Lampedusa (Respiro) Italien, Frankreich 2002, 95 Minuten Regie: Emanuele Crialese
Drehbuch: Emanuele Crialese Musik: John Surman Director of Photography: Fabio Zamarion Montage: Didier Ranz Produktionsdesign: Beatrice Scarpato
Darsteller: Valeria Golino (Grazia), Vincenzo Amato (Pietro), Francesco Casisa (Pasquale), Veronica D'Agostino (Marinella), Filippo Pucillo (Filippo), Muzzi Loffredo (Nonna), Elio Germano (Pier Luigi), Avy Marciano (Olivier)
„Ich will atmen“
Zwischen Sizilien und Nordafrika liegt die karge Insel Lampedusa, auf der Emanuele Crialese seine fast märchenhafte Geschichte einer Frau, Grazia (Valeria Golino), spielen lässt, die durch ihr plötzliches Verschwinden die Bewohner der Insel in Gewissensnöte treibt, eine Geschichte, die auf einer Legende beruht, die sich die Menschen auf Lampedusa noch heute erzählen. Obwohl Crialese und Fabio Zamarion alles vermieden haben, um mitteleuropäische touristische Sehnsüchte aufkommen zu lassen, werden bei den Bildern, die die Kargheit der Insel und die Lebendigkeit und Vielfalt des Meeres einfangen, dennoch Sehnsüchte wach; das lässt sich kaum vermeiden.
Crialese inszenierte die Geschichte als mehr oder weniger sanften Konflikt zwischen einer längst vergangen geglaubten, fast archaischen Welt, in der das Leben ausschließlich von den Gesetzen der Natur diktiert scheint. Grazias Mann Pietro (Vincenzo Amato) und alle anderen Männer fahren aufs Meer, leben ausschließlich vom Fischfang; ihre Frauen arbeiten zumeist in der Fischfabrik. Den Kindern dient Fisch als Zahlungsmittel; sie erwerben dafür beispielsweise Lose. Die patriarchalischen Verhältnisse scheinen unumstößlich. Nur Grazia, die zwischen tiefer Depression und Lebensfreude hin und her schwankt, zwischen der Härte der Insel und der Lebendigkeit des Meeres, versucht aus diesem scheinbar ewigen Kreislauf auszubrechen. Sie will atmen (wie der italienische Titel „Respiro“ schon andeutet), und man nimmt ihr die Luft zum Atmen. Sie badet, nicht nur vor den Augen ihrer Söhne Pasquale (Francesco Casisa) und dem jüngeren Filippo (Filippo Pucillo), sondern auch vor den Augen der Männer des Fischerbootes, auf dem Pietro arbeitet, mit nacktem Oberkörper im Meer – fast ein Verbrechen in ihrer „zugeknöpften“ Umgebung.
Der 13-jährige Pasquale ist seiner Mutter sehr ähnlich; er steht auf ihrer Seite, während der einige Jahre jüngere Filippo ganz auf seinen Vater kommt und der Tradition verhaftet ist. Er will seine Schwester Marinella (Veronica D'Agostino) davon abhalten, mit dem aus Mailand kommenden jungen Polizisten zu flirten. Er geht dazwischen, mit herrschsüchtigem Ton. Er, der viel jünger ist als Marinella, will auch seine Mutter daran hindern, aus den gewohnten Bahnen einfach auszusteigen, als Grazia mit zwei französischen Touristen eine Segeltour unternehmen will.
Für Pietro und die Großmutter (Muzzi Loffredo) ist klar: Grazia ist krank und muss in Behandlung. Sie soll nach Mailand, um dort in einer Art therapeutischen Kur „geheilt“ zu werden. Für Grazia kommt dies nicht in Frage. Sie flüchtet, und Pasquale versteckt sie in einer Grotte, versorgt sie mit Lebensmitteln. Als die Dorfbewohner ein Kleid Grazias am Strand finden, glauben sie und Pietro, sie sei ertrunken oder habe sich das Leben genommen. Da hocken sie am Strand, schauen auf das Meer und haben ein schlechtes Gewissen.
Crialese kontrastiert den Lebenswillen, die Energie einer jungen Frau, die sich nicht an alle Konventionen halten will, mit den festgefahrenen Ritualen einer überkommenen Gesellschaft. Aber dieser Kontrast führt in „Lampedusa“ nicht zu einer Verurteilung der Dorfbewohner. Crialese lotet aus, wie viel an sozialer Geborgenheit und wie viel an Individualität notwendig sind, um das Leben lebenswert zu gestalten. Grazia will nicht weg von Lampedusa; sie fühlt sich ja nicht nur schlecht. Aber sie rebelliert. Selbst ihre Tochter steht ihr – ohne ihr direkt zu helfen – letztlich zur Seite. Sie flirtet mit einem Polizisten aus Mailand, also aus einer anderen sozialen Umgebung; sie unternimmt ihre ersten sexuellen Kontakte. Auch sie wird sich nicht durch Strukturen beeinträchtigen lassen, die man angeblich nicht hinterfragen darf.
Pietro schwankt zwischen der tief empfundenen Liebe zu seiner Frau und dem sozialen Druck der Gemeinschaft, deren treibende Kraft die Großmutter ist.
Einschränkend muss ich sagen: An Spannungselementen ist „Lampedusa“ nicht gerade reich. Stellenweise plätschert der Film vor sich hin. Das Meer, stets ruhig, ohne Sturm, ohne brausende Wellen, nur Lebenskraft verheißend und keine zerstörerischen Elemente in sich tragend, der Himmel, stets blau, und die Sonne, stets strahlend, vermitteln zwar einen heißen, aber dennoch sicherlich angenehmen Sommer. Doch diese Bilder entsprechen nicht immer unbedingt dem Konflikt, der sich in der kleinen Gemeinschaft der Fischer anbahnt. Entsprechend erzeugt der Konflikt nur punktuell „Wogen“, etwa wenn Grazia (großartig gespielt von Valeria Golino) sich nicht scheut, ihre Weiblichkeit zur Schau zu stellen, oder wenn sie sich gegen die Anfeindungen anderer Frauen in der Fischfabrik zur Wehr setzt. Ein bisschen zu friedlich schien mir die Inszenierung, ein wenig zu sehr legendenhaft.
© Bilder: Prokino Filmverleih
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