Mamma Roma
Italien 1962, 106 Minuten
Regie: Pier Paolo Pasolini
Drehbuch: Pier Paolo Pasolini
Musik: Carlo Rustichelli
Director of Photography: Tonino Delli Colli
Montage: Nino Baragli
Produktionsdesign: Massimo Tavazzi

Darsteller: Anna Magnani (Mamma Roma), Ettore Garofolo (Ettore), Franco Citti (Carmine), Silvana Corsini (Bruna), Luisa Loiano (Biancofiore), Paolo Volponi (Priester) Luciano Gonini (Zacaria), Vittorio La Paglia (Signore Pellissier), Piero Morgia (Piero), Lanfranco Caccarelli (Carletto), Marcello Sorrentino (Tonino), Sandro Meschino (Pasquale), Franco Tovo (Augusto), Pasquale Ferrarese (Lino), Leandro Santarelli (Begalo)

Hoffnungen und deren Zerstörung

"... die Kirche kann gar nicht anders,
als völlig abseits der Lehre des
Evangeliums zu handeln; die Kirche
kann gar nicht anders, als sich in ihren
praktischen Entscheidungen nur noch
formal auf Gott zu berufen und
manchmal vielleicht auch das noch
zu vergessen; die Kirche kann gar
nicht anders, als rein verbal zur
Hoffnung aufzurufen, denn ihre
Erfahrungen mit den Menschen und
ihren Verhältnissen haben ihr jede Art
von Hoffnung geraubt ..."
(Pier Paolo Pasolini 1974)

Es scheint tragische Wirklichkeit, dass der wohl umstrittenste italienische Regisseur Pier Paolo Pasolini (1922-1975) ausgerechnet in jenem Milieu am 2.11.1975 brutal ermordet wurde, dem er sich zeit seines Lebens verpflichtet fühlte – dem Milieu der Außenseiter, Prostituierten, kleinen Gauner, Zuhälter, den armen und erbärmlichen Vorstädten Roms, in denen diejenigen ihr Leben fristeten, denen er in literarischer und filmischer Form und oft provokanter Art Gehör verschaffen wollte. Bis heute sind die Umstände der Ermordung Pasolinis nicht geklärt. Zwar wurde ein Täter verhaftet und verurteilt. Der allerdings widerrief sein Geständnis im Jahr 2005. Noch 2007 forderten Schriftsteller und andere eine erneute Untersuchung des Falls.

Pasolini beschäftigte sich vor allem mit einem: der Verlogenheit der italienischen Nachkriegsgesellschaft und ihrer oft auf Korruption, Lügen und Machtmissbrauch fußenden politischen Nomenklatura. Selbst die Kommunistische Partei Italiens schloss ihn aus, als er offen seine Homosexualität bekundete. Zunächst selbst orthodoxer Kommunist entwickelte sich Pasolini im Lauf der Zeit zu einer Stimme derjenigen, die ansonsten keine hatten. Mehrere seiner Filme und Romane wurden wegen Blasphemie, Darstellung von Unzucht oder "Aufhetzung zu militärischem Ungehorsam, aufrührerischer und antinationaler Propaganda und Anstiftung zum Verbrechen" verboten, dann wieder erlaubt, andererseits mit internationalen Preisen ausgezeichnet.

Die beiden ersten Filme Pasolinis – "Accattone – Wer nie sein Brot mit Tränen aß" (1961) und "Mamma Roma" (1962) – sind noch ganz dem italienischen Neorealismus verhaftet. Aber auch sie spielen in dem Milieu der Geschlagenen, der in soziale Ghettos Gesperrten, und sie erzählen von den Hoffnungen und Enttäuschungen der Menschen in diesem Milieu.

