Sein und Haben
(Être et avoir)
(Original mit dt. Untertiteln)
Frankreich 2002, 104 Minuten
Regie: Nicolas Philibert

Director of Photography: Katell Dijan, Laurent Didier
Montage: Nicolas Philibert

Mitwirkende: Georges Lopez (Lehrer); und die Schüler Olivier, Laeticia, Jessie, Guillaume, Alizé, Axel, Jonathan, Jojo, Johann, Julien, Laura, Nathalie und Marie

Was wir sind und was wir haben

„Innerhalb von drei Tagen gehörten wir zum Mobiliar“, erläutert Regisseur Nicolas Philibert seine Ankunft in einer Schule in der Auvergne, in einem Dorf des Puy-de-Dôme, im Herzen des Livradois Forez, St. Ètienne sur Usson. Man hat den Kindern die Kameras, die Beleuchtung und alles, was zum Filmen dazugehört, gezeigt; sie durften damit hantieren, und so verloren sie schnell die Neugier an den vier Fremden, die da plötzlich in ihrem Dorf aufgetaucht waren und sich daran machten, sie und ihren Lehrer zu filmen. Ständig waren sie jetzt während des Unterrichts präsent (und natürlich beeinflusst dies dennoch das Verhalten der Kinder), gingen auch zu ihren Eltern nach Hause, die sich laut Philibert sofort einverstanden erklärt hatten, dass er ihre Kinder filmt. Nur der Lehrer, der 55jährige Georges Lopez, der nur noch eineinhalb Jahre arbeiten musste, bis zu seiner Pensionierung, wunderte sich etwas darüber, dass Philibert nicht einen jüngeren Lehrer gesucht hatte mit moderneren Erziehungs- und Lernmethoden. Aber er hatte überhaupt nichts gegen die Filmaufnahmen.

Philibert filmte eine der noch relativ zahlreich in Frankreich vorhandenen Dorfschulen, in die jeweils sämtliche Kinder vom Kindergartenalter bis zum letzten Jahr der Grundschule in einer Klasse vereint sind. So etwas gab es in Deutschland auch. Noch in den 80er Jahren diskutierte man in Baden-Württemberg beispielsweise über Erhalt oder Schließung dieser Zwergschulen. Ich glaube, inzwischen gibt es sie nicht mehr.

„Sein und Haben“ ist ein Dokumentarfilm, ein 104minütiger Ausschnitt aus dem Leben eines Lehrers, der seit 35 Jahren seinen Beruf ausübt und 20 Jahre lang in dieser Dorfschule tätig ist, und über seine Schüler, von der kleinen Alizé mit den blonden Zöpfen bis zur stillen Nathalie, die Probleme hat, mit anderen zu sprechen, vom blitzgescheiten Jojo bis zu Julien, der mehr für die Schule tun sollte, statt sich zu raufen, damit er auf dem Collège vorwärts kommt.

„Sein und Haben“ ist darüber hinaus aber auch so etwas wie ein Drama. Es zeigt den Werdegang von Kindern vom Eintritt in die Dorfschule bis zu ihrer Entlassung an das Collège, und in dieser Zeitspanne ihre Probleme, ihre Sorgen, ihre Kommunikation miteinander, ihre Gespräche mit dem Lehrer, ihre Konflikte, ihr Verhältnis zum Lernen, und vor allem ihre Entwicklung, ihr Verhältnis zu sich selbst.

Auf den ersten Blick ist Georges Lopez, dessen Eltern vor langer Zeit aus Spanien nach Frankreich einwanderten, ein Relikt von einem Lehrer, einer, der konservative Werte mit konservativen Methoden zu vermitteln scheint. Schnell ist dieser Schein aufgelöst. Seine Strenge, die immer präsent ist, ist nicht die eines autoritären Mannes, die von Über- und Unterordnung zeugt. Die Kinder sprechen ihn mit „Monsieur“ an. Die Achtung, die sie und ihre Eltern Lopez damit zollen, ist nicht die Achtung von unten nach oben. Es ist die Achtung, die Lopez Kindern und Eltern gegenüber auch erweist. Lopez ist ein enorm ruhiger, fast gelassener Lehrer, der nie aus der Haut zu fahren scheint, der eine Geduld an den Tag legt, die einen nur verblüffen kann. Seine Strenge repräsentiert ein enormes Einfühlungsvermögen, eine Sammlung an Erfahrungen in bezug auf Kinder und das, was in ihnen vorgeht. Lopez weiß, was auf seine Schüler später einmal zukommt. Er bereitet sie vor, aber noch viel mehr zeigt er ihnen, wie sie sich selbst auf ihr Leben vorbereiten sollten. Er zeigt ihnen in allem, was er tut, Wege, Alternativen und ihre Konsequenzen, in einer stoischen Ruhe, die fast unfassbar scheint.

