Reise nach Indien
(A Passage to India)
Großbritannien, USA 1984, 163 Minuten
Regie: David Lean

Drehbuch: David Lean, Santha Rama Rau, nach dem Roman von E. M. Forster
Musik: Maurice Jarre
Director of Photography: Ernest Day
Montage: David Lean
Produktionsdesign: John Box, Herbert Westbrook

Darsteller: Judy Davis (Adela Quested), Victor Banarjee (Dr. Aziz H. Ahmed), Peggy Ashcroft (Mrs. Moore), James Fox (Richard Fielding), Alec Guinness (Prof. Godbole), Nigel Havers (Ronny Heaslop), Richard Wilson (Turton), Antonia Pemberton (Mrs. Turton), Michael Culver (Major McBryde)

Verschlungene Wege ...

David Lean (1908-1991) gehört zu meinen Lieblingsregisseuren – keine Frage. Auch wenn mir etwa seine Romanze „Summertime” (1955) nicht wirklich zusagt (trotz der exzellenten Besetzung etwa mit Katherine Hepburn und Rossano Brazzi), zeigt selbst dieser Film neben den exzellenten, beeindruckenden Bildern des Venedigs Mitte der 50er Jahre doch das Können eines Regisseurs, der sich für die Produktion seiner Filme immer sehr viel Zeit gelassen hat. „Doktor Schiwago” (1965), „Lawrence von Arabien” (1962), „Die Brücke am Kwai” (1957) oder „Oliver Twist” (1948) gehören für mich zu den besten Filmen, die je gedreht wurden.

Leans letzter Film – „A Passage to India” – gehört ebenfalls zu meinen Favoriten. Gedreht u.a. in Bengalura und Ramanagaram (Südindien) erzählt Lean vor der Kulisse einer farbenprächtigen Landschaft die Geschichte der Reise zweier englischer Frauen, die in den 20er Jahren – also noch mitten in der Kolonialherrschaft der Briten über Indien – mit dem Schiff nach Indien reisen, wo der Verlobte der jungen Adela Quested (Judy Davis), Ronny Heaslop (Nigel Havers), als Friedensrichter im Auftrag der Kolonialmacht tätig ist. Doch Adela und ihre Schwiegermutter in spe, Mrs. Moore (Peggy Ashcroft), Mutter von Heaslop, sind auch neugierig – neugierig auf dieses ihnen so fremde und andere Land, auf diesen riesigen Subkontinent Indien, von dem sie viel gehört und gelesen haben, ein Land, das sie nun endlich kennen lernen wollen.

Schon während der Überfahrt lernen sie den örtlichen Leiter der britischen Verwaltung Turton und seine Frau kennen. Und schon diese Begegnung vermittelt den beiden Frauen eine leichte Ahnung davon, wie die Briten in Indien zu den Indern stehen. Während die Kolonialherren, die in schmucken Häusern leben, ihre Zeit auf Tee- und anderen -partys verbringen, Polo spielen oder anderen „europäischen” Vergnügungen nachgehen, behandeln sie die indische Bevölkerung zumeist herablassen, diskriminierend und mit einem gehörigen Schuss Rassismus. „Wir sind hier nicht, um freundlich zu sein”, entgegnet Ronny seiner Mutter, als diese sich über die schlechte Behandlung der indischen Bevölkerung durch Ronny und andere Engländer empört.

Doch es gibt auch andere Briten, etwa den Lehrer und Bildungsbeauftragten Fielding (James Fox), der zu den meisten Anfeindungen oder auch eher subtilen Bemerkungen seiner Landsleute gegenüber der indischen Bevölkerung eher schweigt, sich aber selbst anders verhält.

Adela, eine junge, sehr ernsthafte Frau, und Mrs. Moore, selbstbewusst und unerschrocken, lassen sich durch das Verhalten ihrer Landsleute nicht abschrecken. Sie wollen das Land und die Menschen kennen lernen. Und als sie den Arzt Dr. Aziz (Victor Banarjee) treffen, eröffnet sich eine Möglichkeit dazu. Aziz soll die beiden Frauen zu den nahe gelegenen Marabar-Höhlen bringen(gedreht wahrscheinlich in Savandurga in der Nähe von Bengalura) – einem religiösen Wahrzeichen der Inder, über das allerdings nicht sehr viel bekannt wird. So reist Dr. Aziz mit den beiden Frauen und etlichen indischen Helfern und Trägern zu den Höhlen, während Fielding den Zug verpasst und auch der geheimnisvolle indische Professor Godbole (Alec Guinness), der ursprünglich mitreisen wollte, zu Hause bleiben.

