Nicht auflegen !
(Phone Booth)
USA 2002, 81 Minuten
Regie: Joel Schumacher

Drehbuch: Larry Cohen
Musik: Harry Gregson-Williams
Director of Photography: Matthew J. Libatique
Montage: Mark Stevens
Produktionsdesign: Andrew Laws, Martin Whist

Darsteller: Colin Farrell (Stu Shepard), Kiefer Sutherland (Der Anrufer), Forest Whitaker (Captain Ramey), Radha Mitchell (Kelly Shepard), Katie Holmes (Pamela McFadden), Paula Jai Parker (Felicia), Arian Ash (Corky), Tia Texada (Asia), John Enos III (Leon), Richard T. Jones (Sergeant Cole), Keith Nobbs (Adam), Dell Yount (Pizza-Lieferant)

Morality Play und Voyeurismus

Spät kam Joel Schumachers Thriller über einen Mann, der mitten im belebten Manhattan in einer Telefonzelle durch einen bewaffneten Anrufer festgehalten wird, in hiesige Kinos. Der Grund ist einfach. Nach den Sniper-Angriffen in der Gegend um Washington wurde der Start des Films verschoben. Die Idee, den Raum und die Zeit einer explosiven Handlung auf ein Minimum zu reduzieren, war Schumacher („Der Klient“, 1994; „Die Jury“, 1996; „Batman & Robin“, 1997; „Tigerland“, 2000; „Bad Company“, 2002) schon 1998 angeboten worden. Schumacher konzentriert die Handlung zudem auf wenige Personen, vor allem natürlich den in der Zelle Eingesperrten und den Anrufer, später auf den Einsatzleiter der Polizei als Dritten im Bunde. Dieser Minimalismus eines auf Spezialeffekte weitgehend verzichtenden Films, der teilweise wohl mit der Handkamera gedreht wurde, konzentriert auch die Aufmerksamkeit des Betrachters auf das verbale Gefecht zwischen dem arroganten New Yorker Werbeagenten Stu Shepard (Colin Farrell) und seinem Anrufer (Kiefer Sutherland), der fast den ganzen Film über nur zu hören ist.

Shepard hält sich selbst für die wichtigste Person, die in der Millionenstadt herumläuft. Ein Handy-Gespräch nach dem anderen vermittelt den Eindruck, Shepard kontrolliere den Lauf der Dinge. Seine überschießende Arroganz verleitet ihn dazu, der jungen Schauspielerin Pamela (Katie Holmes) nachzustellen, die er seit einiger Zeit von einer der wenigen noch existierenden Telefonzellen an der Ecke 53rd und 8th täglich anruft. Seine Frau Kelly (Radha Mitchell) soll von der geplanten Affäre natürlich nichts erfahren, und deshalb vermeidet es Shepard, Pamela per Handy anzurufen; die Nummer würde auf der Rechnung erscheinen.

Als Shepard wieder einmal mit Pamela telefoniert hat und er die Zelle verlassen will, klingelt das Telefon. Da er daran gewöhnt ist abzunehmen, wenn es klingelt, nimmt er auch jetzt den Hörer. Am anderen Ende meldet sich eine männliche Stimme (Kiefer Sutherland). Der Anrufer weiß offensichtlich einiges über Shepard. Er beschuldigt ihn der Unmenschlichkeit gegenüber seinen Mitmenschen und der Sünde des Betrugs. Der Anrufer weiß nicht nur von Shepards Beziehung zu Pamela und davon, dass er seine Frau zu betrügen versucht, sondern einiges mehr. Nicht nur das. Er zwingt Shepard, in der Zelle zu bleiben: Er befinde sich hinter einem der vielen Fenster eines der Hochhäuser und habe ein Gewehr mit Zielfernrohr. Wenn er die Zelle verlasse, würde er ihn erschießen. Der Anrufer will, dass Shepard seiner Frau die geplante Affäre mit Pamela beichtet. Shepard sei ein Egoist, der seinen Mitmenschen mit Verachtung begegne. Kurz vor dem Anruf wollte ein Mann (Dell Yount) Shepard eine Pizza bringen. Auch ihn habe er barsch zurückgewiesen und beleidigt – was der Wahrheit entspricht.

