Zeit der Unschuld (1993)
Gangs of New York (2002)
Aviator (2004)
Bringing Out the Dead (1999)
Die Zeit nach Mitternacht (1985)





Zeit der Unschuld
(The Age of Innocence)
USA 1993, 139 Minuten
Regie: Martin Scorsese

Drehbuch: Jay Cocks, nach dem Roman von Edith Wharton
Musik: Elmer Bernstein
Director of Photography: Michael Ballhaus
Montage: Thelma Schoonmaker

Darsteller: Daniel Day-Lewis (Newland Archer), Michelle Pfeiffer (Countess Ellen Olenska), Winona Ryder (May Welland/Archer), Richard E. Grant (Larry Lefferts), Alex McGowen (Sillerton Jackson), Geraldine Chaplin (Mrs. Welland), Mary Beth Hurt (Mrs. Regina Townshend Beaufort), Stuart Wilson (Julius Beaufort), Linda Faye Farkas (Opernsängerin), Michael Rees Davis, Terry Cook, Jon Garrison (Opernsänger), Howard Erskine, John McLoughlin, Christopher Nilsson (Gäste)

Keine Zeit der Leidenschaft

Martin Scorseses Interpretation des Romans der 1930 verstorbenen Schriftstellerin Edith Wharton spielt im New York der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts, in den Salons, prunkvollen Häusern, den Restaurants der ältesten und reichsten Familien der Stadt, die an allen Ecken und Enden irgendwo miteinander verwandt zu sein schienen. Eine Erzählerin (Joanne Woodward in der Originalfassung, ich meine Rosemarie Fendel in der deutschen Synchronisation) führt uns ein in diese Kreise der Hautevolee, in ihr strenges Reglement, in ihre Gesetze, in eine Welt, in der Regeln und Regelverletzungen gleichermaßen in einem großen, ungeschriebenen Buch geordnet sind. Edith Wharton, die selbst dieser Klasse entsprang, besaß ein feinsinniges Gefühl für die Details, komplizierten und komplexen Verhaltensmuster ihrer Klasse und schrieb mit einer guten Portion Ironie ihre Romane. Scorsese gelingt (nicht nur) durch die Erzählerin, mit dieser manchmal bitteren, manchmal bösen Ironie, die aber nicht verletzen soll, was schon verletzt ist, eine bezaubernde und zugleich erschreckende Atmosphäre zu erzeugen.

Der junge Anwalt Newland Archer (Daniel Day-Lewis) gehört einer dieser Familien an und beabsichtigt, die reizende May Welland (Winona Ryder) zu ehelichen. Der Zufall will es, dass beide einander mögen. Beide wissen exakt, was von ihnen erwartet wird. Ehe, das ist in ihren Kreisen nicht zuallererst verbunden mit Zuneigung, sondern mit Konvention, Verpflichtung der eigenen Familie gegenüber und Konvenienz. Als die Cousine Mays, die Gräfin Ellen Olenska (Michelle Pfeiffer), die ihre Jugend in New York verbracht hat, aus Europa zurückkehrt, wo sie mit einem polnischen Adligen unglücklich verheiratet ist, gerät das Gefüge der New Yorker Gesellschaft durcheinander. Ellen hofft, von hier aus ihre Scheidung in die Wege leiten zu können. Und sie hofft dabei auf Unterstützung durch ihre Familie und andere. Doch die Gräfin hatte nie als Erwachsene in der New Yorker Gesellschaft gelebt und begreift zunächst nicht, was sich hinter ihrem Rücken abspielt. Für die eigene Familie wie für die upper class insgesamt war ihre Heirat nach Europa schon ein Regelverstoß, den man ihr nie verziehen hatte. Und jetzt soll man mit der Scheidung einverstanden sein? Durch eine einflussreiche Familie gelingt es Archer, sie über einen Empfang den Zutritt zur Gesellschaft zu verschaffen, um ihr eine Chance zu geben, „vernünftig“ zu werden.

Newland Archer ist fasziniert von Ellen. Ihr Kampf für Freiheit, für Unabhängigkeit, ihre Weltoffenheit bringen ihn dazu, sie vor den anderen zu verteidigen. Als Anwalt allerdings wird er dazu verpflichtet, Ellen von der Scheidung abzuhalten, vordergründig, weil der Graf sie in der Öffentlichkeit moralisch zerstören würde, in Wahrheit, weil man die Klasse schützen will. Newland gerät in eine Zwickmühle: Er will in die Gesellschaft einheiraten und muss daher in deren Sinne gegenüber Ellen tätig werden, hat sich zugleich aber in Ellen verliebt und will sie beschützen ...

Scorsese zeigt uns den prunkvollen Lebensstil, die rauschenden Bälle, die exzellenten Diners, die Villen, reich ausgestattet mit Gemälden und altem Interieur, die zu jeder Gelegenheit wechselnden Kostüme – Kurz: die ganze äußerliche Pracht einer Klasse. Er erzählt uns von den uns so fremd vorkommenden Reglements, überwacht von der äußerst beleibten Mrs. Mingott (Miriam Margolyes) (die ihre Wohnung nicht mehr verlässt, weil sie die Teppen nicht mehr hinauf und hinunter kommt), einer Art Oberster Gerichtshof der Aristokratie, die ihren Einfluss und ihr Geld dazu einsetzt, Ehen zu stiften, Regelverstöße zu ahnden und Konflikte im Sinne der Familien zu lösen. Scorsese zeigt uns Larry Lefferts (Richard E. Grant), sozusagen „Presseorgan“ der Gesellschaft, eine männliche adlige Klatschbase, ein Wächter der Tugend, der seine Augen und Ohren überall hat, intrigiert, berichtet, dafür sorgt, dass niemand zu einer Gefahr wird. Last but not least Mr. Beaufort (Stuart Wilson), der offiziell „anständig“ verheiratet ist und von dem inoffiziell alle wissen, dass er hier und da seine Mätressen besucht. Solange er sich damit nicht in der Öffentlichkeit zeigt oder gar brüstet – was ihm nie einfallen würde –, wird sein Regelverstoß als Teil des Reglements selbst geduldet.

Michael Ballhaus großartige Bilder und Thelma Schoonmakers Schnitt sorgen dafür, dass wir in diese Atmosphäre im wahrsten Sinn des Wortes eintauchen können. Schuld und Unschuld, Leidenschaft und Gewalt äußern sich hier anders als etwa in „Good Fellas“: Keine rohe Gewalt, aber auch keine unbekleideten Körper, keine Polizei und kein Gericht bestimmen das Leben der New Yorker Gesellschaft. Man könnte es eher als eine Art strukturelle Gewalt bezeichnen, die sich im Verhalten der Figuren festgesetzt hat. Emotion und Terror sind zivilisiert worden, spielen sich in aller Regel im Stillen und Geheimen ab.

Archers Leben wird zerstört und er zerstört es selbst, Archer zerstört ebenso das Leben seiner jungen Frau und er lebt doch Jahrzehnte mit ihr zusammen, in einer besonderen Form des Glücks, einem verordneten Glück. Die beiden haben Kinder. Er zerstört Ellens Leben und sie zerstört ihr eigenes. Die unsichtbare, aber umso skrupelloser wirkende Macht der Regeln der Gesellschaft, die alle – Archer, Ellen, erst recht May – akzeptiert und verinnerlicht haben, setzt sich über alle Leidenschaften hinweg. May erscheint Archer als nicht besonders intelligente junge Frau, die im Leben der Familie aufgeht. Aber May weiß fast von Anfang an um Archers Liebe zu Ellen. Sie akzeptiert dies unter der Voraussetzung, dass ihre Ehe aufrecht erhalten bleibt und die Pflichten erfüllt werden, die beide zu erfüllen haben. Sie nimmt sogar an, Archer habe ein sexuelles Verhältnis mit Ellen, was er aber nie hatte und nie haben wird. Ellen scheitert schließlich an ihren Versuchen, als freier Mensch in New York zu leben. Sie bewahrt sich ihre Freiheit, indem sie nicht zu ihrem Mann zurückkehrt, sondern sich in Paris niederlässt. Kurz bevor May stirbt, sagt sie ihrem Sohn, dass er einen guten Vater habe, der das, was er am meisten in seinem Leben liebte, für sie und ihre Kinder aufgegeben habe.

Zu den großartigsten Momenten dieses Films zählen für mich die, in denen Daniel Day-Lewis und Michelle Pfeiffer zusammentreffen. Vom ersten Augenblick an spürt man die innere Verbundenheit, die grenzenlose Leidenschaft, die Ellen und Newland füreinander empfinden. Sie sitzen während eines Empfangs auf einem Sofa, sprechen miteinander, anständig, wie es sich gehört. Aber ihren Blicken, unscheinbaren Bewegungen, ihrer Mimik ist deutlich zu entnehmen, was in ihnen vorgeht. Und: Jeder weiß es und keiner spricht darüber. Michelle Pfeiffer spielt diese nach Freiheit drängende Frau, die an den Konventionen der New Yorker Gesellschaft scheitert, weil sie sie nicht akzeptieren kann und will, mit einem unglaublichem Gespür für eine solche Situation. Sie strahlt in diesen Momenten vor innerer Schönheit, Verzweiflung und Leidenschaft zugleich. Die Begegnungen zwischen Ellen und Newland sind erotische Zusammenkünfte. Die beiden „schlafen“ miteinander, ohne auch nur ein Kleidungsstück abzulegen. Solche Momente sind mit die aufregendsten der Filmgeschichte.

