geld, damit der auf ihn wartet. Mit dem Passwort bekommt er Zugang zu den Räumen, in denen die Orgie der Maskierten, eröffnet durch eine offenbar festen Regeln folgende Zeremonie, stattfindet. Bill geht durch die Räume, in denen es einzelne Paare miteinander treiben, andere zuschauen, wieder andere fast regungslos herum stehen und ins Nichts zu blicken scheinen. Etliche Frauen scheinen mit ihm verkehren zu wollen, doch plötzlich greift ihn eine der Frauen am Arm, zieht ihn beiseite und warnt ihn, er müsse sofort das Gebäude verlassen, weil er in Lebensgefahr schwebe.

Zu spät. Zwei Aufpasser führen Bill in einen Raum, umsäumt von Gestalten in schwarzen Kutten, in der Mitte drei Männer, zwei in blauem, einer in rotem Umhang gekleidet. Als er aufgefordert wird, seine Kleider abzulegen, ruft die Frau, die ihn gewarnt hatte, von der Empore, sie opfere sich für Bill, man solle ihn gehen lassen. Bill wird hinaus begleitet und eindringlich gewarnt, nie wieder hier aufzutauchen oder irgend jemandem von den Vorkommnissen zu erzählen.

Als er gegen 4 Uhr nachts nach Hause kommt, erzählt ihm Alice von einem Alptraum: In einem großen Garten habe eine Orgie stattgefunden und sie sei dabei gewesen und von mehreren Männern gefickt worden.

Am nächsten Tag begibt sich Bill auf die Suche nach Nick. Doch in dessen Hotel erfährt er von dem Hotelangestellten an der Rezeption (Alan Cumming), der offensichtlich homosexuell ist und Bill äußerst attraktiv findet, dass Nick von zwei Männern um 5 Uhr morgens abgeholt worden sei, mit einer Schürfwunde am Hals. Danach gibt Bill die ausgeliehenen Kleider zurück, muss allerdings die Maske bezahlen, die er offensichtlich verloren hat. Plötzlich erscheint die Tochter des Verleihers mit den beiden Japanern. Milich sagt nur, er habe sich die Sache mit seiner Tochter nochmals überlegt (er hat seine Tochter verkauft). Bill fährt zum Landsitz, ein Mann übergibt ihm einen Brief, in dem er ultimativ aufgefordert wird, seine Nachforschungen sofort einzustellen.

Bill ruft Marion an. Doch am Apparat meldet sich deren Verlobter. Als er zu Domino will, erzählt ihm deren Kollegin Sally (Fay Masterson), Domino habe ihr erzählt, wie rührend er zu ihr gewesen sei, aber Domino werde wohl nicht wiederkommen, weil sie erfahren habe, HIV-positiv zu sein. Bill geht weiter, wird von einem Mann in einem Regenmantel verfolgt, setzt sich in ein Café und liest dort in der Zeitung (deren Titelstory überschrieben ist mit „Lucky to be alive“), dass Mandy, die Frau auf Zieglers Ball, die ihn auf dem Landsitz gewarnt hatte, an einer Überdosis gestorben sei. In der Leichenhalle des Krankenhauses beugt sich Bill über die tote Mandy, als wolle er ihr einen Kuss geben und dafür danken, dass sie ihn gerettet hat.

Kurz darauf bestellt Ziegler Bill zu sich. Er hat ihn beschatten lassen. Ziegler bittet Bill inständig, nicht über die Vorkommnisse auf dem Landsitz mit irgend jemand zu sprechen. Die feine Gesellschaft würde sich bitter rächen, wenn er dies tue. Mandy sei wirklich an einer Überdosis gestorben und nicht ermordet worden. Und Nick habe man ins Flugzeug nach Seattle gesetzt. Auch ihm sei nichts passiert.

Als Bill nach Hause kommt, liegt Alice im Bett. Auf seinem Kopfkissen liegt die verloren geglaubte Maske. Bill ist am Ende, bricht in Tränen aus und erzählt Alice die ganze Geschichte.

Es ist kurz vor Weinachten. Und am nächsten Tag gehen Alice und Bill mit ihrer Tochter Helena (Madison Eginton) in ein Kaufhaus, um die letzten Geschenke zu kaufen. Alice meint, sie müssten dankbar dafür sein, dass sie beide aus ihren Phantasien rausgekommen seien, ob sie real waren oder nicht. Hauptsache sei jetzt, dass beide wach seien und auch bleiben würden. Bill fragt: „Für immer?“ „Lass uns dieses Wort nicht benutzen. Es ist mir unheimlich. Ach ja, und es gibt etwas äußerst dringendes, was wir machen müssen.“ „Was denn?“ fragt Bill. „Ficken.“

