Rocco und seine Brüder
(Rocco e i suoi fratelli)
Italien 1960, 170 Minuten
Regie: Luchino Visconti

Drehbuch: Luchino Visconti, Suso Cecchi d'Amico
Musik: Nino Rota
Director of Photography: Giuseppe Rotunno
Montage: Mario Serandrei
Produktionsdesign: Mario Garbuglia

Darsteller: Alain Delon (Rocco Parondi), Renato Salvatori (Simone Parondi), Annie Girardot (Nadia), Katina Paxinou (Rosaria Parondi), Alessandra Panaro (Ciros Verlobte), Spiros Focás (Vincenzo Parondi), Max Cartier (Ciro Parondi), Corrado Pani (Ivo), Rocco Vidolazzi (Luca Parondi), Nino Castelnuovo (Nino Rossi), Renato Terra (Alfredo, Ginettas Bruder), Roger Hanin (Morini), Paolo Stoppa (Cecchi), Suzy Delair (Luisa), Claudia Cardinale (Ginetta)

Wohin ?

Da scheint etwas aus der Vergangenheit herüber – eine längst vergessene (?) Zeit, eine Erinnerung, die verblasst oder gar nicht vorhanden ist, ein Etwas, das uns fremd erscheint, eine Kulisse der Kälte, in der Menschen versuchen, etwas Wärmendes zu geben und zu bekommen, ein fremder Ort, der uns kaum vertraut erscheinen kann. Und doch schimmert das "Spiel" von Zusammenhalt und Zerrissenheit, von Solidarität und Ignoranz aus Viscontis noch halb neoralistischem, halb melodramatischem Film über die Familie Parondi durch alle Zeiten und Veränderungen hindurch zu uns durch.

Ich staune!

Wie gehen diese Menschen zu Beginn der 60er Jahre miteinander um?! Welcher familiäre Zusammenhalt wird mir da präsentiert, der eigentlich weit über das Familiäre hinausgeht? Welch tiefes Empfinden für das Gegenüber wirkt auf mich ein? Nein, das alles ist nicht pathetisch gemeint, wie es vielleicht klingen mag. Es ist Eins zu Eins – etwas was in den Zeiten eines extrem egozentrischen "Individualismus" fast (aber nicht ganz! Das wäre das Ende jeglicher Gesellschaft) verloren gegangen scheint – so will es heute zumindest die sich liberal brüstende, nichtsdestotrotz von wirklicher Freiheit weit entfernte Ideologie, in die Köpfe und Herzen setzen.

Ich staune!

Der Mensch steht im Mittelpunkt Viscontis. Das mag trivial klingen und ist es doch überhaupt nicht. "Rocco und seine Brüder" ist ein Melodram, d.h. Visconti treibt den Realismus (wie etwa in "Die Erde bebt", 1948) auf eine dramatische Spitze, die biblische Anklänge und Ausmaße hat.

Er erzählt die Geschichte der Rosaria Parondi (Katina Paxinou), die mit vier ihrer fünf Söhne aus dem "armen" Süden Italiens nach dem Tod ihres Mannes nach Mailand reist, wo der fünfte Sohn, Vincenzo (Spiros Focás), bereits seit längerem arbeitet und beabsichtigt, Ginetta (Claudia Cardinale in einer exzellenten Nebenrolle) zu heiraten. Als die Familie bei Vincenzo ankommt, feiert der gerade in der Familie seiner Liebsten Verlobung. Als Rosaria ganz selbstverständlich von Vincenzo verlangt, für die ganze Familie zu sorgen, kommt es zum Streit mit der Familie Ginettas.

Man kommt in die Fremde. Alles ist fremd – die Großstadt, die Menschen, deren Verhalten, die Regeln, nach denen hier gelebt wird. Nur die Hoffnung ist groß, in Mailand der Armut des Landes im Süden zu entkommen, ein bisschen Glück zu finden, ein bisschen Wohlstand. Visconti thematisiert den bis heute wirkenden Gegensatz zwischen Norden und Süden, auf dem aufbauend nationalistische wie rechtsextreme Parteien in Italien bis in die jüngste Gegenwart ihre spalterische Politik aufbauen. Aber er thematisiert dies nicht über politische Positionen. Er zeigt, wie die Gegensätze innerhalb der Familie Parondi wirken.

Wir treffen neben Vincenzo auf Simone (Renato Salvatori) und seine Brüder Rocco (Alain Delon in einer Meisterrolle, die ihm den endgültigen Durchbruch als Schauspieler verschaffte), Ciro (Max Cartier) und den jüngsten Bruder Luca (Rocco Vidolazzi). Zunächst findet die Familie in einer engen, schlecht geheizten Kellerwohnung Unterkunft, und die Brüder finden ihre erste Arbeit im Winter beim Schneeschippen. Vincenzo, Rocco und Simone boxen. Und Simone scheint besonders talentiert für diesen Sport. Sein Trainer ermuntert ihn, in den Boxsport voll einzusteigen, und Simone hofft auf eine Boxerkarriere. Während Rocco in einer Reinigung eine Arbeit als Bote und Ciro bei Alfa Romeo eine geregelte Arbeit findet, boxt sich Simone von einem Sieg zum anderen und verliebt sich in eine Nachbarin der Familie, die Prostituierte Nadia (die damals 29jährige Annie Girardot, ebenfalls in einer Glanzrolle).

