Liebe auf der Flucht
(L’Amour en fuite)
Frankreich 1979, 94 Minuten (DVD: 89 Minuten)
Regie: François Truffaut

Drehbuch: François Truffaut, Marie-France Pisier, Jean Aurel, Suzanne Schiffman
Musik: Georges Delerue, Laurent Voulzy
Director of Photography: Néstor Almendros
Montage: Martine Barraqué
Produktionsdesign: Jean-Pierre Kohut-Svelko

Darsteller: Jean-Pierre Léaud (Antoine Doinel), Marie-France Pisier (Colette Tazzi), Claude Jade (Christine Doinel), Dani (Liliane), Dorothée (Sabine Barnerias), Daniel Mesguich (Xavier Barnerias), Julien Bertheau (Monsieur Lucien)

Erinnerung und Versöhnung

„Caresses photographiées sur ma peau sensible.
On peut tout jeter les instants, les photos, c'est libre.
Y a toujours le papier collant transparent
Pour remettre au carré tous ces tourments.” (1)

Das Gleiten durchs Leben, das Flüchten, das Gleichgültige – hat es eine Grenze? Stößt es an Grenzen? Währt es immer, bis zum Tod? Oder holt auch den Individualisten, den flüchtigen Flüchtenden die Vergangenheit ein? Antoine Doinel (Jean-Pierre Léaud), inzwischen über 30 Jahre alt, ist seiner Christine noch immer freundschaftlich verbunden. Und als beide im Taxi zur Scheidungsrichterin fahren, erinnern sie sich unabhängig voneinander an Szenen aus ihrem Leben. Truffaut arbeitet in „Liebe auf der Flucht”, dem letzten Teil der Doinel-Reihe, massiv mit Rückblenden aus den vorhergehenden Filmen „Sie küssten und sie schlugen ihn”, „Geraubte Küsse” und „Tisch und Bett”.

Ein weiterer Kurzfilm („Liebe mit Zwanzig: Antoine und Colette”, siehe dazu die Ausführungen am Schluss dieser Besprechung) aus dem Jahr 1962, Teil eines mit den Regisseuren Ishihara, Ophüls, Renzo Rossellini und Andrzej Wajda inszenierten Projekts (Truffauts Teil: 29 Minuten lang), der einen Ausschnitt aus dem Leben Doinels nach seiner Flucht aus der Erziehungsanstalt zeigt, wird ebenfalls in Rückblenden zitiert. Er zeigt Antoine als Arbeiter in einer Schallplattenfirma und seine verzweifelten und vergeblichen Bemühungen um die junge Colette (Marie-France Pisier), in die er verliebt ist, wegen der er sogar die Wohnung wechselt, um in der Straße zu wohnen, in der auch Colette und ihre Eltern leben – für die er aber lediglich ein guter Freund ist.

Truffauts Rückblenden rekapitulieren nicht nur die bisherige Biografie Doinels. Sie stehen vor allem für ein jetzt in das Leben Antoines tretendes Moment, das einerseits sein bisheriges Leben in Frage zu stellen scheint, das ihm andererseits jedoch auch dazu dient, seine Biografie zu „schönen”: die Erinnerung.

„On était belle image, les amoureux fortiches.
On a monté le ménage, le bonheur à deux je t'en fiche.
Vite fait les morceaux de verre qui coupent et ça saigne.
La v'là sur le carrelage, la porcelaine.” (1)

Colette, inzwischen Anwältin, die Antoine nach der Scheidungsverhandlung zufällig vor dem Gerichtsgebäude sieht, trifft ihn in einem Zug wieder. Antoine springt, nachdem er nach der Scheidung seinen Sohn in die Ferien geschickt hat, in den Zug, mit dem Colette wegfahren will. Man kommt ins Gespräch – und zwar über das Buch, das Antoine geschrieben hat. Und auch wenn dieses Buch „Les salades de l’amour” kein Bestseller geworden ist, stellt es doch eines jener Momente der Erinnerung dar, die in dem Film eine große Bedeutung spielen. Und Colette erwischt Antoine bei einer faustdicken Lüge, die ihrer beider Geschichte betrifft.

Es sind allerdings weniger Lügen oder Lebenslügen, die den Film durchziehen. Truffaut verwebt Erinnerung, Zeitebenen, Fiktionales und Reales zu einem filmischen, erzählerischen Teppich, so dass deutlich wird, wie Erlebtes, Erfahrenes bei verschiedenen Akteuren durchaus unterschiedlich erinnert und verarbeitet worden ist. So erzählt Antoine Colette von einer Freundin Christines namens Liliane (Dani), auf deren Beziehung Antoine extrem eifersüchtig war. Diese Beziehung seiner Frau zu Liliane habe ihn dazu getrieben, mit einer anderen Frau zu schlafen. Christine erzählt später die Geschichte anders. Antoine habe mit Liliane geschlafen, um seine Eifersucht auf deren Freundschaft zu Christine zu überwinden.

