Liebe mit Zwanzig: Antoine und Colette
(L’Amour à vingt ans: Antoine et Colette)
Frankreich [Polen, Deutschland, Italien, Japan]
Regie: François Truffaut

Drehbuch: François Truffaut
Musik: Georges Delerue
Director of Photography: Raoul Coutard
Montage: Claudine Bouché

Darsteller: Jean-Pierre Léaud (Antoine Doinel), Marie-France Pisier (Colette), Patrick Auffay (René), Rosy Varte (Mutter Colettes), François Darbon (Stiefvater Colettes), Jean-François Adam (Albert Tazzi)

Von der Leichtigkeit des Seins

Freiheit! Da steht er oben am Fenster seines Zimmers, irgendwo in Paris, und genießt sie: die Freiheit. Antoine Doinel (Jean-Pierre Léaud), hinaus geworfen aus Familie und Schule, abgeschoben in eine Erziehungsanstalt, von dort geflüchtet bis ans Meer, ist wieder in Paris und arbeitet bei Philips, in der Schallplattenfabrik. Keine besondere Arbeit, nichts, was ihn wirklich vorwärts bringt. Aber will Antoine in diesem Sinn überhaupt „vorwärts”? Eher nicht. Sein „Vorwärts” ist ein anderes, eines, das ihm Unabhängigkeit gibt, Freiheit von möglichst vielen Zwängen, von Eingesperrtsein, von Verhältnissen, in denen ihm nur Hass oder Verachtung entgegengebracht wird. Und um diesen Zwängen zu entgehen, nimmt er den Zwang zu (irgendeiner) Arbeit gern in Kauf.

Nach „Sie küssten und sie schlugen ihn” (1959) beteiligte sich François Truffaut 1962 an einem Filmprojekt mit den Regisseuren Andrzej Wajda, Shintarô Ishihara, Marcel Ophüls und Renzo Rosselini zum Thema „Liebe mit Zwanzig”. Der 29 Minuten lange Beitrag Truffauts beschäftigt sich mit der Zeit nach der Flucht seines Helden und alter ego Antoine Doinel aus der Erziehungsanstalt, gedreht direkt nach Fertigstellung von Truffauts Klassiker „Jules et Jim”.

Antoine hat wieder Kontakt zu seinem Schulfreund René (Patrick Auffay), mit dem er oft die Schule geschwänzt hatte und statt dessen durch die Straßen von Paris gezogen war. Mit ihm oder auch allein besucht Antoine Vortragsveranstaltungen, Konzerte oder das Kino. Und dort sieht er eines Tages eine junge Frau, nicht viel älter als er, und ist hin und weg. Colette (Marie-France Pisier) heißt sie. Unentwegt schaut er sie an, gefesselt von ihrem Anblick.

Er geht ihr hinterher, und eine Woche später erzählt er René stolz und begeistert, er habe sie in den letzten Tagen dreimal gesehen. Er spricht Colette an, man trifft sich bei Vortragsveranstaltungen, er gibt bei Colettes Mutter einen Liebesbrief ab, für den sich Colette später nüchtern, ja fast kühl bedankt. Antoine lässt nichts unversucht, um Colettes Herz zu gewinnen, ja, er zieht sogar in die Straße um, in der sie mit ihrer Mutter und ihrem Stiefvater wohnt. Von seinem Fenster aus kann er in die Wohnung der Angebeteten schauen.

Doch Colette bleibt distanziert. Sie mag Antoine, aber verliebt ist sie nicht in ihn. Man isst gemeinsam, lacht zusammen, trinkt, ist fröhlich. Doch Colette weist Antoine zurück – bis er eines Tages erleben muss, wie sie von einem anderen Mann, den sie später heiraten wird, Albert Tazzi (Jean-François Adam), abgeholt wird.

Die Leichtigkeit, mit der Truffaut diesen in Schwarz-Weiß gedrehten Kurzfilm inszenierte, widerspricht allem, was andere Regisseure in dieser Zeit aus einer solchen Geschichte gemacht hätten: nämlich eine Tragödie, ein sentimentales, möglicherweise rührseliges Stück Film, einen Film zum Heulen, ein „überproportioniertes” Drama. Anders Truffaut. Sicher leidet Antoine unter der Zurückweisung Colettes. Aber es zeigt sich eben auch schon hier (wie in den späteren Filmen des Doinel-Zyklus), dass er mit der Figur des Antoine einen anderen Typus von Akteur kreierte, eben jenen Individualisten, der angesichts seiner egozentrischen Grundhaltung, aber auch aufgrund seines Charakters als „Stehaufmännchen”, der sich letztlich durch nichts unterkriegen lässt, Hauptsache er unterliegt nicht allzu drastischen Zwängen, durch das Leben streift wie in einem leichten, ja beschwingten Flug, auf dem es keine Hindernisse gibt, die nicht zu überwinden wären oder denen er nicht aus dem Weg gehen könnte.

Diese Figur – und das erweist sich letztlich in allen Filmen des Zyklus – ist Filmfigur und reale Person zugleich, wenn man so will. Als Filmfigur ist dieser Antoine Doinel eine neue Kreation im Rahmen der nouvelle vague, als reale Figur repräsentiert er jenen aufkommenden Individualisten, der sich in den folgenden Jahrzehnten in den westlichen Gesellschaften vollends (in welche Richtung im einzelnen auch immer) entwickeln sollte. Die Identität beider Seiten der Figur des Antoine Doinel macht nicht nur das Spannende dieses Zyklus aus, sondern ermöglicht Truffaut eben auch jene Leichtigkeit der Inszenierung, jenen lockeren Umgang mit der Geschichte seines Helden, ohne dass diese Art des Filmens in Seichtigkeit abgleiten und ohne dass die Handlung zerfransen würde. Das Tragische wie das Komische der Handlung kommen daher ohne jene Theatralisierung aus, ohne jene Überdramatisierung, die früheren Filmen über solche Geschichten anhaftete.

Antoine nimmt es irgendwann hin, dass er abgewiesen wurde, ohne sich dadurch in seinem weiteren Weg allzu stark beeindrucken zu lassen. In seiner Figur kommt das Beschwingte, das tragisch und komisch zugleich sein, das Ernst wie Heiterkeit repräsentieren kann zu voller Blüte. Bereits in „L’Amour à vingt ans” und im ersten Film „Sie küssten und sie schlugen ihn” ist dies deutlich zu spüren.

© Bilder: mk2 und Concorde Home Entertainment