Nordrand
(engl. Titel: Northern Skirts)
Österreich, Deutschland, Schweiz 1999, 103 Minuten
Regie: Barbara Albert

Drehbuch: Barbara Albert
Musik: Neneh Cherry / Youssour ŃDour, Ace of Base / texta, zana u.a.
Director of Photography: Christine A. Maier
Montage: Monika Willi
Produktionsdesign: Alfred Mayerhofer, Katharina Wöppermann

Darsteller: Nina Proll (Jasmin Schmid), Edita Malovcic (Tamara), Astrit Alihajdaraj (Senad), Tudor Chirila (Valentin), Michael Tanczos (Roman)

Licht und Schatten

Es ist eigentlich dauernd kalt. Des öfteren schneit es, der Wind pfeift. Das Grau herrscht als Farbe im 21. Bezirk am Nordrand von Wien, in Floridsdorf – das Grau der Siedlungen und des winterlichen Wetters. Nur das Rot eines kreisenden Drachens durchbricht die Monotonie der Szene. Eines der beiden Mädchen hat das Flugobjekt voller Freude in die Lüfte gehievt; das andere sieht sehnsüchtig dem Drachen nach. Jasmin und Tamara heißen die beiden, und etliche Jahre später sollen sie sich, immer noch wohnhaft im proletarischen Bezirk am Nordrand, wiedertreffen.

Jasmin (Nina Proll), die Blonde, holt sich an Lustvollem, was sie sich holen kann. Ihr Vater ist ein aggressiver Hund, die Mutter hilflos, ab und an zärtlich zu ihrer nun erwachsenen Tochter. Jasmin büxt aus der elterlichen Wohnung aus, wann immer es ihr danach ist – und es ist ihr oft danach – und wenn sie nicht arbeiten muss. Die Eltern haben offenbar im Streit ihren Lebenssinn gefunden. Als Verkäuferin in einem Großkaffeehaus nascht Jasmin gerne einmal an den verführerischen Köstlichkeiten – und sie lässt sich gerne von Männern vernaschen.

Ganz anders Tamara (Edita Malovcic), die schwarzhaarige aus Serbien stammende Frau, deren Familie nach dem Jugoslawien-Krieg nach Sarajewo zurückgekehrt ist – wir schreiben übrigens das Jahr 1995 – und die sich als Krankenschwester – eigentlich ihr Traumberuf – mit einer ständig meckernden Vorgesetzten herumschlagen muss. Tamara ist mit Roman (Michael Tanczos) befreundet, doch der leistet gerade seinen Wehrdienst an der Grenze ab und ist selten bei ihr. Und wenn er bei ihr ist, ist er auch eher bei sich als bei ihr und bei beiden.

Jasmin und Tamara treffen sich – zufällig, wie man so leichtsinnig sagen könnte – in einer Klinik, denn beide sind – ungewollt – schwanger. In einer Reihe mit etlichen anderen Frauen im blassgrünen Patientendress sitzen sie dort, schauen sich verlegen an, warten sie auf ihre Operation, auf die Abtreibung. Ein Tag wie jeder andere?

Das Fernsehen berichtet über das Dayton-Abkommen, die Schwierigkeiten des Friedens im ehemaligen Jugoslawien, wir sehen Karadzic und seine völkermordenden Truppen. Senad (Astrit Alihajdaraj) kommt aus Ex-Jugoslawien, er ist Bosnier, musste sein Studium während des Kriegs aufgeben. Nun irrt er – illegal über die Grenze eingereist – durch Wien, landet am Nordrand und findet am Donauufer die halbverfrorene Jasmin, deren Gesicht und Hände schon leicht blau angelaufen sind. In der Nacht zuvor war sie mit zwei Bekannten besoffen durch die Straßen gezogen. Die beiden hatten sie einfach liegen gelassen. Senad trägt die bewusstlose Jasmin ins Krankenhaus und verschwindet mit ihrem Geldbeutel, in dem sich ein paar Schillingnoten befinden. Jasmin war kurz zuvor nach einem aggressiven Anfall ihres Vaters aus der elterlichen Wohnung ausgezogen, wusste nicht wohin. Die beiden Herumlungerer, die sie an der Donau liegen gelassen haben, wollten nur eins von ihr, aber sie nicht bei sich wohnen lassen.