Antoine erzählt Colette von einer Geschichte, die er schreiben wolle – von einem Mann, der einen anderen Mann in einer Telefonzelle beobachtet habe, der wütend offensichtlich mit einer Frau gesprochen und danach deren Bild zerrissen habe. Der andere Mann habe die Schnipsel wieder zusammengesetzt, sich in das Bild der unbekannten Frau verliebt und (erfolgreich) versucht, diese Frau zu suchen.

Doch auch dieses scheinbar Fiktionale ist real. Denn bei der Frau auf dem Bild handelt es sich um Sabine (Dorothée), Antoines Geliebte, die von diesem Ereignis nichts weiß. Colette andererseits weiß nicht, dass sie sich irrt in ihrer Eifersucht auf eine Frau, die sie für die Geliebte ihres Freundes Xavier (Daniel Mesguich) hält, die aber die Schwester Xaviers ist: eben jene Sabine, mit der Antoine liiert ist.

Doch nicht nur Zeitebenen, Erinnerungen, Fiktionales, Reales verschwimmen angesichts der unterschiedlichen Perspektiven der Akteure. Truffaut „setzt”zudem, wie man sieht, auf den „großen Irrtum”, die „falsche Annahme”. Auch Sabine irrt sich beispielsweise in der Einschätzung von Antoines Gefühlen ihr gegenüber. Sie will sich von ihm trennen, weil sie ihn zwar liebe, er sich aber für ein Leben mit ihr nicht wirklich entscheiden könne.

„Nous, nous, on a pas tenu le coup.
Bou, bou, ça coule sur ta joue.
On se quitte et y a rien qu'on explique refrain
C'est l'amour en fuite,
L'amour en fuite.” (1)

Truffaut zieht also in „L’amour en fuite” im Wortsinne Fäden unterschiedlicher Biografien, Erinnerungen usw., wobei die Schlussfolgerungen der einzelnen Akteure bezüglich der Einschätzung ihres eigenen Lebens und das der anderen bzw. deren Verhaltens vor allem geprägt sind von: Irrtum und Unzulänglichkeit. Erst als (fast) alle diese Fäden zusammenlaufen, verknüpft werden in Gesprächen zwischen Colette und Antoine, diesem und Sabine, und auch zwischen Antoine und dem Ex-Geliebten seiner vor Jahren verstorbenen Mutter, Monsieur Lucien (Julien Bertheau), eröffnet Truffaut plötzlich eine Perspektive, die am Schluss des Films und am Schluss des Doinel-Zyklus dann gar nicht mehr so absurd wirkt, wie es zunächst vielleicht erscheinen mag: ein doppeltes Happyend. Als Sabine von dem zerrissenen Foto erfährt, Antoine ihr die Geschichte mit der Telefonzelle erzählt und ihr das zusammengeklebte Foto zeigt, kommt es zur Versöhnung. Und auch Colette und Xavier versöhnen sich.

„J'ai dormi, un enfant est venu dans la dentelle.
Partir, revenir, bouger, c'est le jeu des hirondelles.
A peine installé, je quitte le deux-pièces cuisine.
On peut s'appeler Colette, Antoine ou Sabine.

Toute ma vie, c'est courir après des choses qui se sauvent :
Des jeunes filles parfumées, des bouquets de pleurs, des roses.
Ma mère aussi mettait derrière son oreille
Une goutte de quelque chose qui sentait pareil.” (1)

Tatsächlich könnte dieser Schluss angesichts der individualistischen Perspektive der vorangegangenen Filme in Bezug auf die Figur des Antoine Doinel überraschen. Im nachhinein allerdings weniger, denn Truffaut lässt über die Rückblenden, die nicht nur Erinnerung artikulieren, sondern auch die Möglichkeit eröffnen, das eigene Leben zu rekapitulieren und daraus Schlussfolgerungen zu ziehen, Antoine an eine Art Knotenpunkt gelangen, an dem er zwar Individualist bleibt, seine egozentrische Mentalität aber abzustreifen scheint. Gerade seine Erinnerungen, etwa an die wunderschöne Szene in „Tisch und Bett”, als er Christine im Bett bittet, ihre neue Brille wieder aufzuziehen – eine Liebeserklärung, die kaum schöner zu filmen ist, ermöglichen Antoine eine Art Kehrtwendung, oder besser eine Korrektur zu vollziehen. Die Gleichgültigkeit, mit der Antoine bislang durch sein Leben und das anderer gegangen ist, scheint ein Ende gefunden zu haben – zumindest lässt Truffaut dies als Perspektive in der Schlussszene zu.

Zugleich ist „Liebe auf der Flucht” aber auch eine Rekapitulation Truffauts selbst auf seine Arbeit als Regisseur in Bezug auf den Doinel-Zyklus, also eine filmische Vergewisserung, die Aufarbeitung seiner eigenen Arbeit als Regisseur, die zu einem gewissen (positiven) Abschluss gebracht wird. Das doppelte Happyend und die Rückblenden im Film auf die anderen Filme stehen daher auch für diesen filmischen und filmhistorischen Abschluss – schließlich war Truffaut vor seiner Arbeit als Regisseur Filmkritiker, was sicherlich diese Art einer abschließenden Betrachtung der eigenen Arbeit beeinflusst hat.

© Bilder: mk2 und Concorde Home Entertainment

(1) Laurent Voulzy: „L’amour en fuite”.