Lopez „fasst“ die Kinder in ihrer Gänze. Er ist nicht nur einfach Lehrer. Er schlichtet Konflikte, bespricht ihre Sorgen, kümmert sich um jeden seiner Schüler individuell. Bei Lopez gibt es keinen Unterschied zwischen seinem Beruf und einem außerberuflichen Leben. Seine Tätigkeit ist sein Leben. Als sich zwei der älteren Schüler prügeln, stellt er sie zur Rede. Er ergründet die Ursachen des Streits. Einer der beiden hat seinen Frust am anderen ausgelassen. Lopez will wissen, was das Prügeln ändern soll. Mit Nathalie spricht er, auf den Stufen der Eingangstreppe sitzend, über ihr Problem. Nathalie spricht kaum. Sie ist intelligent, sehr sensibel. Sie kennt ihr Problem. In all diesen Situationen spürt man die tiefe Beziehung zwischen dem Lehrer und jedem einzelnen Schüler.

Man könnte sagen: Lopez vermittelt Werte. Aber wie macht er das? Er zeigt den Kindern in jeder Situation, ob beim Lernen des Buchstabens „m“, beim Streit, beim Saubermachen usw., dass sie Persönlichkeiten sind, und dass sie dies erkennen sollten, um als Personen in dieser Welt mit beiden Füßen auf dem Boden stehen zu können. Er zeigt ihnen zugleich, dass es noch andere Personen gibt, ihre Mitschüler. Wenn er gegen das Prügeln argumentiert, dann nicht aus einem hehren moralischen Standpunkt der Gewaltlosigkeit heraus, sondern entlang der konkreten Situation. Was bringt es Dir und was bringt es dem anderen? Nichts. Diese fast schon „einfache“ Art der Vermittlung von Wissen und Werten ist so aussagekräftig und überwältigend, dass es einem die Sprache verschlagen kann.

Der kleine Jojo, ein pfiffiger Kerl, soll sich nach dem Malen die Hände säubern. Er kehrt zurück zu Lopez und einige Finger sind noch schmutzig. Lopez schickt ihn zurück. Jojo mag eigentlich nicht, erzählt von einer Wespe, die im Gang herumschwirrt, will ablenken. Lopez bleibt konsequent, fragt Jojo, als der seine Finger zeigt, wie die Finger heißen. Alles ist Konsequenz und Lernen zugleich. Lopez führt seine Schüler zu sich selbst. Die äußere Strenge ist die Vermittlung von Disziplin und Konzentration im eigenen Interesse, aber nicht, ohne dass die Kinder das Spielerische ihres bisherigen Lebens vergessen sollen, im Gegenteil. Lopez fährt mit ihnen Schlitten, belässt ihnen ihre Ausgelassenheit, vermittelt ihnen zugleich aber auch die Einheit von Spielerischem und Lernen. Das Lernen der Buchstaben, der Zahlen, das Rechnen, Schreiben und Lesen verkommt in seiner Schule nicht zum äußeren Zwang, sondern überzeugt die Kinder von der inneren Notwendigkeit ihres Tuns. Das Leben ist bei Lopez permanente Verhandlung. Er verhandelt mit den Kindern, in Konflikten, beim Lernen, stets.

Dabei kommt der Humor bei Philiberts Dokumentation nicht zu kurz. Es ist köstlich anzusehen, wie die Kinder miteinander umgehen, wenn z.B. der eine der anderen ein Radiergummi wegnimmt und die kleine Alizé dann leise sich bei ihrer Nachbarin beschwert. Die Gesichter der Kinder sprechen Bände.

Philibert beschränkt sich auf das Zeigen, das Veranschaulichen. Lediglich ein kurzes Interview mit Lopez über seine Herkunft unterbricht den Lauf der Dinge.

Für mich einer der schönsten Dokumentarfilme der letzten Jahre. Ein beeindruckendes Bild aus einer Welt, die nicht von dieser Welt zu sein scheint, aber tief in ihr verankert ist, Gott sei Dank, jedoch kein nostalgischer Blick, kein „Ach-ja!“-Film, eine Welt, von der man sich mehr wünscht.

Wer sich über den Film näher informieren will, findet auf der Seite des Verleihers (Ventura-Film) eine 16seitige Presseinformation im PDF-Format, u.a. mit einem ausführlichen und aufschlussreichen Interview mit dem Regisseur.