On the Edge
(Original mit dt. Untertiteln)
Irland 2000, 87 Minuten
Regie: John Carney

Drehbuch: John Carney, Daniel James
Musik: John Carney
Director of Photography: Eric Edwards
Montage: Dermot Diskin

Darsteller: Cillian Murphy (Jonathan Breech), Tricia Vessey (Rachel Row), Jonathan Jackson (Toby), Stephen Rea (Dr. Figure), Paul Hickey (Mikey Breech), Martin Carney (Priester), Tomas O’Suilleabhain (Nick), Marcella Plunkett (Lesley), Vinny Murphy (Rausschmeißer)

Am Scheideweg

Der 18jährige depressive Jonathan Breech (Cillian Murphy) hat seinen Vater verloren, der sich zu Tode gesoffen hat. Zur Totenmesse kommt Jonathan zu spät, klopft kurz auf den Sarg des Vaters, als wenn er prüfen wolle, ob er wirklich tot sei und verlässt die Kirche rasch wieder. Er klaut ein Auto und beschließt, seinem Leben ein Ende zu setzen. Doch Jonathan überlebt den Selbstmordversuch und muss nun eine Entscheidung treffen: Entweder geht er wegen des Diebstahls ins Gefängnis oder unterwirft sich einer stationären Therapie in der Psychiatrie. Er entscheidet sich widerwillig für letzteres.

Sein Psychologe, Dr. Figure (Stephen Rea), steckt ihn in die Gruppentherapie mit vier anderen Selbstmordpatienten. Vorschriftsmäßig muss Jonathan tagsüber einen Pyjama tragen, darf die Anstalt nicht verlassen und muss sich verpflichten, sowohl an der Gruppentherapie teilzunehmen, als auch Einzelgespräche mit Dr. Figure zu führen. Zunächst wehrt sich Jonathan gegen die ewige Fragerei nach seinen Ängsten, seinem Leiden, widersetzt sich dem Hilfsangebot Figures, eines ruhigen, fast zurückhaltend wirkenden Psychologen.

Dann lernt er Toby und Rachel kennen, die mit ihm in der Gruppe sitzen. Toby (Jonathan Jackson) ist, wie er meint, für den Tod seines Bruders bei einem Verkehrsunfall verantwortlich. Rachel (Tricia Vessey) hat als kleines Mädchen ihre Mutter verloren, die auf einer Klippe ausrutschte und in den Tod stürzte. Sie fühlt sich schuldig und hat offensichtlich schon mehrfach versucht, sich das Leben zu nehmen.

Mit Toby unternimmt Jonathan heimliche Spritztouren durch die nahe gelegene Stadt. Toby fasst Vertrauen zu Jonathan und erzählt ihm von seinem Bruder, als der im Krankenhaus lag, dem Tod nahe, das letzte Mal einen Schluck Tee trank und – während Toby kurz das Zimmer verlassen hatte – starb.

Jonathan verliebt sich in Rachel, die sich einerseits zu ihm hingezogen fühlt, andererseits zu sehr mit ihrer Todessehnsucht und ihren Schuldgefühlen beschäftigt ist. Auch Toby mag Rachel, aber eher als gute Freundin oder Schwester. Und Jonathan? Langsam beginnt er, nicht zuletzt durch die Freundschaft mit Toby und die Zuneigung zu Rachel den Kampf gegen seine eigene Ambivalenz zwischen Selbstmordphantasien und neuem Lebensgefühl zu führen und öffnet sich vorsichtig, aber auch bestimmt gegenüber Dr. Figure. Dann allerdings bringt sich jemand um ...

Zunächst sollte der Titel des Films „The Smiling Suicide Club“ lauten. Tatsächlich vermeidet Carney auf eine fast schon gelassene, ruhige, erfrischende und oft humorvolle Art, die tragische Situation der drei Jugendlichen dramaturgisch in Pathos oder Rührseligkeit aufgehen zu lassen. Carney schweift nicht ab; er bleibt, nein nicht an irgendeinem psychologischen Thema, sondern an den Personen, die er in ihrer psychopathologischen Ambivalenz nicht vorführt, sondern „spielen“ lässt, sich selbst. Carney zeigt, öffnet seine Kamera für einen direkten, unverstellten Blick. Jonathan, Toby und Rachel sind keine Exempel aus irgendeinem psychologischen Lehrbuch, sondern lebendige Figuren.