In „Clockwork Orange“ gibt es u.a. eine zentrale Szene, in dem sich der Held Alexander mit gewaltsam aufgerissenen Augen stundenlang Filme ansehen muss, in denen Sexualität und Gewalt gezeigt werden, um ihn gegen beides zu immunisieren. Diese „Therapie“ führt dazu, dass ihm später stets schwindlig und übel wird, wenn er auch nur an Sex oder Gewalt denkt. Dieses „Eyes wide open“ ist ein zutiefst gewalttätiger Akt, durch den Alexander genötigt wird, sich dem Reglement der Macht zu unterwerfen. „Eyes wide shut“ ist dazu in gewisser Weise das „mentale“ Gegenstück – nicht Gegenteil. Die Augen weit, d.h. fest verschlossen, dieses Bild rekurriert auf die Verstärkung der Phantasie. „Schließen Sie Ihre Augen und denken Sie an ...“ soll die Phantasie anregen, die Vorstellungskraft fördern, die Visualisierung stärken. Niemand in „Eyes Wide Shut“ schließt tatsächlich die Augen – und schließt sie doch. Es geht nicht um das Sehen als biologische Möglichkeit, sondern als soziales, als kulturelles und kulturell bedingtes Sehen, Visualisieren und die damit verbundenen (sexuellen) Phantasien. Das Wort Phantasie ist assoziiert mit Begriffen wie: Vorstellung(skraft), Einbildung(skraft), aber auch Trugbild, Fiktion, Hirngespinst, Luftschloss, Traum, Wahn, Lüge, Märchen, und natürlich Wunsch und Kreativität.

Am Anfang steht die Phantasie des Betrugs: Alice scheint eifersüchtig und sich rächen zu wollen. Sie erzählt Bill von einer sexuellen Phantasie mit einem Marineoffizier und fügt etwas hinzu, was dann eine Lawine auslöst: Nur ein Wort dieses Mannes und sie hätte alles stehen und liegen lassen: vor allem ihren Mann und ihre Tochter – aufgrund einer sexuellen Phantasie mit einem Mann, den sie nicht kannte. Der Offizier steht für ein Objekt der sexuellen Phantasie von Alice, so, wie für Szavost auf dem Ball Zieglers Alice als Objekt seiner sexuellen Phantasien steht.

Diese sexuelle Phantasie der Entmenschlichung des phantasierten Subjekts kulminiert auf der Reise Bills in der „Orgie“ auf dem Landsitz. Die Ent-Subjektivierung ist hier auf die Spitze getrieben: Alle tragen Masken, sie küssen sich nicht beim Sex, und vor allem wird nicht miteinander geredet. Es herrschen Isolation und Emotionslosigkeit. Die bedeutungsstiftende Nähe von Sexualität zwischen Ich und Ich ist vollständig ersetzt durch ein Ritual, in dem es keine „Ichs“ mehr gibt, nur noch „Es“. Das Ritual gleicht frappierend dem eines Geheimbundes, einer Loge und den Ritualen der katholischen Kirche, vor allem der Inquisition. (Das barock anmutende Interieur und die später zu hörende arabisch anmutende Musik können über die Kälte des Geschehens nicht hinwegtäuschen.) Als Bill entdeckt wird, steht er vor der Inquisition: zwei Herren in blau, einer in roter Kutte, umsäumt von maskentragenden schwarzen Kutten, fordern ihn auf, sich zu entblößen, sich zu offenbaren. Eine verkehrte Welt: Die Maskierten erscheinen als Normalität, der Demaskierte als Außenseiter. Er gehört hier nicht her. Warum?

An dieser Stelle kommen zwei weitere zentrale Momente hinzu: Geld, nicht so sehr als Eintrittsgeld für das Ritual der Schicht, der Bill ja auch angehört, sondern als sozial herrschende Macht. Zweitens der Zusammenhang von (sozialer) Inquisition und Sexualität. Die katholische Kirche steht für Lustfeindlichkeit, für entmenschlichte Sexualität, für die Verbannung der Sexualität aus einem subjektiven Zusammenhang der Individuen, für die Degradierung der Sexualität aus dem konkreten Lebenszusammenhang der Subjekte in den Bereich des Schmutzes, des Verpönten, des Teuflischen (nur erlaubt als notwendiges „Übel“ für Fortpflanzung) – aber damit (!) eben zugleich und unvermeidbar für die Produktion von Bereichen, in denen die so isolierte Sexualität in einer entmenschlichten, anonymen, ent-personalisierten und entgeltlichten Weise „ausgelebt“ wird. Gemeinhin wird dies als „Doppelmoral“ bezeichnet: Die in den Schmutz gezogene Sexualität korrespondiert mit der Prostitution. Das Verbotene wird „nur“ stark reglementiert. Die Zuweisung von Adjektiven wie schmutzig, teuflisch usw. produziert Sphären, in denen sich die Individuen „im Schmutz wälzen“. Der Lebenszusammenhang ist aufgebrochen, zergliedert, die sexuelle Phantasie isoliert sich in einem anderen praktischen Kontext der ritualisierten Orgie, der Prostitution oder der bedeutungslosen sexuellen Phantasie über Sexualobjekte.

