Pigs Will Fly
(Pigs Will Fly)
Deutschland 2002, 102 Minuten
Regie: Eoin Moore

Drehbuch: Eoin Moore, Nadya Derado
Musik: Kai-Uwe Kohlschmidt, Warner Poland, Chris Whitley
Director of Photography: Bernd Löhr
Montage: Oliver Gieth, Eoin Moore

Darsteller: Andreas Schmidt (Laxe), Thomas Morris (Walter), Laura Tonke (Inga), Kirsten Block (Manuela), Alexis Lezin (Stacey), Udo Kier (Onkel Max), Hans Peter Hallwachs (Vater), Heike Schober (Kollegin), Michael Kind (Wolfgang), Steffen Münster (Günther), Stefan Lochau (Kalle), Malia Spanyol (Staceys Freundin), Rebecca Schweitzer (Jamie), Shaun Church (Ingas Chef)

... dann könnten Schweine fliegen

„Pigs will fly“ ist ein englisches Sprichwort, das so viel bedeutet wie: Wenn dies oder jenes passieren würde, dann würden sogar Schweine fliegen können – erklärte Regisseur Eoin Moore bei der Vorstellung seines Films am 11.1.2003 im Freiburger Kino „Friedrichsbau“. Der Titel passt hervorragend zur Geschichte eines Mannes, der in bestimmten Situationen zu extremer Gewaltanwendung neigt und aus dem Kreislauf seiner eigenen erlernten Muster nicht ausbrechen kann. Moore, der u.a. durch Filme wie „Plus-minus Null“ (1998) und „Conamara“ (2000) bekannt wurde, verfolgt in „Pigs Will Fly“ die Spuren eines Täters und schildert die Geschichte aus der Sicht dieses Mannes – des 37jährigen Polizisten Dirk Lachsendorf, genannt Laxe, der im Berliner Märkischen Viertel als freundlicher und beliebter Zeitgenosse seinen Dienst verrichtet.

Laxe (Andreas Schmidt) ist mit Manuela (Kirsten Block) verheiratet. Bereits fünfmal hat Laxe seine Frau zusammengeschlagen. Als einer ihrer Arbeitskollegen sie freundschaftlich umarmt, rastet Laxe erneut aus. Er schlägt Manuela krankenhausreif. Seine Vorgesetzten können jetzt nicht mehr wegschauen und suspendieren Laxe vom Dienst. Manuela hat noch immer nicht die Kraft, sich von Laxe zu trennen.

Laxe beschließt, eine Weile aus Berlin wegzugehen und fliegt zu seinem Bruder Walter (Thomas Morris) nach San Francisco. Der lebt in einer Wohngemeinschaft mit der jungen Deutschen Inga (Laura Tonke) und Stacey (Alexis Lezin). Walter ist ganz anders als Laxe; obwohl sie beide von ihrem Vater (Hans-Peter Hallwachs), der in Berlin einen Kiosk betreibt, in ihrer Kindheit oft geschlagen und misshandelt wurden, hat Walter für sein Leben eine andere Entscheidung getroffen: Er wanderte mit seiner Mutter nach Amerika aus, neigt in keiner Weise zu Gewalttätigkeit und liebt und fürchtet seinen Bruder zugleich. Walter hat allerdings Probleme mit Frauen. Er scheint Stacey zu mögen, sie ihn auch, aber beide kommen nicht zusammen.

Inga findet keinen richtigen Halt in ihrem Leben. Sie jobbt herum, in Schwarzarbeit, ohne festen Boden unter den Füßen zu bekommen. Für Laxe heißt dies: Er muss sich um sie kümmern. In teils liebevoller Art, teils zwanghafter Beschützerpose baut er Inga ein Regal, um ihr Zimmer in einen ordentlichen Zustand zu versetzen. Später räumt er es auf, besorgt Zeitungen mit Stellenannoncen, will mit ihr – obwohl sie das ablehnt – zum Bewerbungsgespräch mitgehen und überredet sie, zu ihrem reichen Onkel (Udo Kier) zu fahren, der Ingas Pass nicht herausgeben will, den sie für eine Arbeitserlaubnis benötigt. Laxe droht ihm, bis der den Pass herausgibt.

Inga ist schwanger, von wem, weiß niemand. Inga ist auch anders als Manuela. Einerseits findet sie es rührend, wie sich Laxe um sie kümmert. Andererseits kann sie deutlich nein sagen, was Manuela nie fertig brachte. Es scheint, als könnte sich zwischen Laxe und Inga eine andere Art von Beziehung anbahnen als zwischen ihm und Manuela. Doch Walter kennt seinen Bruder. Walter trägt öffentlich Gedichte vor, und eines abends spricht er über seine und Laxes Kindheit – dass der Vater brutal war, zu ihnen und ihrer Mutter, und dass Laxe die Verhaltensmuster des Vaters teilweise übernommen hat. Laxe ist zwar erschüttert, doch er kann diese Muster nicht überwinden. Gegenüber Inga reißt er sich zusammen, auch wenn er es schwer ertragen kann, wenn Walter mit ihr tanzt oder ihr Onkel den Arm um sie legt.

