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Lügen der Liebe (L’Appartement) Frankreich 1996, 116 Minuten Regie: Gilles Mimouni
Drehbuch: Gilles Mimouni Musik: Peter Chase Director of Photography: Thierry Arbogast Montage: Caroline Biggerstaff, Françoise Bonnot Produktionsdesign: Philippe Chiffre
Darsteller: Romane Bohringer (Alice), Vincent Cassel (Max), Jean-Philippe Écoffey (Lucien), Monica Bellucci (Lisa), Sandrine Kiberlain (Muriel), Olivier Granier (Daniel)
Wie es scheint ...
Er kann sich nicht entscheiden. Nicht nur nicht, welchen Ring er kaufen soll. Er kann sich nicht festlegen. Und doch scheint es, als habe sich jeder, auch er, in diesem Film festgelegt. Er braucht Bedenkzeit. Er muss sowieso geschäftlich nach Japan. Und dann sieht er sie, diese Frau, die alle seine Pläne über den Haufen wirft. Für sie lässt er sogar den Flug nach Japan sausen.
Gilles Mimounis erster und bislang einziger Film „L’Appartement” beschäftigt sich mit der Täuschung, der Lüge und verwickelten Ereignissen, die auf Täuschung und Lüge beruhen. Für den Betrachter ist zunächst verwirrend, was er sieht. Er sieht, glaubt zu sehen, und sieht doch nur einen Bruchteil dessen, was tatsächlich geschieht. Mimouni lockt ihn auf falsche Fährten, in die erinnerte Vergangenheit, wieder zurück in die Gegenwart. Manches Mal hat man den Eindruck, man bekomme Fiktives, Geträumtes, Eingebildetes vorgesetzt. Traum und Realität scheinen vor den Augen zu verschwimmen, und doch ist alles so real, nur eben teil-real. Verschlungene Pfade kreuzen sich, führen wieder auseinander. Ein Puzzlespiel tut sich auf, das anfangs nur schwer durchschaubar ist.
Max (Vincent Cassel) kann sich nicht entscheiden. Er will heiraten, sein bisheriges Leben schnell wechselnder Partnerschaften wohl aufgeben. Doch dann sieht er eine Frau, Lisa (Monica Bellucci), die ihn fasziniert. Er verfolgt sie, in ein Theater, auf der Straße, bis in ihre Wohnung. Er fliegt, ohne jemanden zu informieren, nicht nach Japan, verlässt den Flughafen wieder und sucht nach Lisa. Er erzählt seinem Freund Lucien (Jean-Philippe Écoffey) von dieser Frau, der wiederum gerade versucht, mit einer gewissen Alice (Romane Bohringer) anzubändeln. Lisa wiederum erscheint in Luciens Schuhgeschäft und stellt Max zur Rede, denn sie hat bemerkt, dass er sie verfolgt.
Schnell wird deutlich, dass wir eine Mischung aus Max Gegenwart und Vergangenheit zu sehen bekommen. Max mit Zopf in seiner Erinnerung, Max mit anderer Frisur in der Gegenwart. Lisa – das war einmal jene Frau, mit der Max liiert war. Und nun sieht er sie wieder, erinnert sich. Bruchstücke der Erinnerung, eine Trauerfeier, die Frau eines gewissen Daniel (Olivier Granier) wird beerdigt. Dieser Daniel verfolgt Lisa. Irgendwann war Lisa verschwunden. Sie ist Schauspielerin, und sie ging mit ihrer Truppe nach Italien. Er hatte ihr einen Heiratsantrag gemacht, auf den sie nicht geantwortet hatte.
Rückblende: Lisa und Max tanzen zu einem Chanson von Charles Aznavour. Gegenwart: Max geht in die Wohnung von Lisa. Er hat immer noch einen Schlüssel – und dort erscheint eine Frau, die sich als Lisa ausgibt, eine zweite Lisa, die eigentlich Alice heißt – die Freundin Luciens ...
Mimouni präsentiert uns ein verwirrendes Spiel um vier Personen. Es wurde darauf hingewiesen, dass dieses Spiel in vielem den Filmen Hitchcocks gleiche – den falschen Fährten, die gelegt werden, den Windungen und Wendungen der Handlung usw. Das ist zweifellos richtig. Während bei Hitchcock allerdings ein Verbrechen im Zentrum des Geschehens steht, sind es bei Mimouni die Liebe, die erotische Anziehung, oder eben – insofern ist der deutsche Titel des Films nicht einmal falsch – die Lügen der Liebe – auch wenn eine Art Racheakt auch in „L’Appartement” eine Rolle spielt. Die feine, intelligente Art der Inszenierung zeigt uns zunächst fast ausschließlich alles aus der Perspektive von Max. Und es bleibt zunächst unklar, ob er einer wirklichen Frau oder einem Phantombild nachjagt. Später wird sich herausstellen, dass beides in gewisser Weise den Tatsachen entspricht. Die Szenerie aus der Perspektive von Max ersetzen später Perspektiven aus der Sicht von Lisa, Alice und auch Lucien. Erst dadurch wird die Handlung zu einem logischen Ganzen, das im nachhinein derart kompakt und widerspruchsfrei erscheint, dass ein Rückblick auf den Film erstaunlich wirkt, weil man erst jetzt bemerkt, wie geschickt in der Inszenierung die Handlungsstränge verknüpft und montiert wurden.