Die Hintergründe der tiefen Krisen der drei Selbstmordkandidaten stehen nicht im Vordergrund des Films. Das könnte man aus einer tiefenpsychologischen Sichtweise heraus dem Streifen ankreiden. Aber letztlich geht es nicht um das „Warum“, sondern um das „Jetzt“ von drei Figuren, die alle ihre Gründe haben, um aus dem Leben zu scheiden – welche es auch immer sein mögen. Dr. Figure bringt dies in einigen wenigen, aber deutlichen Sätzen zum Ausdruck, wenn er Jonathan gegenüber ehrlich und offen formuliert, dass er nur denen helfen kann, die wirklich krank sind, aber letztendlich nicht verhindern kann, dass sich von denen trotzdem etliche umbringen oder ihrem Leiden kein Ende setzen können.

In der Figur des Arztes drückt der Film das aus, was man die Akzeptanz eines unsicheren Lebens nennen könnte. Der Psychologe ist kein Garant für Heilung, Sicherheit, Leben und er versteht sich auch nicht so. Stephen Rea spielt Dr. Figure exakt in diesem Rahmen: einen ruhigen, scheinbar nichts aus der Ruhe bringenden, entschlossenen Psychologen, der doch gleichzeitig kein Hehl daraus machen kann und macht, dass er immer wieder mal auf verlorenem Posten steht. Dr. Figure lebt und arbeitet in einem Raum, dessen Dimensionen durch Hoffnung und Verzweiflung zugleich bestimmt sind. In gewisser Hinsicht ist er die am meisten tragische Figur des Films.

Es ist die spürbare, wirkliche und wirkende Nähe sowohl zu den drei jungen Menschen wie zu Dr. Figure, mit der sich Carney – so könnte man vielleicht formulieren – vor einem Abgleiten in melodramatisches Pathos oder der Konstruktion künstlicher Trugbilder „schützt“. „On the Edge“ ist eine Liebesgeschichte, aber eine, in der es nicht nur um die (erotische) Zuneigung zwischen Rachel und Jonathan, sondern zwischen allen vier Hauptfiguren geht – eher eine Nähe-Geschichte über die Bedeutung des Sich-Nahe-Kommens als einer Voraussetzung dafür, nicht über die Klippe zu springen. „On the Edge“ – das bedeutet: am Rande, am Abgrund, aber auch am Scheideweg. Carney lässt seinen Figuren genau diesen Raum der Entscheidungsfreiheit bezüglich ihres eigenen Lebens. Und er fordert von seinem Publikum, die Entscheidung für den Selbstmord eines der Beteiligten – so schwer es auch fallen mag – zu akzeptieren. In diesem Sinn ist Freitod vielleicht ein besserer Begriff als Selbstmord.

Viele von uns sind gewohnt, dass Personen erklärt werden. Geschieht dies nicht, schleicht sich Unwohlsein ein. „Ja, warum denn, wieso, was ist ihm / ihr denn passiert? Das muss einem doch gesagt werden!“ Doch gerade der Verzicht auf eine intensive (psychologische oder auch nur biografische) Erklärung der Personen des Dramas ist das Beeindruckende dieses Films; denn ich zumindest wurde dadurch (sanft) gezwungen, genau diese Nähe zu den Figuren zu entwickeln, die notwendig ist, um sie zu verstehen, statt sich mit vorgefertigten Erklärungen abspeisen zu lassen.

Jonathan äußert im Film, er wolle nicht sterben, sondern er könne nicht leben. In diese emotionale „Nische“ wirft Carney sein Publikum. Die „Nische“, in der sich Behutsamkeit und Annäherung erst entwickeln können und das genaue Hinsehen nicht durch vorfabrizierte Muster getrübt wird. Genau diese Art der Inszenierung macht den Humor (oft auch Sarkasmus) den insbesondere Jonathan im Umgang mit seiner eigenen Situation an den Tag legt, möglich, unterstützt nicht durch süßliche Geigen sondern Händel, „Smashing Pumpkins“, Ravel und „The Pixies“.

Die jungen Schauspieler Cillian Murphy („The Trench“, 1999, Regie: William Boyd), Tricia Vessey („The Brave“, 1997, Regie: Johnny Depp; „Ghost Dog“, 1999, Regie: Jim Jarmusch) und Jonathan Jackson („The Deep End of the Ocean“, 1999, mit Michelle Pfeiffer) waren eine ebenso gute Wahl wie Stephen Rea („Interview mit einem Vampir“, 1994; „Prêt-à-Porter“, 1994) in der Rolle des Dr. Figure.

John Carney glaubt an die heilenden Kräfte der Liebe, an ihre erlösende Funktion. Aber er denkt nicht daran, dies in einem theoretischen, abstrakten Raum der Muster zu exemplifizieren, sondern verharrt in der Lebenspraxis, hautnah. Das unterscheidet „On the Edge“ vom Mainstream der Rührseligkeit, wie er sich immer wieder in Hollywood-Produktionen breit macht, die weniger den Gesetzen des Dramas als den Vorurteilen des schlechten Melodrams folgen.

(1) Zit. n. angelaufen.de

© Bilder: United International Pictures