Archer und Ellen scheitern an den sozialen Codes, die ihnen von Geburt an beigebracht worden sind. Es gibt keine Flucht für sie, nicht unbedingt, wie Ellen an einer Stelle meint, weil sie nicht wissen wohin sie fliehen sollten, sondern weil sie Fliehen nicht gelernt haben. Auch ihre Rückkehr nach Paris ist nicht eigentlich eine Flucht, sondern ein Rückzug, eine Kapitulation. Das Ende des Films lässt die spezifische soziale Codierung der Hautevolee New Yorks unwichtig werden. Es enthüllt sich der allgemeine zivilisatorische Kontext von ausgefeiltem tradiertem, codiertem Verhalten und den nach Unabhängigkeit strebenden Emotionen, Leidenschaften, die sich nicht einzwängen lassen wollen, sich aber gegen die Macht der Regeln nicht durchsetzen können.

„Zeit der Unschuld“ – Die Handelnden sind alles andere als unschuldig. Nur, die Frage von Schuld und Unschuld stellt sich als komplexer und komplizierter dar, als sie gemeinhin gefasst wird. Archer macht sich schuldig, weil er eine Frau heiratet, die er zwar mag, aber nicht liebt, eine andere liebt, aber nicht mit ihr lebt. Diese Verwicklung von persönlicher und „strukturell bedingter“ Schuld und Unschuld stellt sich am Ende als etwas von den konkreten historischen Umständen teilweise unabhängiges heraus. Scorsese enthüllt die menschlichen Hoffnungen, Sehnsüchte, Wünsche, die wir letztlich alle haben und an denen auch wir heute noch oft scheitern, weil wir uns durch die angeblich so vernünftigen Regeln, die das Leben oft nur einzwängen, hindern lassen und selbst hindern.



Gangs of New York
(Gangs of New York)
USA, Deutschland, Italien, Großbritannien, Niederlande 2002,
168 Minuten
Regie: Martin Scorsese

Drehbuch: Jay Cocks, Steven Zaillian, Kenneth Lonergan, u.a. nach dem Buch von Herbert Asbury („The Gangs of New York“ von 1928)
Musik: Howard Shore
Director of Photography: Michael Ballhaus
Montage: Thelma Schoonmaker
Produktionsdesign: Dante Ferretti, Stefano Maria Ortolani, Robert Guerra, Maria Theresa Barbasso, Nazzareno Piana, Alessandro Alberti, Dimitri Capuani

Darsteller: Leonardo DiCaprio (Amsterdam Vallon), Daniel Day-Lewis (William „Bill the Butcher“ Cutting), Cameron Diaz (Jenny Everdeane), Liam Neeson (Priester Vallon), Jim Broadbent (William „Boss“ Tweed), John C. Reilly (Happy Jack), Henry Thomas (Johnny Sirocco), Brendan Gleeson (Walter „Monk“ McGinn), Gary Lewis (McGloin), Stephen Graham (Shang), Eddie Marsan (Killoran), Alec McCowen (Reverend Raleigh), David Hemmings (Mr. Schermershorn), Larry Gilliard Jr. (Jimmy Spoils), Cara Seymour (Hell-Cat Maggie), Roger Ashton-Griffiths (P. T. Barnum), Peter Hugo Daly (einarmiger Priester), Cian McCormack (der junge Amsterdam)

Woher kommst Du, Amerika?

In prachtvollen, opulenten Bilderorgien führt uns der Scorses in mehr als zweieinhalb Stunden in die Welt des Krieges, des New Yorker Bandenkriegs des 19. Jahrhunderts, in einen Schmelztiegel, in dem ausschließlich Gewalt zu herrschen scheint, nichts als Gewalt. Die opulenten Bilder von Michael Ballhaus fügen sich zu einem bewegten Fresko zusammen, das vom Leben einer Zeit erzählt, die uns so fern zu liegen scheint und in mancher Hinsicht doch näher ist, als wir glauben. Fast scheint es, als wolle Scorsese dem alten Friedrich Engels recht geben, der die Gewalt zu einer Art Katalysator bei der Entstehung sozialer Umbruchprozesse erklärte. Oder wie sein nicht minder berühmter Freund Karl Marx es formulierte: Gewalt sei der „Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht“. „Geschichte ist immer gewalttätig. Einwanderer kamen in Amerika an und gerieten sofort in Konflikt mit den dort Geborenen. Das war ein permanenter Kampf, und das 19. Jahrhundert war das gewalttätigste der amerikanischen Geschichte“, äußerte der Regisseur in einem Interview mit „Die Welt“. Doch Scorsese wäre nicht Scorsese, wenn die Dinge nur hier zu finden wären. Die heutige Lower East Side, in der „Gangs of New York“ spielt, platzte aus den Nähten – vor Menschen, vor Dreck, vor Kriminalität, vor Gewalt. Die Leinwand scheint manchmal zu zerbersten, die Menschen aus ihr „herauszufallen“, so dicht filmten Scorsese und Ballhaus Five Points, das Zentrum der unzähligen irischen, italienischen und anderen Gangs.

„Gangs of New York“ fügt sich – das sei hier vorweggenommen – in die Darstellung der Geschichte Amerikas bzw. einzelner Epochen ein, wie sie Scorsese sieht: ob in „Goodfellas“ (1990), einer Art (im historischen Sinn) Fortsetzung von „Gangs“ im Mafia-Milieu, oder „Taxi Driver“ (1976). Selbst „Age of Innocence“ (1993), der in der High Society von New York um 1870 spielt, kann als direkte Folge der Geschichte der bürgerkriegsähnlichen Entwicklung im New York der 40er bis 60er Jahre des 19. Jahrhunderts gesehen werden (Daniel Day-Lewis spielt hier den Anwalt Newland, der auf ein Leben mit der Gräfin Olenska aus Gründen der Gesellschaftsfähigkeit verzichtet).

Die großen Hungersnöte der 40er Jahre in Irland treiben einen Strom von Einwanderern nach Amerika. Der Priester Vallon (Liam Neeson) gehört 1846 zu den Wortführern der irischen Immigranten in New York, die es in der Lower East Side von Manhattan schwer haben. Die schon länger dort lebenden Einwohner, die sich als „Natives“ bezeichnen, machen den Iren und anderen Ethnien das Leben zur Hölle. Die „Natives“ hassen die angeblich verkommenen Hungerleider aus dem Ausland, aber auch die „Neger“. „Five Points“ ist das Zentrum der Macht der „Natives“, die von dem Metzger Bill Cutting, genannt Bill the Butcher (Daniel Day-Lewis) angeführt werden. Nicht nur die „Natives“, auch die vor kürzerer Zeit eingewanderten Ethnien, haben sich in Gangs zusammengeschlossen. Selbst die verschiedenen, ethnisch besetzten Feuerwehren, kämpfen miteinander um das Vorrecht, Brände zu löschen. Vallon leitet die irischen „Dead Rabbits“. In einer Schlacht zwischen den beiden verfeindeten Gruppen wird Vallon vor den Augen seines Sohnes (Cian McCormack) getötet – kein geringerer als Bill selbst versetzt Vallon den Todesstoß.

16 Jahre später kommt der in einem Heim aufgewachsene Amsterdam Vallon (Leonardo DiCaprio) zurück nach Five Points. Er hat nur eines im Sinn: Rache für den Tod seines Vaters zu nehmen. Nach wie vor regiert Bill the Butcher – im Verein mit dem korrupten Anführer einer politischen Gruppierung, der sog. Tammany Hall, William „Boss“ Tweed (Jim Broadbent), der sich Wählerstimmen durch Bestechung kauft; die Polizei ist ebenfalls durch und durch korrupt. Niemand außer Johnny Sirocco (Henry Thomas), der Amsterdam nach dem Tod seines Vaters geholfen hatte, weiß, dass er der Sohn Vallons ist. Amsterdam sucht vorsichtig Kontakt zu dem skrupellos regierenden Bill und gewinnt dessen Vertrauen. Schon bald gehört Amsterdam zu Bills wichtigen Männern. Bill verhält sich gegenüber dem jungen Mann wie eine Art Vater. Die Freundschaft Amsterdams mit Johnny allerdings wird auf eine harte Probe gestellt, als Amsterdam sich in die Betrügerin und Taschendiebin Jenny (Cameron Diaz) verliebt. Denn auch Johnny ist in Jenny unsterblich verliebt, die mit zwölf Jahren von Bill aufgenommen und groß gezogen wurde.

Aus Rache verrät Johnny Amsterdam und erzählt Bill, dass er der Sohn des Priesters Vallon ist. Ein Kampf um Leben und Tod zwischen Bill und Amsterdam beginnt ...