Shepard, der zunächst die Gefahr nicht erkennt, muss sich bald eines besseren belehren lassen. Als drei Frauen versuchen, Shepard aus der Telefonzelle zu vertreiben, weil sie selbst telefonieren wollen, und er auch sie – allerdings jetzt in einer Notsituation – zurückweist, versucht ein gewisser Leon (John Enos III) den Frauen Zutritt zu verschaffen. Kurz darauf wird Leon von dem Anrufer erschossen. Die Frauen rufen die Polizei und beschuldigen Shepard, den Mord begangen zu haben. Sie können sich – mangels Ahnung über den Anrufer – den Mord nicht anders erklären. Die Situation spitzt sich zu, als die Polizei unter Leitung von Captain Ramey (Forest Whitaker) erscheint. Scharfschützen werden postiert. Shepard beteuert seine Unschuld, weigert sich aber, die Telefonzelle zu verlassen. Ramey kann sich nicht erklären, was mit dem Mann in der Zelle los ist. Ist er ein Psychopath? Hat er überhaupt eine Waffe? Und der Anrufer lässt nicht locker. Als dann auch kurz nacheinander noch Kelly und Pamela auftauchen, scheint der Tod für Shepard immer näher zu rücken ...

Greife niemals zum Hörer, wenn das Telefon irgendwo klingelt. Schumacher, der seinem Film mit allem, was Schnitttechnik heutzutage zu bieten hat (Splitscreen, parallele Montagen u.a.) einen effektvollen Look verpasst hat, gelingt es, durch den geschilderten Minimalismus, vor allem die Konzentration auf Shepard und seinen Anrufer, in einem für heutige Verhältnisse relativ kurzen Film (81 Minuten) die Spannung bis zum Schluss aufrechtzuerhalten. Einige überraschende Wendungen, vor allem dann gegen Schluss des Films, machen „Phone Booth“ zu einem passablen Thriller.

Der Film lebt von inszenierten Gegensätzen: hier die Weltstadt New York, dort der einsame Mann in einer Telefonzelle, die von einer Sekunde zur anderen wie ein einsames Loch, in dem er als Geisel eingesperrt ist, wirkt; hier Hunderte von Passanten, Autos, dort die Reduktion all des vielfältigen Lebens auf zwei Personen; hier die Bedürfnisse, Ängste, Hoffnungen einer Masse von Menschen, dort die Situation eines Verhörs, einer Anklage, eines Tribunals gegen Shepard. Plötzlich – durch den Mord an Leon – verbinden sich diese Gegensätze. Im Innern des Millionenstadt-Lebens entsteht ein Punkt, an dem alles zu verkrusten scheint. Erstarrung macht sich breit. Es scheint sich nichts mehr zu bewegen. Shepard hier, die Polizei sowie Kelly und Pamela und die stehen gebliebenen Passanten dort werden von einer invisible hand in Bann gehalten, von dessen Existenz zunächst nur Shepard weiß. Aber es bewegt sich mehr als sonst.

Was weiß Shepard eigentlich? Der Anrufer scheint ein Psychopath, ein religiös und von extremen moralischen Vorsätzen geprägter Sadist zu sein. Wie mit einem Schwert schlägt er mitten in die Lebendigkeit der Stadt hinein und ruft: „Stop! Bis hierher und nicht weiter!“ Und: „Du hast gesündigt.“ Der Anrufer wirkt wie der strafende, zornige Gott des Alten Testaments. Was ihn wirklich bewegt, warum er so handelt, wie er handelt, weiß kein Mensch. Aber er handelt. Er lässt dem Objekt seiner Rache, seiner Aggression, keine Chance. Die beiden Frauen und Ramey hat er ebenso wie Shepard im Visier seiner Waffe.