Der historische Rückgriff auf die inquisitorische Kirche des Mittelalters und die Kirche und die Geheimbünde des 18. Jahrhunderts ist in dieser Szene mehr als deutlich visualisiert. Bill will sich und den Kontext, in dem er sich bewegt, letztlich auf-klären, erhellen, auch wenn ihm das vielleicht nicht bewusst ist. Er reagiert auf die Phantasie seiner Frau konkret: Er sucht praktische Wege für die sexuelle Phantasie. Er scheitert bei jedem Schritt und muss dafür bezahlen. Er zahlt Geld für Domino, obwohl „nichts passiert“; er zahlt Geld für Maske und Umhang und noch mehr, weil er die Maske scheinbar verloren hat; und präsentiert wird ihm ein Vater, der seine Tochter zur Prostituierten gemacht hat, die mit zwei maskierten, verkleideten Fremden schläft. Sie schaut Bill an, als wolle sie sagen: Du kannst auch ... Er zahlt für das Taxi, das ihn zum Landsitz bringt, mehr als üblich, damit der Fahrer wartet. Er bringt Domino ein Geschenk, aber sie ist nicht da, HIV-positiv. Das Geschenk ist wertlos, denn auch Dominos Freundin schläft nicht mit ihm, weil sie glaubt, er könne sich infiziert haben. Er begegnet fast ausschließlich Menschen, die in ihm ein Objekt ihrer sexuellen Phantasie sehen, einschließlich des schwulen Angestellten an der Rezeption. Bill zahlt, aber alle seine Versuche scheitern. Er schläft mit keiner Frau und schon gar nicht mit dem schwulen Angestellten an der Rezeption, der als einziger (!) kein Geld von ihm verlangt hätte.

Alice hätte mit dem Marineoffizier schlafen können: umsonst, mit dem Ungarn ebenfalls umsonst. Bill zahlt: umsonst. Für Alice bleibt letztendlich die Möglichkeit des bedeutungslosen Sex bestehen, für Bill nicht, da er auf dem Zusammenhang von Sexualität und Zuneigung insistiert. Für Alice ist nach der Reise durch die Phantasie nur noch eines von Bedeutung: Mit Bill ficken.

Man kann diesen Schlussakkord von „Eyes Wide Open“ durchaus in unterschiedliche Richtungen interpretieren. Ist der letzte Satz von Alice die Kapitulation vor den beschriebenen Phantasien oder repräsentiert sie ein Fünkchen Hoffnung für eine Ich-Ich-Sexualität, den notwendigen Zusammenhang von Sexualität und Liebe? Worin besteht der Unterschied, wie James Berardinelli in seiner Filmkritik schrieb, „of heaving meaningless sex with someone who is regarded as an object, and the difficulty of having meaningless sex with someone who is seen as a person“. Bill befindet sich exakt in dieser Situation: bedeutungsloser Sex mit irgendwem und bedeutungslosem Sex mit seiner Frau. So jedenfalls könnte man den Schluss des Films empfinden.

Die Schlussszene wird aber auch in die Richtung interpretiert, Kubrick habe – unter dem Weihnachtsbaum – die Kleinfamilie „gerettet“. Das halte ich für eine völlige Fehleinschätzung. Im Gegenteil: Für Bill wie Alice bleibt das Problem bestehen, ob und in welcher Weise Sex und Zuneigung für sie zusammengehören. Ich halte den Schluss auch keineswegs für eine moralisch-pathetische „Umkehr“, für eine „einfache“ Lösung. Kubricks Thema war immer die Entmenschlichung der Gesellschaft, in bezug auf welches Problem auch immer, hier der Sexualität. „Eyes Wide Shut“ knüpft insofern (nicht nur, aber vor allem auch) an „The Shining“ an, in der die Entmenschlichung sozialer Beziehungen in bezug auf den „wahnsinnig“ gewordenen Jack Nicholson, der seine Frau und seinen Sohn zur Räson bringen will, indem er sie zu töten beabsichtigt, ein zentrales Thema darstellt.

Noch kurz: Tom Cruise und Nicole Kidman als zentrale Figuren des Films sind phantastisch.


 

Shining-Filmplakat
Shining-2
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Full Metall Jacket-Filmplakat
Full Metal Jacket-2
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Eyes Wide Shut-Filmplakat
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