Jetzt übernachtet sie bei Senad im Flüchtlingswohnheim – mehr aus Dankbarkeit über die wieder gebrachte Geldbörse, den aus Liebe. Senad hatte ein schlechtes Gewissen bekommen und Jasmin bei ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus die Geldbörse wiedergegeben. Im Krankenhaus hatte Jasmin Tamara wiedergetroffen, die Probleme mit Roman hat, der klammert und Besitzansprüche anmeldet. Tamara nimmt Jasmin bei sich auf, die beiden freunden sich an.

Und dann ist da noch Valentin (Tudor Chirila), der bei seiner Großmutter lebt, aus Rumänien stammt und von einem anderen Leben in Amerika träumt. Tamara fühlt sich zu ihm hingezogen, eine Zeitlang, und Sylvester treffen sich alle vier – Tamara, Jasmin, Valentin und Senad – auf dem Stephansplatz und feiern, sind fröhlich. Dann gehen sie wieder ihre eigenen Wege ...

Nordrand, ja, alle, die uns in diesem Film begegnen, leben am Rand, am Rand des Reichtums, immer mit einem Bein über dem Abgrund, sind physisch oder psychisch angeschlagen, befinden sich auf ihrer individuellen Reise durch ein Leben, in dem sie sich selbst nicht so richtig verorten können. Momente des Glücks blitzen kurzzeitig auf, beim einen wie beim anderen. Das alles aber ist nur die halbe Wahrheit. „Nordrand“ ist kein Film über das Ghetto im üblichen Wortsinn, kein Streifen „einfach“ über Ausländer und Österreicher, keiner nur über Frauen, kein „Frauenfilm“, keiner der anklagt, keiner des falsch verstandenen und hohlen Mitleids gegenüber Menschen, die das Leben geschlagen hat – nein, fast ganz im Gegenteil eher einer, der seine Charaktere in den Mittelpunkt stellt, in ein Zentrum, und durch diese vier Menschen entsteht Wärme, Nähe, Zärtlichkeit, Zuneigung in einer kalten, teilweise hässlichen, monotonen Umgebung. Den Film trägt die Sympathie, die man für diese vier Menschen empfinden muss.

Barbara Albert („Zur Lage: Österreich in sechs Kapiteln“, 2002; „Böse Zellen“, 2003) zeigt ihre Reisen, Schnittpunkte, Kreuzungen, Träume, Wünsche und Hoffnungen, bis sich ihre Wege wieder trennen. Die Dogma-ähnliche, aber in keiner Weise den Dogma-Filmen verpflichtete Kamera hält alles fest, was sie erheischen kann. Christine A. Maier, die diese Arbeit leistete, muss ein ganz dickes Lob erteilt werden; sie „giert“ sozusagen mit ihrer Kamera nach jedem auch noch so kleinen Moment im Leben der Figuren, nach jeder winzigen Veränderung, jeder Geste, jedem Blick, ohne aufdringlich zu wirken, und produziert auf diese Weise ein derart facettenreiches Bild aus dem Leben, aus einem Winter im Jahr 1995, dass es tragisch, harmonisch, gefühlvoll und freudig zugleich ist, diesen Film zu sehen. Man möchte ihn am liebsten gleich nochmal anschauen.

Barbara Albert, die selbst am Nordrand aufgewachsen ist und sagt, sie habe dort gern gelebt, „weil ich gespürt habe, dass das sehr nah am Leben ist“, erhielt für „Nordrand“ den Wiener Filmpreis und den Preis der internationalen Filmkritik bei der Viennale, Nina Proll den Marcello-Mastroianni-Preis als beste Nachwuchsschauspielerin in Venedig – zu Recht.