Dann erreicht die Brüder die Nachricht vom Tod des Vaters. Sie fliegen nach Berlin zur Beerdigung. Manuela, die alles vorbereitet hat, erklärt Laxe, dass sie sich von ihm scheiden lassen wird. Er ist kurz davor, sie erneut zu misshandeln, kann sich aber zurückhalten. Laxe kehrt mit seinem Bruder nach San Francisco zurück ...

Täter-Opfer – ein schwieriges Unterfangen, wenn man entgegen der gängigen Art eine Geschichte aus der Sicht des Täters erzählen will. Das birgt die Gefahr der Entschuldigung oder gar Rechtfertigung für das, was ein schwer neurotischer Mann wie dieser Laxe seinen Mitmenschen antut. Moores Film ist jedoch weit davon entfernt. Andreas Schmidt spielt Laxe als einen nach außen freundlichen Kumpel, der in bestimmten Situation angesichts eines extremen Besitzanspruchs und krankhafter Eifersucht zuschlägt – brutal und ohne Skrupel. Manuela ist in dieser Beziehung gefangen; sie kann sich lange Zeit nicht lösen. Sie entspricht dem Typ von Frauen, die schon zigmal in Frauenhäuser geflüchtet sind und dann wieder zu ihren schlagenden Männern zurückkehren. Später, als sich Laxe in den USA aufhält, nutzt sie die Zeit, um aus diesem System auszubrechen. Sie macht Yoga, geht mit einer Freundin zum Aerobic, kann sich schließlich von Laxe innerlich und dann auch räumlich trennen.

Diese Geschichte über die erschreckende Abhängigkeit von Täter und Opfer beschuldigt und entschuldigt niemanden. Moore interessiert eine andere Frage: Warum? Nie in „Pigs Will Fly“ wird Laxe in ein Licht gestellt à la: Irgendwie kann man ja schon verstehen ... Nein, die Verantwortung für sein Handeln bleibt bei ihm. „Seine Gewaltausbrüche richten sich gegen die Partnerin und folgen einem immer wiederkehrenden Schema: Misstrauen, Kontrollieren, Beleidigen, Erniedrigen, schließlich die körperliche Gewalt; dann eine Phase der Reue und Änderungsversprechen, bis der Kreislauf wieder von vorne beginnt. Die Gewaltausbrüche sind jeweils die Höhepunkte einer extrem komplexen, dauernden Misshandlung“, sagt Moore über seine Hauptfigur [1]. Andreas Schmidt besuchte zur Vorbereitung seiner Rolle Therapiegruppen, an denen Männer wie Laxe versuchen, sich von diesem Verhalten des „zyklischen Misshandlers“ zu befreien.

Moore betreibt keine Schwarz-Weiß-Malerei. Laxe hat sympathische Züge, manchmal muss man über ihn lachen, weil seine Reaktionen grotesk anmuten. Aber meistens bleibt einem das Lachen im Hals stecken. Moore und seinem Hauptdarsteller gelingt es, dass man diesem Schema, diesem erlernten Muster Laxes Punkt für Punkt folgen kann. Zu Inga sagt er z.B. „Ich knall’ dir eine, um dich zu beruhigen.“ Dieser Satz drückt die verkehrte, absurde Denkweise eines Mannes aus, der aus seinem System nicht herauskommt. Später fragt er seinen Bruder, ob er wirklich so ein Monster sei – ein Hauch von Selbsterkenntnis, eine leise Ahnung davon, dass mit ihm etwas nicht stimmt. Der Film verdeutlicht in dieser Hinsicht, dass solche Menschen wie Laxe von ihrer Handlungsweise völlig überzeugt sind; sie leben in ihr, halten das, was sie tun, für völlig selbstverständlich, was auch heißt – und auch das macht der Film bewusst, insbesondere in der Schlusseinstellung –, dass sie ohne fremde Hilfe, ohne Therapie, aber auch ohne eigenen Willen aus ihren Mustern nicht ausbrechen können.