Scorsese zeichnet, vor allem durch die enorm aufwendigen Kulissen, die in Cinecitta (Rom) errichtet wurden, und die Bilder von Ballhaus ein intensives Gemälde des Lebens der 60er Jahre  des 19. Jahrhunderts in der Lower East Side. Die vordergründig von den Reichen und Mächtigen der Stadt in der Upper West Side, der 5th Avenue usw. propagierte Demokratie wird von Scorsese mit deutlichem Zynismus bloßgestellt. Tammany Hall war eine korrupte Vereinigung, die heute sicherlich als kriminelle Vereinigung in den Bereich des organisierten Verbrechens eingestuft würde. Stimmen werden nicht nur gekauft, sie werden mehrfach gezählt, potentielle Wähler werden gezwungen, ihre Stimmen mehrmals abzugeben, die Polizei wird bestochen usw. Scorsese führt drei Gruppen vor: die irischen Einwanderer, die „Natives“ und die begüterte New Yorker High Society. Alle zeichnen sich durch Korruption, Gewaltanwendung, sei es direkt, sei es indirekt über Polizei oder ethnische Gruppen, aus.

Scorsese macht dies an den drei Personen – Bill the Butcher, Amsterdam und William „Boss“ Tweed – mehr als deutlich. Bill reagiert in der Hauptsache mit Gewalt und Angst, mit dem Fleischermesser, den Knüppeln, den Fleischerbeilen wird für „Ordnung“, das heißt für den Erhalt der Macht in Five Points gesorgt. Er lehrt Amsterdam an einem hängenden Schwein, wie man einen Mann schnell tötet. Bill, mit hohem Zylinder, einem Glasauge und enormen Schnauzbart, ist ein furchterregender Mann, und Tweed hat über Jahre hinweg mit ihm ein taktisches Übereinkommen, um sich Wählerstimmen zu sichern. Day-Lewis spielt diesen Bill in grandioser Art und Weise, mit einer Portion (Galgen-)Humor hier, dem Funkeln in seinem Auge als Ausdruck des absoluten Machtanspruchs dort.

Scorsese zeigt aber auch, welche Folgen das Regiment der unkontrollierten Gewalt in Five Points hat: in der Person von Amsterdam, der letztlich nur Rache will, gleichzeitig jedoch von der Gerissenheit und Intelligenz Bills fasziniert ist. Er kann Jenny nicht folgen, als die Five Points verlassen will. Er muss sich „reinigen“, indem er Bill tötet.

Die Grundaussage des Films ist klar und wird deutlich und nachvollziehbar geschildert: Amerika ist nicht nur in den Straßen entstanden. Die Gewalt, eine maßlose, fast grenzenlose Gewalt  unzähliger in Gangs organisierter ethnischer, religiöser, politisch motivierter Gruppen hat zwischen 1776 und 1865 – übrigens nicht nur in New York, sondern mehr oder weniger auch in allen anderen Großstädten  – um die Macht gekämpft. Der Bürgerkrieg blutet auch die New Yorker Armen noch zusätzlich aus, weil immer mehr Soldaten 1863 von Regierungsbeamten rekrutiert werden, was u.a. zum Aufstand führt. Es gibt andererseits in diesen Situationen kein Zentrum der Macht, keine Zentralgewalt, die wirklich höchste und zugleich demokratisch kontrollierbare Macht sein könnte. Bis 1910 ziehen sich noch Bandenkriege hin, und sie sind das Bindeglied zu einer anderen Entwicklung: der Entstehung mafiöser Strukturen im Zuge der Prohibition ab 1920.

Hier liegt die Logik in Scorseses filmischem Werk. Die übliche Gegenüberstellung von Zivilisation und Barbarei wird einer gnadenlosen Kritik unterzogen. Five Points wirkt nicht nur wie, es ist die Hölle auf Erden. Selbst die verschiedenen Feuerwehren sehen ihre Aufgabe nicht in erster Linie im Löschen von Bränden, sondern im Streit und Krieg darum, wer löschen darf. Einziger Gegenpol zu diesem brutalen Schmelztiegel (Scorsese verzichtet übrigens bewusst darauf, das Töten direkt zu zeigen) ist die langsam sich anbahnende Liebesgeschichte zwischen Amsterdam und Jenny Everdeane, einer Frau, die zunächst darauf bedacht ist, in dieser Hölle unabhängig zu existieren und niemanden an sich heran lässt. Die Bekanntschaft mit Amsterdam regt in ihr Zuneigung, weil Amsterdam sich zwar von Rache gegenüber Bill leiten lässt, andererseits aber zeigt er auch Mitgefühl gegenüber anderen.

Das Inferno der Bandenkriege, der Korruption, des Elends, der Gewalt löst sich erst auf, als die reichen Mächtigen der Stadt sich entschließen, dem ein Ende zu setzen. Doch dies darf man nicht verwechseln mit dem Sieg der Guten über die Bösen, der Demokratie über die Barbarei. Korruption und Gewalt bekommen lediglich eine legale Form, und die Schlussfolgerung, dass dieses Amerika nur 50 Jahre später in den mafiösen Strukturen der Prohibitionszeit in anderer Form weiter existiert, was auf die Tradition des gewalttätigen 19. Jahrhunderts zurückgeht, ist kaum von der Hand zu weisen.

Das zweite Sehen eines Films offenbart dann neue Gesichtspunkte und Einblicke, wenn ein Film wirklich etwas zu sagen hat. Ich habe die Originalversion von „Gangs of New York“ – beileibe nicht nur wegen der englischsprachigen Fassung – in mich regelrecht aufgesogen und den Eindruck gewonnen, dass dieses große Meisterwerk bei jedem Sehen neue Türen öffnet und zusehends emotionalisiert. Scorsese hat übrigens in einem Interview darauf hingewiesen, dass die Kino-Version des Films die endgültige Fassung sei; es gebe keinen (längeren) Director's Cut.

Die Werbezeile für „Gangs“, Amerika sei in den Straßen entstanden, bezieht sich – entgegen aller voreiligen Schlüsse – nicht einseitig auf den Krieg von Banden. Scorsese entwickelt den Kontrapunkt zu dieser Brutalität – die Liebesgeschichte zwischen Amsterdam und Jenny Everdeane und die damit verbundene Sehnsucht bzw. das Gespür der beiden Figuren nach einer sozial gerechten und emotional verbindenden Konstituierung von Gesellschaft (also Demokratie und Gerechtigkeit, Liebe, Behutsamkeit und Zärtlichkeit, nicht nur bezogen auf ein Paar) – parallel zur Zuspitzung der Bandenkonflikte.

Man kann dem Film den Vorwurf machen, dass sich Scorsese nicht immer an die historischen Fakten hält, etwa in bezug auf die Figur des William Cutting oder den historisch fragwürdigen, im Film gezeigten Einsatz von Kanonenbooten gegen die Aufständischen, die sich der Einberufung widersetzen. Peanuts. Entscheidend ist die Archäologie der Bilder, das prall gefüllte Bild einer sozialen Szenerie, in der die feinen Unterschiede zwischen den Banden (hier einerseits der von Cutting geführten „Natives“, andererseits der irischen „Dead Rabbits“ und zum Dritten der feinen Bande der Tammany-Begüterten) ebenso heraus zu destillieren sind wie ihre Gemeinsamkeiten.

Bereits die Eingangssequenz – Scorsese verzichtet völlig auf einen Vorspann – wirft den Betrachter „gnadenlos“ in diese kaum intensiver darzustellende Szenerie. Die irischen Einwanderer kamen aus existentieller Not. Die Hungersnöte in Irland, vor allem The Great Famine, brachte ca. einer Million Iren den Tod. Etwa eine weitere Million wanderte aus, unter großen Entbehrungen, vor allem nach Amerika. Die Organisierung der einwandernden Iren in Banden war hier also vor allem Selbstschutz gegenüber den Angriffen der so genannten „Natives“, die die katholischen „Hungerleider“ bis aufs Messer bekämpften. Wiederum anders orientiert waren die Banden der begüterten New Yorker, die sich als feine und pseudolegale Spitzen der Gesellschaft u.a. in Tammany Hall unter „Tweed“ organisiert hatten und v.a. die „leisen“ Mechanismen der Korruption pflegten. In einer Szene des Films wird deren Strategie besonders drastisch sichtbar: Bei Wahlen gehe es nicht um die abgegebenen Stimmen, sondern um die gezählten, soll heißen: man zählt einfach mehr Stimmen für den eigenen Kandidaten, als abgegeben wurden.

Innerhalb dieser Szenerie entwickelt Scorsese nicht nur eine Art „Durchbruch“ der Liebe. Am Schluss bleiben Amsterdam und Jenny als Protagonisten eines zwar nicht „ganz anderen“, aber doch modifizierten Amerika, einer Gesellschaft, in der die Gruppenverbundenheit und der Individualismus in einer letztlich nicht geklärten, aber in Ansätzen vorhandenen Kombination  als möglicher Keim einer demokratischen Gesellschaft übrig bleiben. Die Väter liegen erst im Tod friedlich nebeneinander. Am Horizont lässt Scorsese die Skyline von Manhattan in die Gegenwart – mit den Twin Towers – „hinüberwachsen“.

