Rattennest
(Kiss Me Deadly)
USA 1955, 106 Minuten
Regie: Robert Aldrich

Drehbuch: A. I. Bezzerides, nach dem Roman von Mickey Spillane
Director of Photography: Ernest Laszlo
Montage: Michael Luciano
Produktionsdesign: William Glasgow, Howard Bristol

Darsteller: Ralph Meeker (Mike Hammer), Albert Dekker (Dr. Soberin), Paul Stewart (Carl Evello), Juano Hernandez (Eddie Yeager), Wesley Addy (Lt. Murphy), Marian Carr (Friday), Maxine Cooper (Velda), Cloris Leachman (Christina Bailey), Gaby Rodgers (Gabrielle), Nick Dennis (Nick), Jack Lambert (Sugar Smallhouse), Jack Elam (Charlie Max)

L’art pour L’art – im besten Sinn

Es beginnt wie ein film noir. Eine Frau mit angsterfülltem Gesicht rennt nachts auf einer Straße und versucht, irgendein Auto anzuhalten, zunächst vergeblich. Sie ist barfuß und hat einen hellen Regenmantel an. In ihrer Verzweiflung stoppt sie einen Sportwagen, der ihr ausweichen muss und fast einen Unfall verursacht. In dem Wagen sitzt Privatdetektiv Mike Hammer (Ralph Meeker), der über den erzwungenen Halt wenig erfreut ist. Aber er nimmt die junge Frau, die sich Christina Bailey (Cloris Leachman) nennt, mit. Er erfährt, dass Christina aus der Psychiatrie geflohen ist. Nur wenig später werden beide von einigen Männern gestoppt und mit Gewalt verschleppt. Und wiederum kurze Zeit später findet sich Hammer im Krankenhaus wieder. Man hat die beiden in seinem Auto einen Abhang hinunter gefahren. Während Hammer schwer verletzt überlebt, ist Christina tot.

Die besten Voraussetzungen für einen Kriminalfilm. Und so geht es auch weiter. Was folgt ist tatsächlich ein film noir. Doch Robert Aldrich macht in der Darstellung seiner Figuren auch von (fast) Anfang an klar, dass er über den film noir weit hinausgeht. Manches Mal erscheinen die Darsteller eher wie Charaktermasken, die nur noch repräsentieren, für etwas stehen, etwas zum Ausdruck bringen, aber keine wirklichen und wirkenden Personen mehr zu sein scheinen. Die Rollen werden zu Rollen per se, für sich, Rollen als Rollen.

Die Ausgangsszenen generieren so etwas wie eine Initialzündung für eine alt bekannte Story: Ein private eye, ein Mann, der von Natur aus neugierig scheint, will wissen, was hinter der Sache steckt, obwohl gar nicht eher Zielscheibe der Unbekannten war, sondern eine Frau, mit der Hammer nichts zu tun hatte und von der er schon gar keinen Auftrag angenommen hatte. Trotzdem: Man hat ihn fast getötet. Allein das reicht. Und er will wissen, warum Christina ermordet wurde.

Die Polizei vernimmt ihn, glaubt, Hammer verheimliche ihr etwas, was Christina ihm erzählt haben könnte. Er erfährt, dass selbst die Behörden in Washington sich für den Fall interessieren. Das macht Hammer nur noch neugieriger. Und als Lt. Murphy (Wesley Addy) ihm die Lizenz entzieht (weil er nicht will, dass Hammer auf eigene Faust ermittelt) und warnt, er wolle ihn nicht mit der Waffe in der Hand erwischen, ist Hammer erst recht nicht mehr zu halten.

Mit Unterstützung seiner Sekretärin und Geliebten Velda (Maxine Cooper) erfährt er vom Verschwinden eines wissenschaftlichen Mitarbeiters einer Zeitung namens Diker. Und weitere Dinge geschehen, die Hammer nicht mehr ruhen lassen: Er selbst wird auf der Straße von einem Mann mit einem Messer angegriffen. Sein bester Freund Nick (Nick Dennis), der eine Autowerkstatt betreibt, wird ermordet, nachdem schon zuvor ein anonymer Anrufer Hammer ein „Geschenk” angekündigt hatte: einen neuen Sportwagen, in dem allerdings zwei Bomben versteckt sind.

