Schläfer
Deutschland, Österreich 2005, 100 Minuten
Regie: Benjamin Heisenberg

Drehbuch: Benjamin Heisenberg
Musik: Lorenz Dangel
Director of Photography: Reinhold Vorschneider
Montage: Karina Ressler, Stefan Stabenow
Produktionsdesign: Renate Schmaderer

Darsteller: Bastian Trost (Johannes), Mehdi Nebbou (Farid), Loretta Pflaum (Beate), Gundi Ellert (Frau Wasser), Wolfgang Pregler (Prof. Behringer), Charlotte Eschmann (Johannes Großmutter)

Verrat durch Schweigen

Die Szenerie ist hochaktuell. Fast jeder könnte in eine Situation geraten, in der er Menschen in anderer Weise wahrnimmt, ja beobachtet, weil über ihnen das Stigma des Verdachts schwebt. Man stelle sich vor, man hört über einen Bekannten, er stehe im Verdacht, irgendeine Straftat begangen zu haben oder zu planen. Allein ein solches Gerücht – und sei es nicht mehr – verändert den Blick auf diesen Menschen – ob man das selbst will oder nicht.

Benjamin Heisenberg geht noch drei Schritte weiter. Zum einen besteht der Verdacht nicht in irgendeiner vermeintlichen oder geplanten Straftat, sondern sie besteht gegenüber einem Menschen, der aus einem arabischen Land kommt. Sofort fallen einem Begriffe wie „Islamismus”, Bin Laden, Taliban und ähnliches ein. Zum zweiten wird dieser Verdacht nicht von irgend jemand geäußert. Der Verfassungsschutz höchstpersönlich in Gestalt einer durchaus sympathischen Dame namens Frau Wasser (Gundi Ellert) interessiert sich für den potentiellen, vermeintlichen Islamisten Farid (Mehdi Nebbou). Und zum dritten wird dieser Verdacht nicht einfach formuliert; Frau Wasser bittet einen Kollegen von Farid, den jungen Johannes (Bastian Trost), Farid zu beobachten. Johannes soll, mit anderen Worten, zum IM des Verfassungsschutzes werden.

Johannes hat gerade eine Stelle an einem Forschungsinstitut angenommen; er soll forschen und lehren. Und Farid, der dort schon länger beschäftigt ist, ist sein unmittelbarer Kollege. Beide arbeiten am selben Projekt. Als Johannes von Frau Wasser angesprochen wird, lehnt er den Auftrag als inoffizieller Mitarbeiter zunächst ab. Frau Wasser versucht ihn nicht dazu zu überreden, Farid in irgendeiner Weise hereinzureiten. Sie sagt ganz offen, die Informationen über Farid könnten ihn durchaus auch entlasten.

Johannes beginnt seine Arbeit. Er und Farid verstehen sich gut. Sie vereinbaren sogar, nicht als Konkurrenten gegeneinander anzutreten, sondern das Forschungsprojekt gemeinsam fortzuführen und zu einem positiven Abschluss zu bringen. Die beiden freunden sich sogar an, gehen abends gemeinsam in Kneipen, zu Farid nach Hause usw.

Als Johannes die junge Beate (Loretta Pflaum), die als Bedienung arbeitet, kennenlernt und sich in sie verliebt, hat er das Ansinnen von Frau Wasser schon fast vergessen – obwohl er sich in Farids Wohnung kurz zuvor noch umgesehen hatte, so, als ob er etwas Verdächtiges finden könnte.

Dann allerdings geschehen zwei Dinge, die Johannes Verhalten gegenüber Farid ändern. Zum einen verliebt sich Beate nicht in ihn, sondern in Farid. Und zum anderen streicht Farid die Belobigungen für das fertiggestellte Forschungsprojekt durch Prof. Behringer (Wolfgang Pregler) ein, obwohl Johannes durch eine Veränderung der für das Projekt benutzten Software wesentlich zum Erfolg des Projekts beigetragen hatte. Johannes meldet sich bei Frau Wasser ...

