Nachtblende
(L’Important c’est d’aimer)
Frankreich, Italien, Deutschland 1975, 109 Minuten
Regie: Andrzej Zulawski

Drehbuch: Christopher Frank, nach seinem Roman „La Nuit americaine”
Musik: Georges Delerue
Director of Photography: Ricardo Aronovich
Montage: Christiane Lack
Produktionsdesign: Jean-Pierre Kohut-Svelko

Darsteller: Romy Schneider (Nadine Chevalier), Fabio Testi (Servais Mont), Jacques Dutronc (Jacques Chevalier), Claude Dauphin (Mazelli), Roger Blin (Servais Vater), Gabrielle Doulcet (Madame Mazelli), Michel Robin (Raymond Lapade), Guy Mairesse (Laurent Messala), Katia Tchenko (Myriam), Nicoletta Machiavelli (Luce Lapade), Klaus Kinski (Karl-Heinz Zimmer)

Spuren bedingungsloser Zuneigung

Wenn etwas eindeutig ist in Zulawskis „Wichtig ist nur zu lieben” (wie der Film im Original heißt), dann ist es der Unterschied zwischen der Anfangs- und der Schlussszene dieses 1975 inszenierten Films. In der ersten Szene sehen wir die erfolglose Schauspielerin Nadine (Romy Schneider) auf einem Kollegen, der mit Kunstblut übergossen ist, sitzend. Nadine ist Hauptdarstellerin in einem dieser billigen Pornos. Die Anweisungen der Regisseurin sind eindeutig: Sie soll dem halbtoten Darsteller ihre Liebe gestehen und es mit ihm treiben. Nadine kann nicht. Die Worte kommen ihr nur schwer aus dem Mund. Sie verweigert sich diesem ekelhaften Spiel. In der Schlussszene des Films kniet Nadine vor dem Fotoreporter Servais (Fabio Testi), der zusammengeschlagen wurde und blutüberströmt im Eingang seiner Wohnung liegt. Nadine streichelt seinen Kopf an haucht leise, sie liebe ihn.

Servais muss Schulden abbezahlen an einen gewissen Mazelli (Claude Dauphin), dem es egal ist, mit was er Geld macht. Er macht es vor allem mit Sexfotos, und Servais fotografiert angewidert für Mazelli. So gelangt er zu den Filmaufnahmen und zu Nadine. Ohne Erlaubnis fotografiert er Nadine, auf ihrem Kollegen sitzend, wird hinausgeschmissen – und taucht am nächsten Tag bei Nadine zu Hause auf, um von ihr angeblich Fotos für eine Illustrierte zu machen. Nadine lebt seit sechs Jahren mit ihrem Mann Jacques (Jacques Dutronc) zusammen.

„Wenn ich Sie frage, ob
wir uns irgendwann mal
sehen können, setzen Sie mich
dann sofort vor die Tür?”
„Sofort ... Wann?”
„Morgen in St. Germain um vier,
einverstanden?”
„Hier um drei Uhr. Einverstanden?
... Gut.”

Doch das Treffen am nächsten Tag endet damit, dass Servais die Wohnung Nadines wieder verlässt. Nadine will mit Servais zusammen sein, mit ihm reden. Doch er weiß nicht, wovon er reden soll, und geht.

Von Anfang an besteht jedoch zwischen Nadine und Servais das, was man wohl Anziehungskraft nennen kann, eine Anziehungskraft, die sie beide allerdings nicht zu nahe aneinander geraten lässt, eine Anziehungskraft über Blicke. Überhaupt sind es die Augen, die in Zulawskis Inszenierung das Handeln der Personen verdeutlicht. Servais vermittelt Nadine heimlich über den Schauspieler Zimmer (Klaus Kinski) und den erfolglosen Regisseur Messala (Guy Mairesse) eine Hauptrolle in dessen Theaterinszenierung zu Shakespeares Richard III. Lapade (Michel Robin), ein heruntergekommener Alkoholiker, mit dessen Frau Lucie (Nicoletta Machiavelli) Servais seit einiger Zeit ein Verhältnis hat, vermittelte ihm den Kontakt mit Zimmer und Messala. Allerdings verlangt Messala 10.000 Franc, damit Nadine bei dem Theaterstück mitmachen kann, um die Sache finanzieren zu können. Servais sieht keinen anderen Weg, als sich das Geld von Mazelli zu leihen, so dass er wieder in dessen Abhängigkeit gerät.

Zulawski entwickelt ein feines, an vielen Stellen (zunächst) schwer durchschaubares Gespinst von alten und sich neu ergebenden Beziehungen. Wir treffen auf Servais Vater (Roger Blin), der für die Abhängigkeit Servais von dem kriminellen Mazelli verantwortlich zu sein scheint, einen kaputten alten Mann, der möchte, dass sein Sohn nicht so endet wie er; auf Jacques, der sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser gehalten hat und seine Depressionen mit Albernheit zu überspielen sucht; auf Nadine, die am Ende zu sein scheint, die Jacques liebt, der sich jedoch von ihr abgewandt hat, weil er offenbar mit sich selbst nicht zurecht kommt; auf Servais, den die Abhängigkeit von Mazelli anwidert, den es andererseits immer wieder zu Nadine hinzieht, der sie aber nicht versteht – und der doch alles für sie tun würde; auf Lapade, der es nie überwinden konnte, dass seine Frau ihn verlassen hat, und der am Alkohol zugrunde gehen wird; auf den reichen schwulen Schauspieler Zimmer, der mit dem zwar verheirateten, aber dennoch schwulen Messala eine Beziehung zu haben scheint; und auf Mazelli selbst, einen untersetzten, schäbigen Kerl, dem es nicht nur darum geht, schnelles Geld zu machen, sondern der aus Prinzip andere von sich abhängig machen will.