Doch so sehr Rosaria auch versucht, ihre Söhne beieinander zu halten – in einer Großstadt wie Mailand ist dies kaum möglich. Während Vincenzo Ginetta heiratet und von zu Hause wegzieht, meldet sich Rocco beim Militär. Nadia verlässt Simone, weil der der Ex-Chefin von Rocco eine Brosche gestohlen hat. Und kurz vor dem Ende seiner Militärzeit trifft Rocco zufällig Nadia. Beide treffen sich regelmäßig in Mailand, und der Trainer Simones bringt Rocco dazu, bei ihm zu boxen; denn Rocco hat während seiner Militärzeit viel dazu gelernt. Nun ist er es, der von Sieg zu Sieg zieht, während Simone, der nicht auf seinen Trainer hören will, verliert seinen ersten Kampf. Und obwohl Simone seit über zwei Jahren nicht mehr mit Nadia zusammen war, rastet er aus, vergewaltigt Nadia und schlägt mit Hilfe seiner Kumpane seinen Bruder Rocco halb tot. Eine Katastrophe nimmt ihren Lauf.

Während sich Simone immer häufiger in Spielhöllen und dubiosen Bars herumtreibt, trennt sich Rocco von Nadia, weil er glaubt, Simone liebe sie und er habe kein Recht auf Nadia ...

Visconti verknüpft in "Rocco und seine Brüder" in (s)einer unnachahmlichen Weise Realismus, Melodramatik und archaische Elemente zu einer bildgewaltigen homogenen Geschichte, die in Tragik endet. Diese Tragik am Ende des Films ist dennoch nicht die der klassischen Tragödie. Visconti belässt den Akteuren einen Handlungsspielraum für die Zukunft, der sich aus der Vergangenheit und der tragischen Entwicklung selbst ergibt. Und dies wiederum hat nichts Archaisches, nichts Biblisches, ja nicht einmal etwas Erfundenes mehr an sich. Ciro, Vincenzo und Rocco und auf seine Weise auch der jüngste Sohn Luca sind in gewisser Weise offen für die Zukunft wie andersherum die Zukunft für sie offen ist. Das hat weniger etwas mit der Hoffnung auf eine bessere (ökonomische und soziale) Situation zu tun, aber sehr viel mit der gewonnenen Freiheit, die die Akteure in sich spüren, und der Verantwortung, die sie in einer fast völlig neuen Umgebung nun wahrnehmen. Man könnte auch sagen: Visconti "stutzt" das Biblische und Archaische auf eine realistische Art zurecht.

Während Simone sich in der neuen Umgebung nicht zurecht findet, weil er nur auf das Negative reagiert, anstatt die positiven Möglichkeiten erkennen zu können, in dieser anderen Welt zu überleben und zu leben, haben Vincenzo und Ciro längst erkannt, dass und wie sich auf diese Welt einstellen müssen. Dass dies kein leichter Weg und keine leichte Entscheidung ist, ergibt sich von selbst. Dass dies mit einem Lernprozess verbunden ist, der äußert kompliziert und komplex ist – ebenso. Und was ihnen dabei nicht nur hilft, sondern geradezu eine innere Voraussetzung darstellt, ist der aus ihrer Heimat "transferierte" Zusammenhalt innerhalb der Familie, der nun einer neuen Umgebung anzupassen ist.

Weniger "soziologisch" ausgedrückt: Während Ciro und Vincenzo es mehr oder weniger "leicht" haben, sich anzupassen, ohne ihr Selbstsein zu verlieren, scheitert Simone auf der ganzen Linie. Er ist die eigentlich tragische Figur dieser Geschichte. Die Schuld, die er auf sich lädt, ist eine individuelle Schuld – Diebstahl, Vergewaltigung, ja Mord. Und doch wird an seinem Beispiel deutlich – und Visconti weiß aufgrund einer tief sitzenden Emotionalität und Verbundenheit mit seinen Akteuren davon –, wie falsch es wäre, die Verwicklungen zwischen einzelnem und Gesellschaft auseinander zu dividieren, um einen "Schuldigen" zu präsentieren, auf den alle anderen mit dem Finger zeigen: "Seht her, der Verbrecher!", um sich selbst rein zu waschen.

Das entscheidende dramaturgische "Mittel" für Viscontis Art, diese Geschichte so überzeugend zu erzählen, ist: Rocco.