Die Konzeption des archaisch anmutenden, aber dennoch der Zivilisation inhärenten Modells der Bandenkriege als Vorstufe einer befriedeten Gesellschaft, die nur deshalb befriedet werden konnte, weil die Gewalt einer sich herausbildenden zentralen staatlichen Macht im Besitz der Begüterten einen Schlussstrich ziehen musste, um Konsistenz und Kohärenz der Sozialstruktur zu gewährleisten (der Aufstand gegen die Einberufung zur Armee während des Bürgerkrieges wird niedergeschlagen), diese Konzeption hat nur begrenzte zeitliche Dauer, weil alles andere in die Vernichtung geführt hätte. Trotzdem – und ohne dass Scorsese hier direkt Bezüge vermittelt – tradiert sich die Erinnerung an die Bandenkriege nur Jahrzehnte später in der Mafia, die über ihre eigenen Interessen (ebenso verpackt in ein Mäntelchen von Ehrbegriffen und Familiensinn) hinaus keine politischen oder sozialkonstituierenden Bedürfnisse kennt und kennen kann. Die Prohibition lässt die Geister von einst in einem neuen, anderen Licht wieder auferstehen. Und auf Scorseses Gesamtwerk bezogen ergibt sich hier eine Kontinuität, die erschreckend und staunenswert zugleich ist.

Eng verbunden damit ist der Blick Scorseses auf „die Stadt“, die Stadt nicht als bloße Zusammenballung von Menschen, sondern als soziale Größe, in der die Widersprüche der historischen Entwicklung, die Symbolik, die für Schuld, Sühne, Reinigung im Schmelztiegel New York am Reinsten sichtbar wird.

Das Sittengemälde, das Scorsese hier zeichnet, wirkt nie plakativ. Die opulenten Bilder der Hölle des Lebens in Five Points zeigen eine erschreckend lebendige Gesellschaftsstruktur, die zu einem besseren Verständnis der amerikanischen Geschichte sicherlich beitragen kann. Scorsese gelingt es, die Funktionsweise dieser Lebensweise zwischen amerikanischer Unabhängigkeit und dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts vor allem über die Charaktere seiner Geschichte glaubhaft zu dokumentieren.

Der enorme Aufwand, der für diesen Film betrieben wurde, hat sich meinem Eindruck nach vollauf gelohnt.

Epilog:

„Oh my love
It's a long way we've come
From the freckled hills to the steel and glass canyons
From the stony fields, to hanging steel from the sky
From digging in our pockets, for a reason not to say goodbye

These are the hands that built America
Russian, Sioux, Dutch, Hindu
Polish, Irish, German, Italian.“ [1]

Dass historische Gedächtnis ist oft ein Kurzzeitgedächtnis. Nach dem zweiten Weltkrieg und dem Holocaust bekam so mancher Fremde in Deutschland zu spüren, dass es die Jahre 1933 bis 1945 für viele Deutsche nicht zu geben schien. Man machte wieder Urlaub, im Land wo die Zitronen blühen, und schuf sich ein Wirtschaftswunder. Und ein Wunder brauchte man, um der Vergangenheit Herr zu werden, sprich: sie zu verdrängen oder zu verleugnen, wie es Margarete und Alexander Mitscherlich Ende der 60er Jahre in ihrem Buch „Die Unfähigkeit zu trauern“ so drastisch schilderten.

Auch die amerikanische Geschichte ist von solchen Ausblendungen reich. Und der allzu gerne gepflegte Leitsatz: „Amerika bedeutet Zivilisation auf höchstem Niveau, woanders herrscht Barbarei“ überzieht die jüngste Vergangenheit bis in die letzten Winkel der Erde. In seinem epochalen Film „Gangs of New York“ zieht Martin Scorsese, wie schon in früheren Filmen, gegen diese Verblendung zu Felde. Scorsese schildert – unter erheblichem Aufwand an Ausstattung, Kulissen (ein ganzer Stadtteil wurde in Cinecitta in Rom nach Beschreibungen, Zeichnungen und Fotos bis in alle Einzelheiten unter Leitung von Dante Ferretti rekonstruiert), Kostümen –, wie ab Mitte des 19. Jahrhunderts ein ganz anderes New York sich entwickelte, als es die meisten und vor allem die Amerikaner selbst heute kennen. Im Zentrum stehen die Five Points, eine Kreuzung von fünf Straßen im Süden New Yorks, zwischen Canal Street, Chinatown und dem heutigen Financial District. Dort führt Bill the Butcher (Daniel Day-Lewis) einen Krieg gegen die verhassten irischen Einwanderer, die katholischen Hungerleider, die zu Zehntausenden nach der großen Hungersnot, The Great Famine, in Irland ihre letzten Habseligkeiten zusammenrafften und unter extremen Strapazen in Amerika auf ein neues Leben hofften.

„I last saw your face in a watercolour sky
As sea birds argued a long goodbye
I took your kiss on the spray of the new line star
You gotta live with your dreams
Don't make them so hard

And these are the hands that built America
These are the hands that built America
The Irish, the Blacks, the Chinese, the Jews
Korean, Hispanic, Muslim, Indian.“ [1]

Scorsese schildert aber nicht nur die Geschichte der Rivalität und Rache. Er zeigt ein New York in vielen Einzelheiten, den sozialen Lebensumständen, so weit sie rekonstruiert werden konnten, ein Milieu, in dem Korruption, Gewalt, Armut, Bandendiktatur und Intrige die Macht konstituieren, und nicht irgendeine demokratisch gewählte und kontrollierte Regierung. Einziger Kontrapunkt in diesem düsteren Spiel scheint die Liebe zwischen Jenny und Amsterdam.

Scorsese räumt auf mit der Unterscheidung von Zivilisation und Barbarei. An den Five Points ist kein Unterschied zwischen beiden sichtbar. Die Diktatur der verschiedenen Interessengruppen balanciert sich aus durch Gewalt und geschicktes Taktieren. Erst als die Reichen der Stadt den Überblick verlieren und selbst Opfer der wütenden Gegner der Einberufung zum Bürgerkrieg werden, lassen sie durch die Zentralregierung den Aufstand niederschlagen. Doch das Ende der Bandenkriege ist nicht der Anfang der Demokratie. Der Tod Bills ist nicht das Ende von Gewalt und Korruption.

Ich will es dabei belassen, da ein ausführlicher Bericht von mir und ausgezeichnete Berichte von anderen zum Film schon lange vorliegen.

„Of all of the promises
Is this one we can keep?
Of all of the dreams
Is this one still out of reach?

Its early fall
There's a cloud on the New York skyline
Innocence dragged across a yellow line
These are the hands that built America
These are the hands that built America.“ [1]



Aviator
(The Aviator)
USA 2004, 170 Minuten
Regie: Martin Scorsese

Drehbuch: John Logan
Musik: Howard Shore
Director of Photography: Robert Richardson
Montage: Thelma Schoonmaker
Produktionsdesign: Dante Ferretti

Darsteller: Leonardo di Caprio (Howard Hughes), Cate Blanchett (Katherine Hepburn), Kate Beckinsale (Ava Gardner), John C. Reilly (Noah Dietrich), Alec Baldwin (Juan Trippe), Alan Alda (Senator Ralph Owen Brewster), Ian Holm (Prof. Fitz), Danny Huston (Jack Frye), Gwen Stefani (Jean Harlow), Jude Law (Errol Flynn), Adam Scott (Johnny Meyer), Kelli Garner (Faith Domergue), Frances Conroy (Mrs. Hepburn)

Der Überflieger

„He owns Pan-Am. He owns
Commerce. But he does not own the sky.”
(Hughes über Pan-Am-Chef Trippe)

Als Howard Hughes 1976 – ausgerechnet – in einem Flugzeug an Nierenversagen starb, war er bereits eine amerikanische Legende. Der 1905 in Houston geborene Hughes erbte von seinem Vater, der ein Monopol auf Erdöl-Bohrköpfe hatte, ein Vermögen, das er zeit seines Lebens immer wieder in waghalsige Projekte steckte. Hughes war wohl das, was man einen rastlosen Menschen nennen könnte – jedenfalls bis Mitte der 50er Jahre, als er sich immer mehr aus der Öffentlichkeit zurückzog und ein einsames Dasein bis zum seinem Tod fristete.

Wenn sich ein Regisseur wie Martin Scorsese einer solchen Person annimmt, kann man darauf schwören, dass er wieder einmal amerikanische Geschichte schreibt – gegen den Trend der Zeit und gegen die historischen und aktuellen Mythen, die in Amerika weit verbreitet sind und werden. Nicht zum ersten Mal nimmt sich Scorsese einer Person an, die man in gewissem Sinn als Außenseiter bezeichnen könnte. In „Taxi Driver” war es der Ex-Vietnam-Soldat Travis Bickle, in „Raging Bull” der Boxer Jake La Motta, in „Die letzte Versuchung Christi” eine Jesus-Darstellung, in der er die Zerrissenheit der Figur zwischen Gottes Sohn und Mensch zum durchgängigen Thema des Films machte. In „Goodfellas” desavouierte Scorsese den Ehrenkodex der Mafia als elementaren Bestandteil der amerikanischen Gesellschaft. Und in „Gangs of New York” entzauberte der (für mich schon seit einigen Jahren beste) Regisseur aus den USA den Gründungsmythos der Vereinigten Staaten.

