Maria voll der Gnade
(Maria Full of Grace)
USA, Kolumbien 2004, 101 Minuten
Regie: Joshua Marston

Drehbuch: Joshua Marston
Musik: Leonardo Heiblum, Jacobo Lieberman
Director of Photography: Jim Denault
Montage: Anne McCabe, Lee Percy
Produktionsdesign: Debbie De Villa, Mónica Marulanda

Darsteller: Catalina Sandino Moreno (María Álvarez), Yenny Paola Vega (Blanca), Guilied Lopez (Lucy), Patricia Rae (Carla), Wilson Guerrero (Juan), Johanna Andrea Mora (Diana Álvarez), John Álex Toro (Franklin), Jaime Osorio Gómez (Javier), Orlando Tobón (Don Fernando)

Eigenhaben ...

„About a year into the process,
I realized that aside from making
the film about a girl who lived
very far away, I was making a
film about a girl who was doing
something universal in trying to
figure out the meaning of her life.“
(Joshua Marston)

Das Kind ist noch nicht geboren, aber die falschen Propheten stehen schon bereit. Die Verführung ist ganz offensichtlich. Die Verheißung durch sie auch. Die Erlösung scheint von Anfang an für den Betrachter eine riskante Täuschung – für María (Catalina Sandino Moreno) wie für ihr ungeborenes Kind. Einen Joseph gibt es nicht. Der Vater des Ungeborenen, Juan (Wilson Guerrero) hat kein Interesse an María und schon gar nicht an beider Kind.

Doch auch wenn die christliche Metaphorik in Joshua Marstons Erstlingsfilm so hautnah erscheint, ist „Maria voll der Gnaden“ alles andere als eine Leidensgeschichte mit Heilsversprechen am Ende – jedenfalls nicht im christlichen Sinne. Nein, die Kirche und all ihre Institutionen, ihr Einfluss, ihre Predigten sind hier so fern, wie nur etwas fern sein kann. Eigentlich ist sowieso alles ganz anders als in der Geschichte über Maria und Josef, Jesus und so weiter.

María ist 17 Jahre alt und lebt mit ihrer Mutter und ihren Schwestern in mehr oder weniger ärmlichen Verhältnissen in einem Dorf in Kolumbien. Ihre Arbeit in einer Fabrik, in der Schnittblumen für die Märkte in der nördlichen Hemisphäre hergerichtet und verpackt werden, kündigt sie eines Tages. Ihr missfällt die barsche Behandlung der Frauen durch den Besitzer. Und: María ist schwanger, von Juan, mit dem sie geht, wobei keiner der beiden so genau weiß, warum man eigentlich „miteinander geht“. Keiner liebt den anderen.

Franklin (John Álex Toro), den sie beim Tanzen kennen gelernt hat, bietet ihr – die entschlossen ist, in Bogota eine Arbeit zu suchen – an, als „Maultier“ für einen gewissen Javier (Jaime Osorio Gomez) zu arbeiten. Javier ist Drogenschmuggler. Er engagiert junge Frauen und Männer, die – je nach Statur und körperlichen Kräften – 60 bis mehr als 100 gut verschnürte Drogenkapseln schlucken, um sie in die USA zu schmuggeln. María nimmt das Angebot an. Sie lernt Lucy (Guilied Lopez) kennen, eine junge Frau, die diese Arbeit schon länger verrichtet und die ihr Weintrauben gibt, um das Schlucken zu üben.

Dann ist es so weit. María schluckt die Kapseln, auf leeren Magen, bekommt noch ein Mittelchen, dass die Darmtätigkeit bremst, steigt ins Flugzeug, in dem auch Lucy und Marías beste Freundin Blanca (Yenny Paola Vega) sitzen, die von Franklin ebenfalls angeheuert wurde. Für Lucy beginnt eine Tortur. Ihr ist schlecht und sie befürchtet, eine der Kapseln könnte sich in ihrem Magen aufgelöst haben. In New Jersey angekommen, wird María von Beamten des Zolls kontrolliert. Man glaubt, sie sei eine Drogenkurierin. Da sie jedoch schwanger ist, macht man keine Röntgenaufnahme von ihr und lässt sie gehen.

Die beiden Typen, bei denen sich die Frauen melden sollen, sind grobe Kerle. Sie warten darauf, dass die Frauen die Kapseln wieder ausscheiden. Lucy geht es immer schlechter. Und in der Nacht muss María entdecken, dass das ganze Bad voll Blut ist und die beiden Kerle gerade Lucy zur Tür heraus schleppen. Sie und Blanca machen sich davon. In ihrer Not weiß María nur einen Rat: Sie geht zu Lucys Schwester Carla (Patricia Rae) und ihrem Mann und bittet sie darum, ein paar Tage bei ihnen unterkommen zu können. Sie erzählt Carla nicht, dass Lucy wahrscheinlich tot ist ...