Moore kontrastiert Laxe mit der Figur seines Bruders. Walter hat für sich ganz andere Konsequenzen aus den Erfahrungen der Kindheit gezogen. Auch er leidet, insbesondere unter seiner Unfähigkeit, eine Beziehung zu einer Frau herzustellen – wahrscheinlich aus einer tief sitzenden Angst, er könne wie sein Vater werden. Diese Angst ist insofern unbegründet, als Walter in keiner Weise ein gewalttätiger Mensch ist. Aber die Angst ist da. Als sein Bruder wieder einmal zuschlägt, wirft er ihn zu Boden, will ihn ins Gesicht schlagen, hält sich zurück, kann sich kaum überwinden zuzuschlagen – und wahrscheinlich zum ersten Mal in seinem Leben schlägt er dann doch zu.

Vieles in „Pigs Will Fly“ ist Andeutung. Moore weigert sich, Fragen zu beantworten, er stellt sie. Ingas Onkel zum Beispiel bleibt eine geheimnisvolle Person. Ist sie von ihrem Onkel schwanger? Will er sie durch die Einbehaltung ihres Passes zwingen, zu ihm zurückzukehren? Auch über Ingas Vergangenheit erfährt man nichts. Und das ist gut so. Entgegen den üblichen, bis ins kleinste Detail „aufklärenden“ Mechanismen des Mainstream-Kinos, bei dem am Schluss „alles klar“ ist oder jedenfalls dieser Eindruck erweckt wird, bleiben nach „Pigs Will Fly“ mehr Fragen als vor Sicht dieses Films. Auch das ist gut so.

Die Frage nach den Verhaltensmustern von Menschen, die in bestimmten Situationen zu Gewalt neigen, wird in der öffentlichen Diskussion oft ausgeklammert. Die einen stehen voll und ganz hinter den Opfern und verdammen die Täter als „Unmenschen“; die anderen zeigen mehr Verständnis für die „schwierige Kindheit“ des Täters, als dass sie Mitgefühl für die Opfer empfinden.

Moore zeigt diese Gewalt in zwei Szenen. Die nicht gezeigten Schläge wirken intensiver als die gezeigten. Das veranschaulichte die Diskussion des Regisseurs mit dem Publikum nach dem Film. Einige Zuschauer meinten, Moore habe zu viel Gewalt gezeigt, das müsse doch nicht sein, man könne sich das selbst vorstellen. In der ersten Szene, als Laxe Manuela krankenhausreif schlägt, werden drei Schläge von insgesamt 13 gezeigt, erläuterte Moore. Auch in der anderen Szene sieht man weniger, als man im ersten Moment meint. Es ist paradox: Mit der zunehmenden Ächtung von Gewalt in den vergangenen 30 Jahren geht eine zunehmende Verdrängung des Themas einher, ebenso eine ständige Zunahme von Gewalt. Gewalt erscheint als etwas Ungewöhnliches, Unmenschliches, Abseitiges usw. Das Gegenteil ist der Fall; nur, dass wir es nicht wahr haben wollen. Dass man Gewalt nicht sehen will oder kann, ist bei vielen Menschen eine durchaus normale Erscheinung, bei anderen aber auch Ausdruck der Verdrängung des Problems. Die eigene tatsächlich oder vermeintlich gewaltlose Umgebung blockt gegen das Außen, das Böse, das Gewalttätige, wird zum Schutzwall gegen die Unbill „der anderen“.

Moore bettet seinen Film ein in den Gegensatz zweier Städte. Hier das kalte, trostlose Berlin des Märkischen Viertels, dort das lebendige San Francisco. Aber dieser Gegensatz ist zum großen Teil nur Schein. San Francisco erscheint einerseits als Ort, an dem alle Möglichkeiten offenstehen, andererseits als ein Ort, an dem es mehr gescheiterte Existenzen, gebrochene Menschen und Armut gibt als in Berlin. Für Laxe zerbricht die Hoffnung auf ein anderes Leben durch diesen Ortswechsel, weil dieses andere Leben nur in ihm selbst stattfinden kann. Manuela, die in Berlin bleibt, schafft in dieser trostlosen Umgebung die Änderung – das ist der Kontrapunkt.

„Pigs Will Fly“ zeigt die Silhouette von San Francisco, die Golden Gate Bridge, von der sich mehr Menschen in den Tod gestürzt haben als von irgendeinem anderen Ort aus, den Himmel über einem Ort, der so viel Freiheit verspricht, wie es das Hollywood-Kino zulässt. Moore zeigt die Grenzen dieser Illusion. In Andreas Schmidt, Thomas Morris, Laura Tonke und Kirsten Block hatte er vier Schauspieler, die sich äußerst engagiert ihren Rollen widmeten und überzeugend spielten.

(1) Unter dieser Seite kann das ausführliche und äußerst informative Pressematerial zum Film als PDF-Datei herunter geladen werden, aus dem u.a. dieses Zitat stammt.