„The Aviator”, der Flieger, kann dabei durchaus doppeldeutig verstanden werden. Hughes war das, was man getrost als ein sich selbst überzeichnendes Sinnbild für den viel beschworenen amerikanischen Individualismus nennen kann, ohne dass dies Hughes selbst bewusst gewesen sein mag. Hughes ging – gegen jeglichen Widerstand – imposant, manchmal erschreckend, zumeist jedoch nur Staunen hervorrufend seinen ganz persönlichen Weg durch ein Stück amerikanischer Geschichte, das er selbst und das ihn selbst prägte. Hughes war Flieger und im übertragenen Sinn: ein „Überflieger”.

Der Film umspannt die Zeit zwischen den Drehaufnahmen zu Hughes Film „Hell’s Angels” (1930) bis zu seinem legendären Flug mit der „Spruce Goose”, einer 8-Propeller-Maschine, mit der er immerhin zwei Kilometer in Long Beach in der Luft blieb.

Als Erbe eines Millionenvermögens will Hughes hoch hinaus. Flugzeuge und (Selbst-)Fliegen sind von Anfang an sein Traum und sein Schicksal. Für ein bis dahin in der amerikanischen Filmgeschichte einmaliges Projekt – ein Kriegsfilm, in dem Kampfflugzeuge die Hauptrolle spielen – benötigt Hughes 26 Kameras und drei Jahre, um den Film, der zunächst noch als Stummfilm geplant war, dann als Tonfilm herauszubringen. Später folgen Filme wie „Scarface” (1932) und „The Outlaw” (1940), die ihm Schwierigkeiten mit der Zensurbehörde der amerikanischen Filmindustrie einbringen, u.a. weil er nach Meinung der Zensoren Jane Russells Oberweite allzu deutlich in das Zentrum des Geschehens rückt.

Doch Hughes will mehr. In Burbank bei Los Angeles entwickelt er seine eigenen Flugzeuge, mit denen er – immer wieder durch Misserfolge unterbrochen – Geschwindigkeitsrekorde aufstellt, etwa 1935, als er einen Rekord von 567 km/h erreicht, oder 1938, als er die Welt in einer nie vorher erreichten Zeit umrundet. 1939 übernimmt Hughes die Fluglinie der „Transcontinental and Western Airlines” (TWA) und konkurriert die nächsten Jahre mit der allmächtig scheinenden Pan-Am und ihrem Chef Juan Trippe (im Film Alec Baldwin) und dem von ihm abhängigen Senator Brewster (Alan Alda), der Trippe durch ein Gesetz das Monopol auf Flüge zwischen Amerika und Europa verschafft. Pan-Am wie TWA haben die ersten Flugzeuge entwickelt, die solche Interkontinentalflüge möglich machen.

Kriegsaufträge, für die Hughes Steuergelder erhielt, konnte der Magnat bis Ende des Krieges nicht fertigstellen. Unter anderem dies war für Brewster und Trippe Anlass, eine Senatsanhörung nach dem zweiten Weltkrieg gegen Hughes zu inszenieren, in der dem exzentrischen Hughes der Garaus gemacht werden sollte. Doch Hughes weiß sich zu wehren ...

Scorsese zeichnet – in visuell und technisch überragender Weise – (wie schon in „Gangs of New York” für ein Stück amerikanischer Geschichte des 19. Jahrhunderts) ein exzellentes Bild der Zeit Amerikas in den 30er und 40er Jahren. In erstaunlich wirkungsvollen v.a. Braun- und Türkistönen bewegt sich „Aviator” kontinuierlich zwischen Realität, Show, Glamour, Aufstieg und Fall eines Mannes, der zu den außergewöhnlichsten Gestalten dieser Jahre zählt. Fliegen und Flugzeuge sind für Hughes, der in überzeugender Weise von einem in jeder Hinsicht begabten und die Rolle füllenden Leonardo di Caprio verkörpert wird, Traum, Wirklichkeit, Besessenheit und Fetisch zugleich. Fliegen heißt für ihn Grenzen überschreiten, ist Befriedigung und Lebenszweck zugleich. Di Caprios Hughes will alle Grenzen überschreiten. In einem langsam, aber kontinuierlich zur Weltmacht aufsteigenden Amerika, das endlich die Chance sieht, nach der Weltwirtschaftskrise den Traum vom weltumspannenden US-Kapitalismus Wirklichkeit werden zu lassen, ist Hughes selbst zweierlei: Kind dieses Traums wie Außenseiter, „Täter” wie „Opfer”.

Sein Vermögen allein ermöglicht Hughes, überhaupt an die Realisierung seiner Träume auch nur zu denken, die als überbordende Ergebnisse des American way of life doch zugleich wie eine ernst zu nehmende Karikatur wirken. Hughes ist Einzelgänger, aber er kann es nur sein vor dem Background dieses Amerika. Die Show – vor allem repräsentiert durch das Hollywood des Tonfilms – verbindet sich bei Hughes, der öffentlichem Rummel eher abgeneigt ist, mit seinen Projekten zu einem merkwürdigen Amalgam im öffentlichen Raum, den er zeitweise völlig zu beherrschen scheint. Geld interessiert ihn nur als Mittel zum Zweck, hat nie Selbstzweck. Auf eine überzeugende Art vermittelt Scorsese, wie ein Mann, der inmitten dieses aufstrebenden Amerika Größe erreicht, doch zugleich – unbewusst – an den Tragflächen dieses Jumbo Amerika nagt – indem er sich so verhält, wie es die Ideologie „vorschreibt”. Nicht das Geld heckende Geld, der Gewinn, steht für Hughes im Zentrum seines maßlosen und scheinbar nicht zu bändigenden Strebens, sondern das „Etwas-Außergewöhnliches-Schaffen” treibt ihn von Film zu Film, von Flugzeug zu Flugzeug.

Scorsese und sein Drehbuchautor John Logan haben mit „Aviator” nicht irgendeinen „Erfinder”-Film produziert. Im Zentrum von „Aviator” steht Hughes bis zur Selbstzerfleischung betriebener Individualismus und (!) das Auf und Ab von Aufstieg und Fall dieses Mannes – bis hin zu seiner Selbstzerstörung, die zum guten Teil Zerstörung auch durch andere war. Scorsese begreift diesen Dualismus von Aufstieg und Fall, von Erfolg und Misserfolg, von (finanziellem) Reichtum und (menschlicher) Armut – wenn man genau hin schaut und seine anderen Filme kennt – als Strukturmerkmal eines skrupellosen Organisationsprinzips von Gesellschaft. Es gelingt ihm jedoch – auch wegen des am Stoff „fanatisch” interessierten Hauptdarstellers, der neben Michael Mann und anderen selbst zu den Produzenten gehört – dieses Lebensprinzip einer Gesellschaft an einem Mann zu demonstrieren, der letztlich immer wieder gegen es angeht, weil er sein Streben für ein ausschließlich individuelles hält, und andere davon begeistern kann, was er tut. Das gesellschaftlich Vermittelte seines Handelns kommt Hughes nie zu Bewusstsein.

Di Caprios Hughes ist dabei durchaus auch ein Stück Biografie von di Caprio und Scorsese selbst. Während di Caprio – jetzt allerdings seit einiger Zeit erfolgreich – gegen das Titanic-Image anzukämpfen weiß (und dass hatte er in Spielbergs „Catch Me If You Can” bereits bewiesen), musste Scorsese fast bei jedem seiner Filme um Publikumsgunst und Anerkennung kämpfen. „Gangs of New York” blieb der verdiente Erfolg in den USA versagt.

Ein Film über Hughes wäre unvollständig, bruchstückhaft, wenn da nicht zwei weitere wesentliche Momente seines Lebens visualisiert würden: sein Verhältnis zu Frauen und seine Krankheiten. Hughes zählte Berühmtheiten wie Bette Davis, Katherine Hepburn, Lana Turner, Ava Gardner, Faith Domergue, Jean Harlow und Jane Russell nicht nur zu seinen Bekannten. Im Film greift Scorsese vor allem die Beziehungen zu Hepburn (Cate Blanchett) und Ava Gardner (Kate Beckinsale) heraus. Dabei versucht Cate Blanchett erst gar nicht, eine 1:1-Abbildung der Hepburn zu spielen. Ihre Darstellung der Hepburn setzt eigene Maßstäbe. Alles andere wäre auch kläglich zum Scheitern verurteilt gewesen. Manch einer wird diese Darstellung überhaupt nicht mögen. Denn die Blanchett kreiert eine „neue” Figur, eine Frau, deren Eigenständigkeit, deren Humor, aber auch Sarkasmus bis hin zum Zynismus, deren Verständnis für Hughes und deren Gründe für die Trennung von ihm einen homogenen, voll „ausgebildeten” Charakter im Film schafft – für mich eine blendende Darstellung. Nicht ganz daran heran kommt Kate Beckinsale, was aber auch daran liegen mag, dass ihre Auftritte im Film als Ava Gardner rarer gesät sind.

