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Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran (Monsieur Ibrahim et les fleurs du Coran) Frankreich 2003, 94 Minuten Regie: François Dupeyron
Drehbuch: François Dupeyron, Erich-Emmanuel Schmitt, nach dem Roman von Erich-Emmanuel Schmitt Musik: Chuck Berry, Bruce Channel, Max Freedman, Bobby Hebb, James E. Myers, Domingo Samudio, Timmy Thomas Director of Photography: Rémy Chevrin Montage: Dominique Faysse Produktionsdesign: Katia Wyszkop
Darsteller: Omar Sharif (Monsieur Ibrahim Demirdji), Pierre Boulanger (Moses „Momo” Schmitt), Gilbert Melki (Momos Vater), Isabelle Renauld (Momos Mutter), Lola Naymark (Myriam), Anna Suarez (Sylvie), Mata Gabin (Fatou), Céline Samie (Eva), Isabelle Adjani (Der Star), Guillaume Gallienne (Autoverkäufer)
Die Entdeckung der Langsamkeit
„Sunny, yesterday my life was filled with rain Sunny, you smiled at me and really eased the pain Now the dark days are done and the bright days are near My sunny one shines so sincere Sunny, one so true I love you.” (1)
Wo befindet man sich? In Algier, in Rabat, in Fez, in Marrakesh? Nein, in der Rue Bleue, Pigalle, Paris. Eine kleine, enge Straße, aber voller Leben, arabisches Leben, jüdisches Leben, französisches Leben – alles das und wie es ineinander fließt. Es fließt in diesem Film des französischen Regisseurs François Dupeyron. Satte Bilder – Läden, ein Knäuel von Menschen, alte, enge, auch mal größere Häuser, Schreie, Stimmen, Autos, Motorräder. Fast könnte man es riechen, schmecken, was hier verkauft wird, Gewürze, Spezialitäten aus fernen Ländern. Das Orientalische schaut in unser Wohnzimmer oder von der Kinoleinwand zu uns herab. Das Orientalische – was ist das? Erschöpft es sich unseren Reiseerfahrungen oder auch nur Vorstellungen, die wir aus Büchern oder Fernsehberichten konstruieren?
Nein, hier nimmt es Person an, in dem Gemischtwarenhändler Ibrahim Demirdji (Omar Sharif), einem ruhigen, aber nicht stummen alten Mann, der seit Jahren fast alles verkauft, was ein arabischer Laden so zu verkaufen hat, und mehr. Ibrahim ist ein weiser alter Mann, aber kein Araber, sondern Türke, obwohl alle Eltern ihren Kindern sagen: „Geh mal zum Araber einkaufen.” Araber, sagt Monsieur Ibrahim, ist einer, der Tag und Nacht geöffnet hat.
Auch der Junge Moses Schmitt (Pierre Boulanger) wird täglich von seinem Vater (Gilbert Melki) zum „Araber” geschickt. Die Schmitts sind Juden. Die Mutter hat sich von ihrem Mann getrennt. Und Moses Vater sagt, sie sei mit dem größeren Bruder von Moses weggegangen. Vater Schmitt ist ein enttäuschter Mensch, einer, den die Vergangenheit nicht ruhen lässt. Wir befinden uns in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts. Zu Hause erlebt Moses, der sich und den andere Momo nennen, nur tägliches Einerlei. Sein Vater erwartet abends das Essen auf dem Tisch, und Momo kauft ein und kocht. Momo kann von seinem Vater nichts erwarten.
Er zerschlägt sein Sparschwein und geht auf die Pirsch. Denn die Rue Bleue wird auch von Prostituierten frequentiert. Momo hat die Wahl, denkt er, aber die meisten Prostituierten lehnen es ab, sich einem Jungen zu verkaufen, der nicht mal 16 Jahre alt ist. Nur die blonde, freundliche Sylvie (Anna Suarez) erbarmt sich seiner – für 30 Francs. Und kurz darauf hat er auch Glück bei Fatou (Mata Gabin).