Rocco ist seiner Mutter und seinen Brüdern in bestimmter Hinsicht am meisten verbunden. Er ist derjenige, der am vehementesten versucht, die Familie nicht zu nur zusammenzuhalten, sondern ihr auch eine Basis in Mailand zu verschaffen. Aber Rocco scheitert in Bezug auf Simone. Immer wieder hilft er seinem Bruder, selbst dann, als er blutig von ihm verprügelt worden ist, als er Nadia aufgibt, als er versucht, Simones Schulden zu bezahlen usw. Rocco kämpft und handelt, als ob er sich noch in der Heimat befände. Auch wenn die Beziehung zwischen Simone und Rocco etwas von der biblischen zwischen Kain und Abel an sich hat, auch wenn der "Verrat" Ciros an Simone (er zeigt ihn bei der Polizei an) archaische Züge trägt, so erweist sich bei näherer Betrachtung, dass dies fast nur ein äußerer Anschein ist.

Roccos Verhalten gegenüber Simone und seine Abwendung von Nadia haben – ohne dass Rocco dies wollte – tragische Folgen. Nadia stürzt zurück in ihr altes, erbärmliches Leben, geht sogar zu Simone zurück, wenn auch nur, um sich irgendwie (aber wie denn eigentlich?) an ihm zu rächen, was völlig misslingt, und Simone fällt immer tiefer.

Zu spät erkennt Rocco, der von einer Rückkehr in die Heimat träumt, sich in einer "richtigen" Umgebung "falsch" verhalten hat – etwas, was ihn zur zweiten tragischen Figur in dieser Geschichte macht.

Die Grenzen zwischen den Regeln sozialer Strukturen und den individuellen verinnerlichten Verhaltensmustern verschwimmen. Wer ist hier Schuld und warum? Nun, die Auffassung, "die Gesellschaft" sei letztendlich für mehr oder weniger alles verantwortlich – das zeigt die Art und Weise, wie Visconti diese Geschichte erzählt –, wird hier ebenso zur Farce wie die gegenteilige Meinung, der einzelne sei "für sein Schicksal ausschließlich selbst verantwortlich". Beide Positionen verkennen die Verschränkung zwischen einzelnem und Gesellschaft und den Veränderungen, die stattfinden. Während die erste Farce zu einer Entschuldigung für jegliches Verhalten tendiert, lastet die zweite dem einzelnen alles auf und "befreit" letztendlich gesellschaftliche (Macht-)Strukturen von jeglichen Folgen, die sie zeitigen.

Man kann in der Geschichte der vergangenen Jahrzehnte akribisch beobachten, wie eine Farce die andere ablöste. Während in den 70er Jahren die "Entschuldung" des Individuums durch die erste Farce eine starke Anhängerschaft hatte, herrscht heute eher der blanke Zynismus der zweiten Farce vor. Ich nenne beide falschen Meinungen deshalb Farce, weil sie possengleich in ihren Ausgangspositionen und deren Entwicklung stark zur Absurdität in Bezug auf die Wahrnehmung der Gesellschaft neigen und zum Unsinn tendieren.

Visconti dagegen zeigt uns, wie schwierig und komplex überhaupt Fragen nach Schuld und Verantwortung allein schon zu stellen, geschweige denn zu beantworten sind und wie ebenso schwierig es ist, in bestimmten Situationen eine "richtige" Entscheidung zu treffen. Dies kann nur gelingen, wenn ein gewisses Maß an Sympathie und Nähe zu den Figuren vorhanden ist.

Visconti erzählt eine Geschichte, die in den Zeiten des Umbruchs spielt – eines Umbruchs, den manche gerne als "Modernisierung" bezeichnen (übrigens ähnlich wie in seinen Filmen "Der Leopard" von 1963 und "Ludwig" 1972). (1) Es ist ein Umbruch, in dem die (kulturelle) Vielfältigkeit eines Landes langsam, aber sicher zerstört wird, in dem sich mehr oder weniger alle letztlich dem Diktat einer "geschenkten" Gleichheit unterzuordnen haben. Auch wenn "Rocco und seine Brüder" vor allem von einer einzigen Familie erzählt, so erzählt Visconti eben doch auch von einer ganzen Gesellschaft im Umbruch. Auch wenn Visconti vor allem von der Schuld und der Verantwortung seiner Protagonisten berichtet, so erzählt er eben doch auch von den mächtigen Verwicklungen, Veränderungen und Umbrüchen, die den einzelnen in eine neue Welt stürzen und die jedem viel abverlangt.

Die Musik von Nino Rota (der u.a. auch die Musik zu Coppolas "Paten" komponierte) und die manchmal fast triste Schwarz-Weiß-Inszenierung einer Großstadt wie Mailand runden eine Geschichte ab, die zu den besten der Filmgeschichte gehört.

Wertung: 10 von 10 Punkten.

(1) Ein anderer großer italienischer Regisseur und Schriftsteller, Pier Paolo Pasolini, hat diesen Umbruch in Italien etwa beschrieben in seinen Aufsätzen, die gesammelt unter dem Titel "Freibeuterschriften. Aufsätze und Polemiken über die Zerstörung des einzelnen durch die Konsumgesellschaft" erschienen sind (Verlag Wagenbach 2006, 2. Aufl., 174 Seiten).

27. Juli 2008