Hughes Krankheiten: Sie beginnen mit der „Warnung” seiner Mutter in frühester Kindheit, sich von Mikroben fernzuhalten. Folge ist so etwas wie ein Wasch- und Sauberkeitszwang. Hinzu kommt eine panische Angst vor Krankheit, ausgelöst zusätzlich durch eine Lähmung im Alter von 13 Jahren. Später, in seinen letzten Lebensjahren nach seinem Rückzug in ein Hotel, in dem nur ein paar Mormonen Kontakt zu ihm haben durften, kamen Medikamentenabhängigkeit, Psychose, tertiäre Syphilis und schließlich körperliche und seelische Verwahrlosung hinzu.

Scorsese gelingt – obwohl er das Ende von Hughes, die letzten zwei Jahrzehnte seines Lebens ausspart – also etwas Doppeltes: Er zeigt die Biografie eines Mannes, den viele exzentrisch nennen würden, in Parallelität einer Gesellschaft, die niemand exzentrisch nennen würde. Indem er dies tut, enthüllt er die Strukturmerkmale einer Gesellschaft, die den krank machen muss, der ihre Ideologie ernst, für bare Münze nimmt, nicht weil er sich dessen bewusst ist, sondern weil er einem Trieb folgt, dessen Ursache er selber nicht kennt. Auch Hughes Verhältnis zu Frauen mag man als flüchtig, objektbestimmt, ausnutzend betrachten. Aber welchen Frauentypus suchte Hughes?

Fliegen war für Hughes die Sehnsucht nach dem Unerreichbaren, das er erreichbar machen wollte (er ahnte nicht, wie später vieles von dem gelingen sollte, was er anstrebte), das Flugzeug (technischer) Inbegriff all dessen, was erreicht werden konnte. In den „starken” Frauen Hepburn und Gardner (der er nichts schenken, die er „nur” zum Essen einladen durfte, die seine Heiratsabsichten rundweg zurückwies) suchte Hughes Ebenbürtigkeit als solches. Er scheiterte.

Es ist diese technizistische und objektbestimmte Vermittlung der geheimsten Sehnsüchte (was „Liebe” wie „Erfolg” angeht), die Scorsese und Logan Knall auf Fall, ganz direkt zum roten Faden des Films gemacht haben: die Frage nach der Möglichkeit von Beziehung und deren Vermittlung in jeder Hinsicht. Die Herausbildung des Mythos Amerika, die Fassade nicht nur Hollywoods, sondern einer ganzen Gesellschaft und parallel dazu einer Konstitution von Gesellschaft, in der paradoxerweise gerade das viel beschworene Individuelle hinter ihren Fetischen und mythischen Teilstücken verloren gegangen ist, ist Thema dieser „Geschichtsstunde”, die jedoch nicht als Lehrstück, sondern als prall gefüllte Biografie daherkommt.

Zu den Höhepunkten des Films zählen für mich der mit enormen Aufwand gedrehte Absturz Hughes mit einem einer Flugzeuge, die ebenso beeindruckende Szenerie, in dem Hughes einen Geschwindigkeitsrekord bricht, eine Waschzwangszene in einem WC-Raum, Hughes gelungener Versuch mit der „Spruce Goose”, sein Aufenthalt in der Familie der Hepburn, seine Verteidigung vor dem Senatsausschuss – und vieles mehr, was hier nicht alles Erwähnung finden kann. Mit Robert Richardson („Kill Bill” I und II; „Bringing Out The Dead”) hinter der Kamera und Dante Ferretti („Cold Mountain”, „Gangs of New York”), der für das Produktionsdesign verantwortlich zeichnet, griff Scorsese nicht nur auf bewährte Leute zurück. Beide zauberten Bilder, die mir unvergesslich bleiben dürften.

Auch die Nebenrollen des Films sind gut besetzt. Alec Baldwin als eiskalter Pan-Am-Chef, Alan Alda als intriganter und zynischer Senator, John C. Reilly als Hughes immer besorgter Finanzberater und Ian Holm als von Hughes angeheuerter, ängstlicher Meteorologe runden ein „Sittengemälde” ab, das zu den besten zählt, die Scorsese je gefilmt hat.

Es bleibt dabei: Martin Scorsese setzt seine ureigene Geschichtsschreibung Amerikas fort – und er steht dabei momentan jedenfalls relativ allein auf weiter Flur. Umso wichtiger ist dieser Film in einer Zeit, in der ein tief gespaltenes Amerika weitere vier Jahre von einem Präsidenten geführt wird, der eine diametral entgegengesetzte Geschichtsauffassung vertritt.



Bringing Out the Dead
(Bringing Out the Dead - Nächte der Erinnerung)
USA 1999, 121 Minuten (DVD: 116 Minuten)
Regie: Martin Scorsese

Drehbuch: Paul Schrader, nach dem Roman von Joe Connelly
Musik: Sam Andrew, Neil Diamond, Mick Jones, Flea, Pete Townsend, Van Morrison u.a.
Director of Photography: Robert Richardson
Montage: Thelma Schoonmaker
Produktionsdesign: Dante Ferretti

Darsteller: Nicolas Cage (Frank Pierce), Patricia Arquette (Mary Burke), John Goodman (Larry Verber), Ving Rhames (Marcus), Tom Sizemore (Tom Wall), Marc Anthony (Noel), Mary Beth Hurt (Schwester Constance), Cliff Curtis (Cy Coates), Nestor Serrano (Dr. Hazmat), Aida Turturro (Schwester Crupp), Sonja Sohn (Kanita), Afemo Omilami (Griss), Cullen O. Johnson (Mr. Burke), John Heffernan (Mr. Oh)

„Open up the window and let me breathe“

„Now listen, Julie baby,
It ain’t natural for you to cry in the midnight.
It ain’t natural for you to cry way into midnight through,
Until the wee small hours long‚ fore the break of dawn,
...
More further‚ way than what you’re lookin’ for.
I see the way you jumped at me, Lord, from behind the door
And looked into my eyes.“ (1)

Es pulsiert, wie bei einem asthmatischen Anfall, einem Anfall, der jedoch kaum Pausen kennt. Ein permanenter Gang durch die innere Hölle, die sich im Außen spiegelt. New York. Vor Rudi Giulianis „Aufräumarbeiten“. An jeder Ecke Prostituierte, Dealer, Junkies, arme Schweine, Verrückte, white trash, black trash, trash in allen Farben und Größen. Das Herz der Stadt schlägt, unaufhörlich. New York ist Nacht, fast nur Nacht. Da ist nichts Reines, Erhebendes, Erhabenes, schon gar keine political correctness, keine pseudoliberale Grundstimmung, kein Herz für Tiere und schon gar nicht für Menschen. Da ist nur die Kehrseite der Medaille.

Scorsese schafft Licht, benutzt das künstliche Licht der Großstadt, um die Hölle zu zeigen, die nicht nur Hölle ist, nicht nur menschliche Tragödie. Die Lichter der Straßenbeleuchtung, der Türme, die in den Himmel ragen, der Autos, der Polizeisirenen. Es kracht und quietscht an allen Ecken und Enden, es schreit und lärmt. Man könnte vermuten, jeden Moment kreuze Travis Bickle, der Vietnam-Veteran aus „Taxi Driver“, um die Ecke, um den Schmutz zu sehen, in seinem Taxi weiterzufahren. Apocalpyse now. Aber diesmal ist es ein anderer, ein im Krankenhaus Gestrandeter, der nicht loskommt von seinem Job als Rettungssanitäter, der darauf wartet, dass sein Vorgesetzter endlich einen Grund findet, ihn zu entlassen, der jedoch immer wieder gebraucht wird, Nacht für Nacht, von Einsatz zu Einsatz. Frank Pierce (Nicolas Cage), hetzt durch die Nacht, durch die Stadt, von einem, der kurz davor ist zu kollabieren, zu einem Angeschossenen, von Junkie zu Junkie, von einem Gewaltopfer zum nächsten. Eine Geisterfahrt in Permanenz.

„You’re a little star struck innuendos
Inadequacies an’ foreign bodies,
And the sunlight shining through the crack in the window pane
Numbs my brain,
And the sunlight shining through the crack in the window pane
Numbs my brain, oh Lord.“

Pierce fährt, rast, hetzt – mit dem abgebrühten Larry (John Goodman), der seinen Realitätssinn nicht verloren hat, sich aber dennoch irgendwann krank meldet, weil er es nicht mehr erträgt und doch nicht so abgebrüht ist, wie es scheint; mit Marcus (Ving Rhames), ständig ein religiöses Wort auf den Lippen, weil er es nur mit Komik ertragen kann – und mit religiösen Erlösungsphantasien; oder mit Tom (Tom Sizemore), dem Ex-Soldaten, der sich ständig im Krieg glaubt, für den New York ein Schlachtfeld ist.