Hochzeit. Die Stimmung ist gut. Besonders Mamma Roma (Anna Magnani) scheint sich mehr zu freuen als alle anderen. Sie schwelgt in guter Laune. Denn der, der da heiratet, ist ihr Zuhälter Carmine (Franco Citti). Und Mamma Roma träumt von einem anderen Leben – von einem Leben ohne Prostitution. Jahre später sehen wir sie in Rom. Sie hat sich eine Wohnung besorgt, verkauft an einem eigenen Stand Obst. Sie will ein ordentliches Leben führen – vor allem ihres jetzt 16jährigen Sohnes Ettore (Ettore Garofolo) willen, den sie vom Land, wo sie früher auf den Strich gegangen ist, wegholt. Sie will Ettore von allen Verführungen und Risiken eines Lebens in Armut und Kriminalität schützen und fernhalten. Sie geht mit ihm in eine Kirche, in der mehr oder weniger reiche Leute verkehren.

Doch Ettore hat seine eigenen Gedanken und Pläne, scheint es. Er freundet sich mit Bruna (Silvana Corsini) an, mit der er Sex hat, mit Pasquale (Sandro Meschino) und seinen Freunden, die sich Geld durch kleine Gaunereien und Betrügereien verschaffen. Er verkauft heimlich eine seltene Schallplatte seiner Mutter, um Bruna ein Goldkettchen zu besorgen.

Als Mamma Roma dies alles bemerkt, wendet sie sich an einen Priester, der ihr rät, Ettore zur Schule zu schicken. Doch Mamma Roma gefällt das nicht; sie will Ettore sofort in geordnete Verhältnisse bringen. Und so kommt ihr die Idee, einen Restaurantbesitzer mit Hilfe ihrer ehemaligen Kollegin Biancofiore (Luisa Loiano) zu erpressen. Biancofiore soll Signore Pellissier (Vittorio la Paglia) in eine eindeutige Situation bringen, damit Mamma Roma und Biancofiores Zuhälter Zacaria (Luciano Gonini) Pellissier dazu zwingen können, Ettore in seinem Restaurant als Kellner zu beschäftigen. Und Ettore bekommt den Job. Sie kauft ihrem Sohn ein Motorrad – und alles scheint den Weg zu gehen, den Mamma Roma sich für Ettore und sich selbst ausgemalt hat.

Die Vergangenheit jedoch holt sie ein: Carmine erpresst Mamma Roma. Er braucht Geld, und Mamma Roma soll es ihm auf den Strich besorgen. Wenn sie sich weigere, würde er Ettore von ihrer Vergangenheit erzählen. Als Ettore ausgerechnet von Bruna erfährt, was alle im Viertel von seiner Mutter Vergangenheit längst wissen, gibt er den Job auf und beteiligt sich an den Gaunereien seiner Freunde ...

Anfang und Ende des Films sind durch mehr oder weniger offene religiöse Bilder gekennzeichnet. Der Blick auf die Hochzeitstafel ähnelt stark dem Blick auf das Abendmahl – und am Schluss blickt Mamma Roma, halb verzweifelt, halb wütend auf die Kirchenkuppel in der Ferne. Aber der Film insgesamt enthält diese religiösen Bezüge immer wieder – nur in einer absolut negativen Sicht auf die organisierte Religion. Der Zuhälter Carmine, der anfangs und dann zweimal später in Mamma Romas Leben auftaucht, gefährdet ihren Traum von einem kleinbürgerlichen, geordneten Leben immer wieder. Der Priester hat "gute Ratschläge", die Mamma Roma und ihren Plänen mit Ettore nichts zu nutzen scheinen. Und das Kreuz tragen sie und Ettore. Es scheint das "Schicksal" zu sein, das ihr immer wieder im Weg steht. Doch bei genauerer Betrachtung entblößt Pasolini das religiöse Heilsversprechen als Weg in die Irre, als Blendwerk.