Er zwingt Shepard nicht nur physisch und psychisch in die Knie. Er reißt die Fassade der Arroganz gnadenlos herunter. Shepard steht vor dem Scherbenhaufen seines Selbstbetrugs – und irgendwann gesteht er Kelly nicht nur seinen beabsichtigten Betrug mit Pamela, sondern auch, dass sein bisheriges Leben als Werbeagent Kulisse war. Man mag daraus, wie dies in einigen Filmkritiken geschehen ist, einen Einwand gegen den Film formulieren. „Blickpunkt: Film“ z.B. spricht von einem „etwas zu deutlich geschwungenen Moralzeigefinger“. Eine solche Bewertung setzt allerdings voraus, die Absicht des Anrufers sei tatsächlich religiös motiviert und nicht religiös verbrämt.

Der Anrufer bemächtigt sich der Person eines anderen, wie jeder Geiselnehmer oder Killer. Welche Art von Legitimation ihn treibt, ist zweitrangig. An vorderster Stelle steht, dass das Mittel seines Handelns zum Zweck wird. Der Zweck heiligt jedes Mittel bedeutet, dass sich Zweck und Mittel verkehren und die Zielperson zum Verfügungsobjekt des Anrufers wird. Dass sich Shepard entscheidet, seinen Selbstbetrug zu offenbaren, ist zwar Ergebnis des Handelns eines anderen. Nur dieser Anrufer wendet Mittel an, die ihn selbst nicht nur als Betrüger an der Menschlichkeit, die er so prononciert fordert, desavouieren, sondern darüber hinaus als Killer. Das „Geständnis“ ist also nicht Ziel und Sinn des Handelns des Anrufers, sondern nur die Hülle, um seine pathologische Mentalität zu befriedigen.

Es geht also – auch in Anbetracht des Showdowns – weniger um Moralität in dem Sinn, dass ein Sniper jemanden zum moralischen Geständnis zwingt. Denn was „Phone Booth“ offenbart, ist (ganz ähnlich, wenn auch absolut in anderem Zusammenhang, wie Hitchcocks „Rear Window“ von 1954, ein Film, der ebenfalls in einem eng begrenzten Raum, der Wohnung des Fotoreporters Jeffries spielt) der Voyeurismus, der durch den Anrufer selbst bei allen Beteiligten hervorgerufen wird und den er selbst zynisch zur Sprache bringt: „Siehst du die Touristen mit ihren Videokameras, die hoffen, dass die Polizisten schießen, so dass sie ihre Bänder verkaufen können?“ Alle blicken auf Shepard, wollen, dass etwas passiert, halten ihre Kameras bereit, ihre Schusswaffen, wünschen nichts sehnlicher, als dass Shepard irgend etwas sagt, handelt, offenbart – eine Situation wie bei einem Verkehrsunfall auf der Autobahn, wenn die Fahrer auf der Gegenseite einen Stau verursachen, weil sie langsamer fahren, um mit aufgerissenen Augen irgend etwas Schreckliches zu erhaschen. Was sie alle zunächst nicht wissen, ist, dass eine Person im Hintergrund wie ein Puppenspieler agiert, der seine Marionetten tanzen lässt, ohne dass die von dem Deus ex Machina überhaupt etwas ahnen.

„Phone Booth“ ist also in einem weiteren Sinn ein morality play. Es wäre kurzschlüssig, wollte man hier irgendeinen moralischen Zeigefinger entdecken und den Sinn des Spiels darauf reduzieren. Die Fragen in diesem Zusammenhang sind komplexer. Und es wundert nicht, dass der Film angesichts des Beltway Snipers unter Quarantäne gestellt wurde, auch wenn ich persönlich solche falsche Zurückhaltung für trügerisch halte. „Phone Booth“ ist einer der besten Thriller dieses Jahres, überzeugt inhaltlich wie von der Inszenierung her.