Nichts scheint eindeutig zwischen Nadine, Jacques und Servais. Sie umkreisen sich, belauschen sich. Nadine liebt Jacques, stößt aber auf Distanz. Sie dankt Servais dafür, sie aus ihrer emotionalen Krise herausgeholt zu haben, will „zum Dank” mit ihm dafür schlafen, was Servais jedoch ablehnt. Servais liebt Nadine, merkt jedoch, dass sich Nadine von Jacques nicht trennen würde. Jacques beobachtet dies alles und stürzt noch tiefer in seine innere Krise – bis er sich schließlich mit Schlaftabletten selbst tötet.

Es sind diese Störungen, es ist dieses Defizitäre, was die Geschichte beherrscht, etwas, das sich zwischen die Personen stellt, ohne dass sie erkennen, was es ist. Nadine liebt Jacques, aber er unterbricht den Strom, Servais liebt Nadine, aber sie unterbricht den Strom, Jacques liebt Nadine, aber seine Krise kappt die Leitung zu ihr, Servais mag Jacques, aber seine Liebe zu Nadine zieht ihn zurück auf sich selbst. Jacques mag Servais, aber seine gestörte Liebe zu Nadine hindert ihn daran, Servais als Freund zu begreifen.

Dabei vermeidet Zulawski jegliche Rührseligkeit, jegliche Klischees. Es ist vor allem die Kraft der drei Hauptdarsteller, die dem Beziehungsgeflecht der Geschichte Glaubwürdigkeit und Tiefe gibt, vor allem die phantastische (und für ihre Leistung zu Recht ausgezeichnete) Romy Schneider, der man von den Augen ablesen kann, was Nadine empfindet. Die Brüchigkeit der Beziehungsgeflechte schwindet paradoxerweise durch den Tod: den Tod Lapades, der Servais aus der Beziehung mit dessen Frau entlässt, die er nicht wirklich geliebt hatte, und der Tod Jacques, der Nadine die Hinwendung zu Servais ermöglicht. Der Tod erlöst Nadine wie Servais aus den Dreiecksverhältnissen, die sie gefangen hielten.

Und noch etwas: Die Überformung der Beziehungen durch Geld, die alle beherrschte, scheint am Schluss geschwunden zu sein. Der Scheck, den Zimmer Servais gab und den Servais Jacques überreichte, aus Mitleid, scheint ebensowenig noch eine Rolle zu spielen wie die Abhängigkeit Servais von Mazelli, der seine Schläger auf ihn ansetzt. Doch dieser Schein trügt. Bei einem Gespräch mit Nadine hatte Jacques gesagt, das Schlimmste, was es gebe, sei Mitleid. Und es kann kaum ein Zweifel darüber bestehen, was er damit meinte: das Mitleid Nadines mit ihm, das sie zwar bestreitet, das aber immer im Raum zu schweben scheint, wenn beide sich begegnen; und das Mitleid Servais mit Jacques, das in der Übergabe des Schecks an ihn Ausdruck findet. Jacques kann dieses Mitleid nicht ertragen. Es ist für ihn sozusagen der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt, sprich: seinen Entschluss zum Selbstmord. Und was macht Jacques kurz vor seinem Tod? Er überschreibt alles, was er an Geld noch hat, an Nadine.

Zulawski erzählt also eine Geschichte, in der sich zwei Prinzipien nicht nur diametral gegenüberstehen, sondern miteinander verschränkt sind: das Prinzip Geld und das Prinzip Liebe. Das Prinzip Geld bestimmt die Beziehungen der Beteiligten, obwohl sie das nicht wollen. Es verschafft Macht in der Beziehung und produziert die Unmöglichkeit von Liebe – bis in den Tod. Nadine, Jacques und Servais wehren sich dagegen, und können dem Prinzip Geld dennoch nicht entkommen. Jacques bezahlt noch kurz vor seinem Selbstmord an Nadine, sozusagen um sich noch im Tod loszukaufen für alle Entbehrungen, die er Nadine verschafft hat. Servais kauft sich von Mazelli los und muss dafür brutale Gewalt ernten. Und er will sich von den Schuldgefühlen gegenüber Jacques loskaufen, indem er ihm den Scheck Zimmers übergibt. Nadine will sich von Servais loskaufen, indem sie ihm ihren Körper – sozusagen als Ware und anstelle von Geld – als Dank anbietet.

Der Kreis scheint sich am Ende geschlossen zu haben. Und dann passiert etwas, was das Prinzip Geld radikal durchbricht – eben in jener Schlussszene, in der Nadine dem zusammengeschlagenen Servais ihre Liebe gesteht. Diese Erklärung hat nichts mehr mit Geld zu tun; sie ist bedingungslos, sie stellt keine Forderungen, ist kompromisslos und eindeutig. Was aus dem blutüberströmten Servais und Nadine wird, bleibt offen. Wird wieder das falsch verstandene Mitleid respektive Geld beider Beziehung überformen und deformieren? Aber diese Frage nach dem „Was wird aus den beiden?” ist andererseits völlig unwichtig. Viel wichtiger ist die Tatsache, dass am Schluss des Films etwas deutlich wird, was im ersten Moment des Zusammentreffens von Nadine und Servais schon angelegt war, in beider Blicke zu sehen war – diese Spur von bedingungsloser Zuneigung.

© Bilder: CTI Europe
Screenshots von der DVD


 

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