Nur Tote hat Pierce in letzter Zeit aufgesammelt. Vor allem eine junge Frau namens Rose (Cynthia Roman), die an einer Überdosis krepiert ist. Immer wieder erscheint ihm Rose – in den Gesichtern anderer Junkies, die er aus dem Rettungswagen sieht. „Warum hast du mich nicht gerettet, Frank?“ fragt sie ihn. Frank hat keine Antwort. Er sammelt zum vierten Mal hintereinander Mr. Oh (John Heffernan) auf – voll gekotzt, besoffen, stinkend. Larry wird schlecht. Aber Frank rast zum Krankenhaus, wo Griss (Afemo Omilami) Wache steht, damit kein Unbefugter ins Innere vordringen kann. Das Krankenhaus wird zum Mittelpunkt der ganzen Tragik der Metropole.

Auch Noel (Marc Anthony) ist dort Dauergast. Gefesselt liegt er auf einem Bett, weil er nach Dr. Hazmats (Nestor Serrano) Anweisung nichts trinken darf. In Noels Augen konzentriert sich diese ganze Tragik der Großstadt – ein Heimatloser, Streunender, Haltloser, der mit einem Baseballschläger Autos zertrümmert, der sich umbringen will, der Frank bittet, ihn ins Krankenhaus zu fahren und dort zu töten.

Ein anderer will sterben – phantasiert Frank. Mr. Burke (Cullen O. Johnson) ist umgefallen, liegt im Koma, muss regelmäßig wiederbelebt werden. Hängt an Schläuchen. Starrt Frank in dessen Phantasie an: „Lass mich“, sagt sein Blick. „Frank, lass mich gehen.“ Seine Tochter Mary (Patricia Arquette), die jahrelang zu ihrem Vater keinen Kontakt hatte, will, dass er lebt. „Jemandem das Leben retten, ist, wie sich verlieben“, sagt Frank im permanenten Alptraum seines Lebens. Etwas fasziniert ihn an Mary. Der traurige Blick einer Ex-Junkie? Ihre tiefen Gefühle? Ihre Verzweiflung?

Bei dem Dealer Cy (Cliff Curtis) besorgt sich Mary einen Trip. Frank will auch sie retten. Er schluckt auf Raten Cys aber ebenfalls eine Pille. Alpträume. Er zieht in seinem Trip Leute aus dem Asphalt der Straßen. Er, der Möchtegern-Erlöser, der Zeuge sein will, er, der „Putzlappen für Not und Schmutz“. Dann schleppt er Mary aus Cys Wohnung. Gerettet? Beim nächsten Einsatz – neben Tom am Steuer – zieht sich Frank die Sauerstoffmaske auf.

„The cool room, Lord is a fool’s room.
The cool room, Lord is a fool’s room.
And I can almost smell your t.b. sheets
And I can almost smell your t.b. sheets
On your sick bed.“

The cool room. Eine ganz Großstadt. A fool’s room. Eine ganze Großstadt. Frank will raus, aber er bleibt drin, er will weg, aber er fährt weiter zwischen Krankenhaus und nächstem Notfall.

„Bringing Out the Dead“ ist Scorseses vierte Zusammenarbeit mit Paul Schrader nach „Taxi Driver“, „Raging Bull“ und „The Last Temptation Of Christ“. Scorsese ist „Filmhistoriker“, ob er nun wie in „Aviator“, „Good Fellas“ oder „Gangs of New York“ Geschichte als Geschichten erzählt oder wie in „Taxi Driver“oder „Bringing Out the Dead“ die Metropole ins Zentrum seiner ihm eigenen Geschichtsschreibung stellt. Die Metropole wird zum Konzentrat amerikanischer Geschichte, in ihr sammelt sich, was ansonsten in amerikanischen Filmen kaum gezeigt wird. Und es sammelt sich als die andere Seite der Medaille – als Gegenstück zur Ideologie des Individualismus, des (vermeintlichen) Erfolgs, des Reichtums. Es sammelt sich, was „weg muss“, was „beseitigt“ gehört. Schaut man sich heute in Manhattan um, ist alles sauber. Der Besen Giulianis hat längst aufgeräumt. Nur ab und an sieht man einen des nachts vor dem Fenster einer Bank oder eines Kaufhauses schlafen, sich an der warmen Abluft wärmend. Manhattan ist sauber, in Haarlem kann man wieder spazieren gehen! Und doch wissen alle, das „das Problem“ nur örtlich verlagert wurde.

„Ha, so open up the window and let me breathe.
I said open up the window, shh shh shh shh shh and let me breathe.
I’m looking down to the street below, Lord, I cried for you,
Ha ha, I cried, I cried for you, ha ha. oh, Lord.“

Scorsese zeigt die Großstadt als Ort des Infernos, des Infernos der Zivilisation, aber eben auch als Stätte, in der der Ruf nach Erlösung – in welcher Form auch immer – stets präsent ist. Ob Noel, Mr. Burke, Mary oder Frank selbst: es schreit nach Erlösung, Befreiung. Doch dieser Ruf hat kaum etwas Religiöses, Abstraktes, Fernes. Er ist konkret, Ausdruck von Hilflosigkeit oder Verzweiflung. Und damit eben auch von Hoffnung, sich in dieser Welt dennoch zurecht zu finden. Frank erlöst: er lässt Mr. Burke sterben. Wenn er am Schluss mit Mary im Licht erstrahlt – beide liegen in Marys Wohnung im Bett –, dann scheint die ganze Last dieses Lebens aus beiden zu schwinden, dann scheinen Frank die Geister zu verlassen, die ihn verfolgen. Doch diese Szene ist kaum katholisch. Denn die Hoffnung ist trügerisch. Was wird geschehen?

Es geht (so) weiter und nicht. Frank bleibt Frank, aber ein bisschen verändert, in der Gewissheit des Sisyphos. Aber auch in der Gewissheit, dass Anklage und bitter sarkastische Kritik an diesen Zuständen, an diesen Zumutungen des Unzumutbaren und doch Realen nur eine Medaille des metropolitanen Dschungels ist. Frank wird sich aller Voraussicht nach eben nicht unterkriegen lassen.

In „Bringing Out the Dead“ schreibt Scorsese an unserer Kultur, schreibt einen Satz gegen das Vergessen des Zusammenhangs von Gegensätzen, gegen die Isolierung von Konflikten und Problemen mittels gedanklicher Isolation und praktischer Ausgrenzung von Personen. Robert Richardsons rasante Kamerafahrten durch die Stadt, die wir nur im künstlichen Licht sehen, die fesselnde Nähe seiner Bilder verleihen dieser Intention einen Intensität, die einen an den Film im wahrsten Sinn des Wortes fesselt.

(1) Van Morrison: T.B. Sheets, (1967), publiziert auf dem gleichnamigen Album, New York 1973.



Die Zeit nach Mitternacht
(After Hours)
USA 1985, 96 Minuten
Regie: Martin Scorsese

Drehbuch: Joseph Minion
Musik: Howard Shore
Director of Photography: Michael Ballhaus
Montage: Thelma Schoonmaker
Produktionsdesign: Jeffrey Townsend

Darsteller: Griffin Dunne (Paul Hackett, Programmierer), Rosanna Arquette (Marcy Franklin, Selbstmörderin), Verna Bloom (June, Clubbesitzerin), Tommy Chong (Pepe, Einbrecher), Linda Fiorentino (Kiki Bridges, Künstlerin), Teri Garr (Julie, Kellnerin), John Heard (Thomas „Tom“ Schorr, Barbesitzer), Cheech Marin (Neil, Einbrecher), Catherine O'Hara (Gail, Frau, die Eis ausfährt), Dick Miller (Pete, Kellner), Will Patton (Horst, Freund Kikis), Larry Block (Taxifahrer)

Running Man

„Was willst du von mir? Ich habe
doch nichts getan! Ich bin doch
nur ein harmloser Programmierer!“
(Paul zu Gott)

Wie in „Taxi Driver“ (1976) und „Bringing Out the Dead“ (1999) bildet die Stadt der Städte, New York, sozusagen als Urbild, als Prototyp der Stadt in Scorseses „After Hours“ aus dem Jahr 1985 den Ort des Geschehens. Und wiederum steht ein Mann im Zentrum der Handlung, der sich nicht zurecht findet – diesmal allerdings in einer zutiefst ironischen Geschichte, die dennoch aus ihrer klaustrophobischen und teilweise furchterregenden Grundstimmung kein Hehl macht. Fast könnte man „After Hours“ als Farce mit possenhaftem Einschlag titulieren, gesalzen mit der typischen Bissigkeit Scorseses in bezug auf die Moderne, die Geheimnisse, die verborgene, aber immer wieder zutage tretende Absurdität städtischen Lebens, die manchmal skurrilen, zumeist erschreckenden Regeln der modernen Zivilisation – und nicht zuletzt die visualisierten Ängste eines Mannes, der am Schluss eigentlich nur glauben kann, das Schicksal habe sich seiner bemächtigt.