Glücklich ist Momo aber nicht. Denn sein Zuhause lässt ihm wenig Grund. Eines Tages allerdings kommt er mit Ibrahim ins Gespräch – und das verändert sein Leben. Denn Ibrahim weiß zu leben, obwohl er sich den ganzen Tag am selben Fleck aufhält. Er fragt Momo, warum er nie lächle. Er gibt Momo den Koran zu lesen. Er erzählt ihm, dass er ein Sufi ist, ein Anhänger des islamischen Mystizismus. Langsam werden die beiden Freunde. Und als Momos Vater eines Tages abhaut, weil er arbeitslos ist, ein schlechter Vater sei, wie er Momo in einem Abschiedsbrief schreibt, und wenig später die Polizei Momo berichtet, sein Vater habe sich umgebracht, adoptiert Ibrahim den Jungen und beide gehen auf Entdeckungsreise – bis in die Türkei.
„Sunny, thank you for the sunshine you gave Sunny, thank you for the love you brought my way You gave to me your all and all And now I feel ten feet tall Sunny, one so true I love you.” (1)
Es sind nicht die großen philosophischen Weisheiten, die Dupeyron (nach einem Erfolgsroman von Erich-Emmanuel Schmitt, der auf halb-autobiographischen Ereignissen beruht) über Monsieur Ibrahim dem Publikum aufs Auge drückt. Es sind die kleinen Dinge, die alltäglichen, an denen Ibrahim dem Jungen den Weg zeigt, auf dem er gehen kann, wenn er will. Wahrheit und Weisheit stünden nicht in den Büchern, sagt Ibrahim, man erschließe sich die Welt nur über das Gespräch mit einem anderen. Der Koran ist für ihn kein Dogma, sondern ein Buch, in dem alles stehe. Was man mit seinem Leben anfange, müsse man selbst wissen. Aber auch dies kommt nicht in Platitüden daher, sondern zart, und fast nebenbei. Ibrahim weiß, dass Momo ab und an in seinem Laden etwas mitgehen lässt. Aber er lässt ihn, denn, wenn er woanders stehlen würde, bekäme Momo nur Probleme.
Für Ibrahim haben auch seine Waren keinen festen Preis. Als eines Tages ein französischer Filmstar (Isabelle Adjani) in der Rue Bleue auftaucht (der Brigitte Bardot sehr ähnlich sieht), verkauft Ibrahim der blonden Schönheit eine Flasche Wasser für fünf Francs. „Ist Wasser hier eine solche Mangelware”, fragt der Star Ibrahim, der antwortet: „Wasser nicht, aber Filmstars.”
„Monsieur Ibrahim” ist kein Film über die Aussöhnung der Religionen, aber sicher einer über die Religionen hinweg. Ibrahim ist in gewisser Weise eine Art moderner Nathan, einer, der in den Dingen und Menschen nicht nur Schlechtes oder nur Gutes sieht. Er weiß, in allem etwas zu finden, was mehr Glück verspricht. Momo fühlt sich durch die bedächtige, ruhige Art des alten Mannes angezogen und akzeptiert ihn als zweiten Vater. Langsamkeit sei es, die der Welt fehle, meint Ibrahim, der stundenlang in seinem kleinen Geschäft sitzen kann, ein bisschen Geld zählt oder einfach nur auf die Straße schaut.
„Sunny, thank you for the truth you let me see Sunny, thank you for the facts from A to Z My life was torn like a windblown sand, then A rock was formed when we held hands Sunny, one so true I love you.” (1)
„Monsieur Ibrahim” gehört zu jenen ruhigen, fast stillen Filmen, in denen es gelungen ist, eine Art Gesamtbild eines sozialen Raums zu schaffen. Von der Ausstattung eines französischen Viertels im Stil der 60er Jahre bis hin zu den Handelnden fügt sich alles zu einem homogenen Bild, in dem nicht viel passiert, und doch so viel geschieht. Selbst die Musik aus der damaligen Hit-Radiosendung „Salut les copains” passt sich in dieses Bild nahtlos ein.
Sinnstiftung ist in gewisser Hinsicht Thema dieses Films, aber auf eine unprätentiöse Art, die fernab jeglicher pädagogischer Lehrbuchphilosophie liegt, eingefasst in eine manchmal fast märchenhaft erscheinende, kleinräumige Welt am Rande und doch im Zentrum der französischen Metropole.
Und es ist eine Freude, dem Spiel von Omar Sharif und Pierre Boulanger zuzusehen.
(1) Bobby Hebb: „Sunny”.
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