Und hier, bei und in den Höhlen, geschieht nun etwas, was der ganzen Geschichte eine entscheidende Wendung gibt. Zunächst flüchtet Mrs. Moore aus einer der Höhlen, weil sie die Enge und das überwältigende Echo in dieser Höhle nicht ertragen kann. Und dann begibt sich Adela unbemerkt von den anderen in eine der Höhlen, so dass sich Dr. Aziz Sorgen macht, wo sie abgeblieben sein könnte. Er sucht in jedem dunklen Höhleneingang – doch Adela bleibt zunächst verschwunden. Wir sehen sie dann im Dunkel einer Höhle. Als Dr. Aziz vor dieser Höhle stehen bleibt, pustet Adela das Streichholz aus, das sie gerade erst angezündet hatte. Kurze Zeit später stürzt sie aus der Höhle und fällt einen Abhang, auf dem sich Kakteen befinden, hinunter, steigt in ein Auto, mit dem Fielding gerade erst bei den Höhlen angekommen ist, und fährt mit der Frau eines Arztes, die mit Fielding gekommen war, zurück.

Kurze Zeit später wird Dr. Aziz verhaftet. Der Vorwurf lautet: Er habe versucht, Adela zu vergewaltigen; Adela – schwer verletzt – habe ihn angezeigt ...

Sowohl Forsters Roman, als auch Leans filmische Adaption erzählen diese Geschichte vor dem Hintergrund einer tiefen kulturellen Diskrepanz zwischen einer europäischen Kolonialmacht mit all ihrer Arroganz und Selbstüberschätzung und einer indischen Bevölkerung, in der der Wunsch nach Unabhängigkeit immer stärker wird. In diesen schwelenden Konflikt begeben sich zwei – man kann sagen: insofern unbedarfte – Frauen, die allerdings die strukturell verankerte wie individuell sichtbare und spürbare Diskriminierung der Inder durch ihre Landsleute verabscheuen. Adela löst ihre Verlobung mit Heaslop, Mrs. Moore protestiert bei einem Empfang der Kolonialverwaltung, bei dem auch reichere Inder anwesend sind, ganz offen und unverhohlen gegen die überhebliche Behandlung, auch gegenüber ihrem Sohn.

Auf der anderen Seite haben auch Adela und Mrs. Moore erhebliche Probleme, die indische Kultur und Lebensweise zu verstehen. Als sie Prof. Godbole kennen lernen, wird dies besonders deutlich. Über die Höhlen und ihre Bedeutung für die Bevölkerung wird geschwiegen. Und Godbole scheint die Fähigkeit zu besitzen, Dinge vorherzusehen. Auch Fielding versteht Godbole nicht, als dieser nach der Verhaftung von Dr. Aziz meint, man solle den Dingen ihren Lauf lassen, alles sei vorherbestimmt.

Doch entscheidender ist, dass sowohl für Mrs. Moore als auch für Adela – zwei durchaus selbstbewusste Frauen – das Spannungsverhältnis zwischen den beiden Kulturen in gewisser Weise zum Verhängnis wird. Während Mrs. Moore nach der Verhaftung von Aziz abreist und auf dem Schiff stirbt, stürzt Adela in eine Art Trance-Zustand, einen psychischen Fluchtpunkt, ausgelöst, aber nicht verursacht durch den Besuch der Höhlen. Was hier wirklich geschehen ist, lässt der Film offen. Dass Aziz versucht hätte, Adela zu vergewaltigen, das allerdings glauben nur die Briten, die hier einen willkommenen Anlass sehen, ihre Vorurteile gegen die Inder zu bestätigen. Aziz selbst ist nicht nur verzweifelt; er kann diesen Vorwurf Adelas vor allem deshalb nicht verstehen, weil sich beide vor dem Besuch der Höhlen so gut verstanden hatten. Auch Fielding hält den Vorwurf für völlig absurd.