Pasolini stellt seine Protagonisten in eine graue, triste Umgebung, und trotzdem sind es ihre Vitalität, ihr Lebenswillen, ihre Hoffnung, die sie aus dieser Tristesse wieder herausholen. Besonders Anna Magnani ist es natürlich, die der Figur der Mamma Roma diese Lebendigkeit einhaucht – eine Frau voller Pläne, Gedanken, Hoffnungen. Ihr lautes Lachen drückt dies aus, ebenso es die Verzweiflung zum Vorschein bringt. Ihr Traum, so zu sein und zu leben wie die, die in die Kirche gehen und ein Geschäft haben und keine materiellen Nöte kennen, zerbricht an der Fassade einer Gesellschaft, die die sozialen Differenzierungen und die soziale Deklassierung erhalten will, um sich selbst reproduzieren zu können.

Aber nicht nur Mamma Roma und Ettore, auch Carmine oder Bruna werden – selbst wenn sie zu Mitteln greifen wie der Erpressung – als Verlierer einer Gesellschaft dargeboten, die ihnen keine Chance lässt. Und: in denen sich die Mechanismen der Gesellschaft im Kleinen, ja im Winzigen widerspiegeln. Wenn Mamma Roma, zurückgezwungen auf den Strich angesichts der Erpressung durch Carmine, durch die Straßen im Dunkeln bewegt, dann zeigt Pasolini nur sie und ihre Begleiter, die sich mit ihr unterhalten wie auf einem Spaziergang. Die einen gehen nach rechts oder links ab, neue kommen hinzu. Es sind diese Dialoge, die ihre eigene Geschichte schreiben – die Geschichte von Realität und Illusion. Die Mechanismen funktionieren – selbst als am Schluss Ettore, gefesselt an sein Bett im Gefängnis, stirbt – in der ganzen Verzweiflung, die einen 16jährigen nur erfassen kann.

Es ist dieser symbolisch als Kreuzigung dargestellte Tod, die manchen heute als trivial oder gar lächerlich erscheinen mag, in der Pasolini jedoch – den damaligen Verhältnissen in Italien durchaus angemessen – die institutionalisierte Religion und ihr Heilsversprechen sozusagen vom Kopf auf die Füße stellt. Da ist kein "Vater, warum hast du mich verlassen", da ist nichts von dem zentralen Moment des Sterben Jesu, dem Leiden für die gesamte Menschheit, da ist nichts von Wundern – aber auch gar nichts. Am Schluss steht die absolute Einsamkeit, das elende Leiden vor dem Tod und das ebenso elende Leiden von Mamma Roma, die weiter leben muss.

"Mamma Roma" hat jedoch nichts Rührseliges, nichts Melodramatisches. Denn Pasolini belässt den Zuschauer in der Wirklichkeit, und nur dort. Geburt und Biografie entscheiden über die Zukunft, das scheinbar natürliche "Schicksal" wird von einer Gesellschaft und ihren Eliten, die gar nicht sichtbar werden (müssen), für unaufhaltsam und unabänderbar erklärt. Da bleiben alle Ideologeme à la "Jeder ist seines Glückes Schmied" – um es milde zu formulieren – blanker Hohn.

Pasolini – um nicht missverstanden zu werden – war Kommunist und Christ und insofern dem "Vater" des (sicherlich gescheiterten) "historischen Kompromisses" zwischen Katholiken und Kommunisten, Antonio Gramsci (2), zeitlebens verbunden. Seine "Ausfälle" gegen die institutionalisierte katholische Kirche aber gehören zu den wichtigsten Beiträgen jenes kritischen Italiens, von dem so viel verloren gegangen scheint. "Mamma Roma" steht eben in dieser Hinsicht auch für die Einforderung dessen, was Pasolini unter Nächstenliebe in einem zutiefst religiösen, aber eben auch anti-amtskirchlichen Sinne verstand.

(1) Das Zitat entstammt Pasolinis Besprechung eines Buches in der Zeitung "Tempo" vom 1.3.1974, hier zit. nach: Pier Paolo Pasolini: Freibeuterschriften. Aufsätze und Polemiken, München 1993, S.127.

(2) Zu Gramsci

Wertung: 10 von 10 Punkten.
© Bilder: Kinowelt / Arthaus
Screenshots von der DVD.


 

Mamma-Roma-6. Ettore