Wie all diese Geschichten beginnt auch „After Hours“ – harmlos. Ein harmloser, fast von der Unschuld der Kindheit nicht verlassener Mann, ein einfacher Programmierer geht nach Hause. Dieser Paul Hackett (Griffin Dunne) – fast könnte man meinen, Scorsese meint sich hier selber (in einer Szene in einem Club sehen wir den Regisseur als Beleuchter) – wohnt allein. Die Dunkelheit der Stadt begleitet ihn und uns die nächsten Stunden respektive 96 Minuten des Films. In einem Coffee-Shop sehen wir Paul wieder, ein Buch vor dem Gesicht, einen Arm vor Langeweile aufgestützt. Es ist Marcy (Rosanna Arquette), die ihn aus dem Dösen reißt. Sie kennt und mag das Buch, sagt sie – irgendeines von Henry Miller. Man redet miteinander, Paul wirkt jetzt aufgeschlossen. Und Marcy gibt ihm die Telefonnummer einer Freundin, der Künstlerin Kiki (Linda Fiorentino), die Briefbeschwerer produziert. Vielleicht könne Paul mal vorbeikommen, um einen zu erwerben. Paul, der mehr an Marcy interessiert ist als an Briefbeschwerern, zögert nicht lange und ruft gleich von zu Hause aus bei Kiki an, fährt mit dem Taxi hin. Schon während dieser Fahrt scheint Paul das Unglück zu verfolgen: Die 20-Dollar-Note, das letzte Geld, das er dabei hat, fliegt Paul bei der äußerst rasanten Fahrt aus dem Fenster.

Alles weitere und alle weiteren Personen, die Paul in dieser Nacht trifft, bleiben für ihn und für uns (zunächst) im Halbdunkel, im Verborgenen:

– Kiki, die sich von Paul massieren lässt und dabei einschläft, nachdem sie Paul überredet hatte, an einer Skulptur zu arbeiten, einer menschlichen Figur in anscheinend verzweifelter Pose, an der er eine 20-Dollar-Note (seine???) wieder findet;

– Marcy, die ihm von einer sechsstündigen Vergewaltigung erzählt, von der sie allerdings kaum etwas mitbekommen habe, weil sie die meiste Zeit geschlafen habe, von ihrem Mann, der ständig, auch beim Sex, an den Film „Der Zauberer von Oz“ gedacht habe und beim Orgasmus „Ergib dich, Dorothy“ zu schreien pflegte, weswegen sie sich von ihm getrennt habe;

– die Brandsalbe, die Paul bei Marcy entdeckt und die ihn auf Wunden bei Marcy schließen lässt;

Das alles wird Paul zu viel. Diese merkwürdigen Geschichten von Marcy treiben ihn dazu, sich heimlich zu verpissen. Nichts wie nach Hause; doch die 96 Cent reichen nicht für die U-Bahn; die kostet nachts seit neuestem ein Dollar fünfzig.

Downtown Soho bei Nacht. Die Straßen sind leer. Die Straßenbeleuchtung ist schwach. Die Gegend ist nicht die beste in New York. Es kündigt sich an, dass Paul ein Gefangener der Nacht und des Viertels wird – er, der freundliche, hilfsbereite Programmierer. Es gießt in Strömen. Und nach Hause laufen – das kann er nicht, das ist zu weit, erst recht bei diesem Wetter. Thomas (John Heard), ein Barbesitzer, würde ihm gern das Geld für die U-Bahn geben, aber er hat den Schlüssel für seine Kasse zu Hause vergessen. Paul erklärt sich bereit, ihn zu holen. Immer weiter verstrickt sich Paul in die Angelegenheiten ihm fremder Menschen. Die Hausbewohner halten ihn, als er den Schlüssel holt, für einen der Einbrecher, die seit Wochen die Gegend unsicher machen und alles mögliche stehlen. Er kommt noch einmal davon, weil er den Schlüssel vorzeigen kann. Die Toilette in Thomas Wohnung ist verstopft und läuft über. Nicht nur das: er sieht die wirklichen Einbrecher, Pepe (Tommy Chong) und Neil (Cheech Marin), gerade, als sie die Skulptur von Kiki in ihren Wagen laden und daraufhin flüchten. Aber Kiki erzählt ihm, sie habe ihren Fernseher und die Skulptur an die beiden verkauft. Paul begreift die Welt nicht mehr. Als er dann auch noch Marcy tot in ihrem Zimmer findet, gerade dabei, sich bei ihr für sein Auf-und-Davon zu entschuldigen, diese Marcy, der er sich vorsichtig nähern wollte, die Schlaftabletten geschluckt hat, und Kiki und ihr Freund Horst (Will Patton) in den Club Berlin verzogen haben, glaubt er fast selbst nicht mehr daran, Downtown Soho jemals entfliehen zu können.

Es kommt noch schlimmer: Nicht nur, dass sich Julie (Teri Garr), die Kellnerin von Thomas, an ihn heranmachen will, eine Frau, die gekleidet ist wie in den 60ern, die Musik aus den 60ern hört und die ihr Bett mit Mausefallen umstellt hat – nein, auch eine andere Frau, Gail (Catherine O’Hara), macht ihm das Leben schwer, als er einen Bekannten anrufen will und sie ihm beim Wählen der Nummer aus lauter Spaß durcheinander bringt.

Und dann ist es soweit: Die Einwohner von Downtown Soho haben beschlossen, dass Paul einer der Einbrecher ist, die seit Wochen ihre Wohnungen ausrauben. Überall hängen schon gelbe Zettel mit Pauls Konterfei und der Aufforderung:

„Burglar!
Stop him!“

Die Nacht spuckt Paul nach Soho (das Taxi, dessen Fahrer wie ein Irrer durch die Straßen fegt) – am Schluss spuckt sie ihn wieder aus. „After Hours“ ist Komödie, aber nicht nur und sicherlich kein Horrorfilm, allerdings ein Horror-Trip. Die Gestalten, denen wir begegnen sind skurril, aber keine unrealistischen Figuren. Immer am Rande des Skurrilen hält Scorsese die Handlung jedoch stets im Realen einer Stadt, in der so etwas eben passiert – wenn vielleicht auch nicht in dieser Dichte der Verstrickungen, die Paul wie das Schicksal treffen. Wenn er in all seiner Verzweiflung Gott anruft und ihn fragt, womit er das alles verdient habe, erscheint er wie eine kafkaeske Figur, die die Zusammenhänge nicht versteht, nicht verstehen kann. Auch wir merken erst nach und nach, wie alles zusammenhängt: Thomas mit Marcy, die Einbrecher, die Einwohner, die sich zusammenschließen, um ihnen den Garaus zu machen. Alle kennen sich, nur Paul wird dies erst allmählich bewusst. Er ist in etwas hinein geraten, was er nie wollte, verstrickt, eingeschnitten in eine Gemeinschaft, die ihm jederzeit an den Kragen könnte, konfrontiert mit Menschen, die Paul für ihre eigenen Interessen benutzen: Julie, die ihn in ihr mit Mausefallen umstelltes Bett holen will; Gail, die Spaß haben will, auch mit Paul; Marcy, die Paul nur vollquatschen will; selbst June (Verna Bloom), die ihn im Club Berlin vor der ihn verfolgenden Meute versteckt, indem sie ihn als Skulptur verkleidet – wie die Skulptur von Kiki sieht er aus –, dann aber nicht wieder befreit, um ihn bei sich zu halten.

Wie ein „Running Man“ geht, läuft, flüchtet Paul durch Soho. Die Uhr läuft. Von halb elf bis zum Morgengrauen muss er dies überstehen, könnte man meinen; wie ein Programm, das unaufhaltsam abläuft, innerhalb dessen Paul „Aufgaben“ zu erfüllen hat: Marcy zuhören, Thomas den Kassenschlüssel holen, Julies Wünsche erfüllen, Gails Wünsche erfüllen, June dienen, der Meute entkommen ... Der Programmierer in einem Programm. Paul, immer in Gefahr, paranoid zu werden, entgeht dem Alptraum ausgerechnet durch die unfreiwillige Hilfe der Einbrecher.

Auch die Symbolik des Films korrespondiert mit der hart an der Realität erzählten alptraumhaften Farce. Michael Ballhaus Kamera kreist um Pauls Kopf, zeigt in Großaufnahme den Telefonhörer an seinem Ohr – Paul ruft Marcy an, die Paul unbewusste „Anmeldung“ zum „Spiel“ –, zeigt den 20-Dollar-Schein aus dem Taxi fliegen – kein Geld, kein Entkommen, er muss am „Spiel“ teilnehmen –, zeigt den Schlüssel, den Kiki aus dem Fenster wirft, auf Paul zufallend – die Eintrittskarte in das „Spiel“ –, zeigt Kikis Skulptur – Paul gefangen in Soho, im „Spiel“. Die Fäden für Paul sind geknüpft, und trotzdem ist das Spiel kein Spiel, sondern bitter-ironischer Ernst, ohne dass es jemand bewusst darauf angelegt hätte. Die Regeln der Stadt, des städtischen Lebens involvieren Paul, als ob die göttliche Vorsehung ihn auserkoren hätte.

Wir sehen einen fantastisch spielenden Griffin Dunne, und auch seine Partner, allen voran Rosanna Arquette, Teri Garr, Linda Fiorentino, John Heard und Verna Bloom, spielen das „Spiel“ wunderbar-erschreckend mit.