„Maria Full of Grace“ könnte man als Spurensuche interpretieren. Aber der Film ist mehr. Die konkreten Umstände der Geschichte – junge Frau sucht ihr Glück außerhalb ihres Landes – sind dabei eher nebensächlich. Auch dass sie ihr Glück in den Staaten sucht, hat für die Geschichte keine wirklich wesentliche Bedeutung. Catalina Sandino Moreno spielt (überzeugend) eine 17jährige Frau, die sich vom Durchschnitt ihrer Altersgenossinnen und den Frauen in ihrer Familie „nur“ dadurch unterscheidet, dass sie versucht, sich nicht alles gefallen zu lassen. Es ist diese innere Stimme, die einem sagt: Bis hierher und nicht weiter, die María antreibt. Eigentlich eine stille, fast zurückhaltende Frau kann sie es nicht ertragen, von einem Idioten wie dem Schnittblumenfabrikbesitzer schlecht behandelt zu werden – für einen Lohn, mit dem sie die gesamte Familie mehr recht als schlecht unterhalten muss.

María will einen anderen Weg gehen – nicht den ideologisch verbrämten Weg des „Tellerwäschers“, der angeblich zum Millionär wird. Sie will schlicht und ergreifend raus aus der Armut, der Unterdrückung, dem Elend. Sie lässt sich verführen. Doch von Anfang an dieser Verführung merkt man, wie kritisch sie ihren Weg begleitet. Sie weiß um die Risiken des Drogenschmuggels, auch für die eigene Gesundheit und das Kind, das in ihr wächst – spätestens als sie in New Jersey bei einer Ärztin auf dem Ultraschall ihr Baby sieht. Und hier liegt der eigentliche Sinn dieser Geschichte: María lernt durch die Gefahr und die fremde Umgebung für sich selbst. Sie macht Fehler, erzählt Carla, die ebenfalls schwanger ist, nicht vom Schicksal Lucys. Und sie lernt aus diesen Fehlern.

Ein Erziehungsfilm? Vielleicht. Aber keiner, der mit erhobenem Zeigefinger daher kommt. Die Geschichte ist nämlich durchaus glaubhaft und glaubwürdig erzählt. Ein Film nach dem Motto „Eine, die es endlich begriffen hat“? Vielleicht auch das. Doch Marston hütet sich davor, ein Lehrstück zu fabrizieren, dass allzu pädagogischen Pädagogen als ideologisches Konstrukt einer primitiven und äußerlichen Moral dienen könnte.

„Maria voll der Gnade“ kennt eigentlich gar keine Moral, sondern „nur“ eine individuelle Entscheidung nach entbehrungsreichen Erfahrungen. Als sie sich – schon auf dem Rückweg nach Kolumbien – noch auf dem Flughafen dafür entscheidet, in den Staaten zu bleiben, während Blanca die Heimreise antritt, so ist dies keine Entscheidung einer „Gebesserten“ gegenüber ihrer Freundin, die scheinbar nichts gelernt hat. Es ist die Entscheidung eines Menschen, „es“ auf andere Weise an einem anderen Ort zu versuchen. María hat Carla kennen gelernt, eine Frau, die sich mit ihrem Mann durchschlägt. Und sie mag diese Carla. Vielleicht auch ein Grund für María, in New Jersey zu bleiben.

María ist eine junge Frau, die sich einen eigenen Kopf zum Denken bewahrt hat – schon in Kolumbien. „To figure out the meaning of her life“ bedeutet nicht, dem eigenen Egoismus zu folgen und sonst nichts und niemandem. María lernt Menschen kennen, mit denen sie nie wieder etwas zu tun haben will – etwa die beiden jungen Drogendealer, die im Grunde auch nur arme Schweine sind – und andere, mit denen sie immer etwas zu tun haben will, etwa Carla. In diesem individuellen Eigenhaben im Sinne eines inneren, kontinuierlichen „Widerstandspunkts“ gegenüber dem „Gang der Geschichte“ liegt der Sinn ihres Wegs – unabhängig davon, wohin er führt. Die Entscheidung, nicht nach Kolumbien zurückzukehren, ist eine wirkliche Entscheidung. Für María wäre eine Rückkehr nach Kolumbien keine solche wirkliche Entscheidung, sondern eine Kapitulation vor dem „Gang der Geschichte“, den andere bestimmen wollen oder auch wirklich bestimmen.

Wenn es ein Moment der Erlösung gibt, dann ist es diese Entscheidung, die eine für sich, für ihr Kind und für Carla und andere Menschen ist, die sie sicher in New Jersey kennen lernen wird.

María steht für einen Menschen, der sich dem „Gang der Geschichte“ nicht völlig verweigert – wer könnte das schon ! –, der aber an entscheidenden Punkten das individuelle Eigenhaben gegen die Sozialdisziplinierung und die Gewalt des Gesamtzusammenhangs einer Gesellschaft ins Spiel bringt. Das ist nicht etwa jener verkorkste egozentrische Individualismus der neoliberalen „Moderne“, hinter dem sowieso nur Macht, Gewalt und der Wille zur Fremdbestimmung stehen. Es ist der Versuch für sich selbst eine Bedeutung des eigenen Lebens zu finden. Mit anderen.

© Bilder: Universum Film.