Allein durch die Kontaktaufnahme von Seiten des Verfassungsschutzes gerät Johannes schon in Gewissenskonflikte. Es ekelt ihn an, jemanden, mit dem er dazu noch zusammenarbeitet, zu bespitzeln. Doch allein durch dieses Ansinnen des Verfassungsschutzes verändert sich schon der Blick von Johannes auf Farid. Der Verdacht oder auch nur vage Verdachtsmomente, vielleicht nur die Tatsache, dass Farid aus einem islamischen Land stammt, reichen aus, Farid anders zu sehen. Und trotzdem spioniert Johannes (zunächst) nicht. Auch als er aus gekränkter Eitelkeit Frau Wasser aufsucht, weil Beate sich nicht in ihn verliebt hat, sträubt Johannes sich, wirklich effektiv Farid zu beobachten.

Als er allerdings schlucken muss, in der Veröffentlichung der Forschungsergebnisse nicht erwähnt zu werden, schweigt er, als er gegenüber Frau Wasser Farid ein Alibi bestätigen soll, weil kurz zuvor ein Bombenanschlag begangen wurde und Frau Wasser wissen will, ob Farid tatsächlich zu dieser Zeit, wie er behauptet, mit Johannes in einer Diskothek gewesen sein will.

Heisenbergs Film bewegt sich in „ruhigen Bahnen”, erzählt die Geschichte eines jungen Mannes, der nach der Kontaktaufnahme durch den Verfassungsschutz einem ständigen inneren Druck ausgesetzt ist, sich aber davon nichts anmerken lässt. Trotzdem ist dieser Druck spürbar. Johannes, der seine alte und kranke Großmutter mit versorgt – nicht gerade eine Selbstverständlichkeit heutzutage –, ist „eigentlich” ein herzensguter Mensch. Der Film will dann zeigen, wie diese Herzensgüte in Rache und Verrat umschlägt, als Johannes privat (Beate) und beruflich (Forschungsprojekt) Rückschläge erleidet.

Nun mag man meinen, nicht jeder würde sich wegen solcher Rückschläge dazu bereit finden, jemand anderen zu verraten, zu denunzieren, und sei es nur durch Schweigen wegen eines Alibis bzw. dessen Bestätigung. Blickt man allerdings auf die „Geschichte von Verrat und Rache”, etwa während des NS, aber auch bezüglich weniger drastischer gesellschaftlicher Epochen, wird das Verhalten von Johannes durchaus erklärlich. Dass wegen persönlicher Vorteile bzw. zur Abwehr persönlicher Nachteile Menschen andere verraten, im Stich lassen usw., ist sicherlich kein Einzelfall.

Dass Heisenberg diese Geschichte fast leise, ja lautlos erzählt, ohne in Theatralisierung abzugleiten und ohne Nebenschauplätze zu öffnen, macht seinen Film zu einem besonderen Ereignis. Eingerahmt wird diese Geschichte von der Pflege der Großmutter und deren Gebet „Der Herr ist mein Hirte, mir wird an nichts mangeln”. Als die Großmutter am Schluss stirbt, betet Johannes selbst diese Worte. Die Assoziation zum Neuen Testament wird damit deutlich. Aber nicht nur dies. Die durchaus nette Dame vom Verfassungsschutz symbolisiert sozusagen die Versuchung Christi, das Schweigen Johannes wegen des Alibis symbolisiert den Verrat des Judas oder die Verleugnung Jesus durch andere Jünger.

Man mag dies für übertrieben halten. Doch der Film erzählt dies auf eine durchaus nicht symbolträchtige Art und Weise. Er fokussiert die Geschichte auf Johannes und seine Umgebung, auf das konkrete Geschehen, auf die konkreten Veränderungen im Verhalten usw. Bastian Trost überzeugt in der Rolle des Johannes als eines jungen Mannes, dessen Zivilcourage am entscheidenden Punkt versagt und dessen Egoismus am entscheidenden Punkt voll zum Tragen kommt.

© Bilder: ZDF, ARTE u.a.
Screenshots von einer TV-Aufnahme.