Würde man in das Zentrum des Films ein Verbrechen stellen, hätte man tatsächlich so etwas wie einen Hitchcock-Thriller vor sich. Aber auch ohne ein solches Verbrechen wartet man jeweils gespannt auf die nächste Einstellung – bis zum Schluss.
Doch „L’Appartement” ist nicht nur in formaler Hinsicht spannend. Mimouni zeigt uns nicht nur im Formalen Täuschung. Die dramaturgischen Effekte leiten sich direkt aus dem Verhalten, der Mentalität und dem Empfinden der Handelnden ab. Oder ist es vielleicht umgekehrt? Genau diese Frage ist angesichts der Art und Weise der Inszenierung wirklich unwichtig. Denn Mimouni beweist einmal mehr, dass das Kino weder nur aus Stil und Formalem, noch nur aus Inhalt – Handlung, Personen und Ort der Handlung – besteht. Es besteht im besten, im optimalen Fall aus beidem. Auch in dieser Hinsicht ist der Film einem Thriller Hitchcocks (aber sicher auch anderer Regisseure) sehr ähnlich. Mimouni „montiert” die Elemente des Kinos – Inhalt und Stil – in einer nahezu perfekten Weise.
Wir treffen auf Personen, die sich nicht festlegen können, jedenfalls gilt dies für Max und Alice. Max ist einer jener Männer, die von einem Abenteuer ins nächste stürzen, die an fast jeder Frau etwas fasziniert, was sie dazu treibt, sich voll auf sie zu konzentrieren – bis zur nächsten Frau, die ihn begeistert. Die Verlobte, die er heiraten will, dann Lisa, die ehemalige Freundin, dann Alice. Über Alice selbst sei hier nichts verraten, weil das die Spannung und das Vergnügen am Film nehmen würde. Demgegenüber stehen Lisa und Lucien. Lucien glaubt, in Alice endlich die Frau seines Lebens gefunden zu haben; er kämpft um sie. Lisa wendet sich wieder Max zu, als der versucht, Kontakt mit ihr aufzunehmen, weil sie Max nie vergessen hatte. Sie sucht ihn, wartet auf ihn usw. Es ist fast so wie in der Mathematik – als wenn zwei Konstanten (Lisa, Lucien) auf zwei Variable (Max, Alice) treffen. Und die Variablen bestimmen das Spiel. Oder nicht? Ist auch dies Täuschung – zumal noch eine fünfte Person eine Rolle spielt: Daniel.
Auch stilistisch ist „L’Appartement” ein Genuss, weil Mimouni zum Beispiel völlig gleitende Übergänge zwischen der Handlung und den visualisierten Erinnerungsfetzen im Kopf von Max kreiert, so dass Erinnertes und Gegenwärtiges zu einer Einheit zu verschmelzen scheinen. Die Kamera lässt einen durch Fensteröffnungen in andere Zimmer sehen, versperrt den vollständigen Blick in eine Telefonzelle, zeigt uns Personen von hinten, von denen wir annehmen es sei X oder A, später jedoch deutlich wird, es waren Y oder B. And so on.
Die Art der Inszenierung erinnert uns auch daran, mit welch eingeschränkter Perspektive wir selbst die Dinge manchmal wahrnehmen mögen, weil wir die Perspektive anderer und deren Handlungen nicht kennen.
Auch in anderem erinnert „L’Appartement” an Hitchcock. Was wir sehen, kann Täuschung sein, muss es aber nicht (wie in „Rear Window”). Max begibt sich auf die Suche, rennt quer durch die Stadt, geht in Häuser, in ein Hotel usw. (man vergleiche Cary Grants Flucht in „North by Northwest”). Personen erscheinen, die man für den und den hält, doch man täuscht sich (Hitchcocks „Vertigo”). Und schlussendlich setzt sich alles zum erwähnten großen Ganzen zusammen.
Vincent Cassel spielt zurückhaltend, fast minimalistisch „arm”, einen überzeugenden Max. Vor allem aber beeindruckte mich Romane Bohringer in der ganzen Vielfalt ihrer Rolle. Insgesamt ergänzen sich die vier Hauptpersonen des Films glänzend.
© Bilder: Artificial Eye. Screenshots von einer TV-Aufzeichnung.
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