Schließlich stößt Hammer auf einen Gangster namens Evello (Paul Stewart), auf einen mysteriösen Dr. Soberin (Albert Dekker) und eine Frau (Gaby Rodgers), die ihm offenbar helfen will ...

Was als film noir beginnt, entwickelt sich im Laufe der Handlung zu einer immer mysteriöseren Geschichte, in der ein Koffer ins Zentrum des Interesses rückt, der berühmte MacGuffin, bzw. dessen Inhalt, der sich am Schluss des Films uns zeigt und keinen Zweifel mehr daran lässt, dass uns hier im wahrsten Sinn des Wortes ein Licht aufgehen soll. Der film noir entpuppt sich schon fast als Karikatur seiner selbst. Das Geheimnis, das der Koffer lüftet, entlüftet zugleich unser Gehirn, demonstriert uns, wie beliebig Geschichten im Kino erzählt werden können – im positiven Sinn des Wortes. „Kiss Me Deadly” ist Film um des Films willen, Kino um des Kinos willen, l’art pour l’art – im besten Sinn des Wortes.

Es ist völlig gleichgültig, was sich in dem Koffer befindet, hinter dem Behörden wie Verbrecher hinterher sind, um den herum sich Intrigen spinnen, Verrat und Betrug begangen wird usw. Alle und alles scheint verdächtig, vom kleinsten Betrüger bis zu den Regierungsbeamten. Hauptsache, die Handlung geht voran, Hauptsache, die Figuren sind in Bewegung, Hauptsache, es bleibt spannend. Und wie selten in einem anderen Film kündigt sich in „Kiss Me Deadly” (mit dem wieder einmal dämlichen deutschen Titel „Rattennest”) der Übergang vom film noir zu einer amerikanischen Variante der nouvelle vague an. Fast könnte man auf die Idee kommen, ein Vorläufer Quentin Tarantinos zitiere in einem fort bekannte und weniger bekannte Figuren, Stile, die ganze mise en scene des film noir bis dato, um zu zeigen, worauf er beruhe, wie er funktioniere – bis der Koffer enthüllt, wie Kino überhaupt funktioniert.

Mike Hammer ist nicht Humphrey Bogart oder Robert Mitchum. Aber Ralph Meeker zitiert in seiner Rolle diese „Typen” des film noir. Und es gibt die geheimnisvolle Blonde, Gaby Rodgers als Gabrielle, wie die liebende Schwarzhaarige, Maxine Cooper als Velda – zwei Frauen als Gegensatzpaar. Es gibt das unscheinbare Opfer, die schöne Unbekannte Christina. Last but not least gibt es die mysteriösen Kriminellen, die kaum etwas preisgeben, es sei denn, man zwingt sie dazu – Soberin und Evello. Und es gibt die Handlanger, den skurrilen Charlie Max (Jack Elam) und den brutalen Sugar Smallhouse (Jack Lambert) – alles in allem Zitate, Charaktermasken, aber eben doch funktionierende Einheiten in einem Kriminalfilm.

Trotzdem also – und gerade das ist ja das spannende an „Kiss Me Deadly” – funktioniert Aldrichs Film eben auch als Krimi mit Suspense – nur mit dem Unterschied, das letztlich alles „schief” geht. Keiner bekommt, was er will.

Die Schlussszene leuchtet uns an, blendet geradezu, brennt uns den Sand aus den Augen, lässt uns wieder sehen, wo wir sind und warum wir im Kino sind. Wie eine Bombe schlägt sie ein und um sich. Und wie Hammer selbst verdutzt ins Pseudo-Inferno schaut, blicken wir ebenso verdutzt auf einen Film, der uns zeigen will, ganz unverblümt und ganz unprätentiös, warum wir Kino brauchen.

© Bilder: MGM.
Screenshots von einer TV-Aufnahme.