Aber was glaubt und fühlt Adela? Hin- und hergerissen zwischen der eigenen Kultur und ihren Defekten und anderseits dieser überwältigenden Erfahrung einer anderen, indischen Kultur fühlt sie sich tatsächlich „vergewaltigt”. Sie versteht die Arroganz ihrer Landsleute nicht, aber ebensowenig kann sie die indische Kultur verstehen. Schon in einer Szene vor dem Höhlenbesuch flüchtet sie auf dem Rad bei einem Ausflug vor brüllenden Affen, die ihr Angst machen. Als sie in der Höhle im Dunkeln steht und sehen will, ein Streichholz anzündet, um dieser geheimnisvollen Atmosphäre etwas abzugewinnen, sieht man in ihren Augen doch vor allem eines: Angst. Als sie Aziz am Eingang der Höhle bemerkt, löscht sie das Streichholz, so, als ob sie nicht entdeckt werden wollte. Aber offenbar hört sie aus seinen Worten nicht die Besorgnis von Aziz über ihr Verschwinden, sondern empfindet nur Bedrohung, Beklemmung, Angst.

Wie vom Teufel gejagt stürzt sie den Abhang hinunter, verletzt sich an den Kakteen und beschuldigt später Aziz.

Lean gelingt es, diese Geschichte zweier Frauen und die Situation in Indien zu dieser Zeit auf eine intelligente und einfühlsame Art miteinander zu verbinden. Der Vorteil einer solchen Inszenierung besteht darin, dass allzu plakative Schwarz-Weiß-Zeichnungen einer historischen Situation vermieden werden können. In den beiden Frauen fokussiert sich die schwierige Situation und weist gerade dadurch wiederum auf den historischen Kontext zurück. Die Vergewaltigung, die das Land durch den Kolonialismus und die Hybris der Briten erfährt, schlägt auf eine besondere Art auf die beiden Frauen durch. Während die eine – kraftlos geworden und enttäuscht – der Situation zu entkommen versucht und – so kann man getrost vermuten – daran stirbt, fühlt sich die andere direkt körperlich und seelisch misshandelt.

Was dann im Prozess gegen Dr. Aziz geschieht, scheint vorherbestimmt: Die Kolonialmacht urteilt über eine „minderwertige Rasse”, die triebgesteuert ist. Doch der Versuch scheitert auf der ganzen Linie. Adela kommt sozusagen „zu Sinnen” und nimmt ihre Anschuldigung gegen Aziz zurück, der daraufhin freigesprochen wird. Während sie nach England zurückkehrt – mit all der Last dieser Erfahrungen –, gründet Dr. Aziz irgendwo anders in Indien ein Krankenhaus – schwankend zwischen Wut und Sympathie für Adela. Der Faden zwischen den verständigen und verstehen wollenden Briten und Indern scheint gerissen, aber er ist es nicht ganz. Es bleibt eine schwache Verbindung, sozusagen ein seidener Faden, verletzlich, labil, jederzeit vom Zerreißen bedroht, aber er bleibt.

Das koloniale Erbe auf beiden Seiten wird noch lange wirken – in die eine oder andere Richtung. Adela entschied sich für die Wahrheit – eine zwischenmenschliche Wahrheit, die scheinbar an den permanenten kolonialen Bedrohungen nichts ändern kann. Aber man darf solche Ereignisse, selbst wenn sie nur in einem Film oder Roman erzählt werden, nicht unterschätzen. Es sind diese Entscheidungen, die wirkliche Größe zeigen, ein Handeln, mit dem nicht geprahlt wird, sondern das im Stillen seine Wirkung entfaltet. Hier ist Lean – wenn auch in einer ganz anderen Geschichte – wieder bei „seinem” Lawrence. Wenn dies einer im Film nachvollziehen kann, dann Prof. Godbole – und vielleicht auch Fielding.

Wertung: 10 von 10 Punkten.

© Bilder: Kinowelt Home Entertainment.
Screenshots von der DVD.

22. Februar 2009