Shutter Island USA 2010, 138 Minuten Regie: Martin Scorsese
Drehbuch: Laeta Kalogridis, nach dem Roman von Dennis Lehane Musik: Name June Paik: Hommage à John Cage; Philipp Vandré: Music for Marcel Duchamp; Orchestra of St. Lukes: Fog Tropes; Kammerchor der University of Berkeley: Rothko Chapel No. 2; Krzysztof Penderecki: Sinfonie Nr. 3; Brian Eno: Lizard Point; Lonnie Johnson; Kay Starr Director of Photography: Robert Richardson Montage: Thelma Schoonmaker Produktionsdesign: Dante Ferretti
Darsteller: Leonardo DiCaprio (Teddy Daniels), Mark Ruffalo (Chuck Aule), Ben Kingsley (Dr. Cawley), Max von Sydow (Dr. Naehring), Michelle Williams (Dolores), Emily Mortimer (Rachel 1), Patricia Clarkson (Rachel 2), Jackie Earle Haley (George Noyce), Ted Levine (Wachmann), John Carroll Lynch (McPherson, Wachmann), Elias Koteas (Laeddis)
Bis an die Grenzen ...
"Ist es besser, als ein Ungeheuer zu leben, oder als ein guter Mensch zu sterben?"
Von Beginn an. Düster. Klaustrophobisch. Die Enge nimmt zu. Diese Enge, die einem den Hals zuschnürt. Die einem vielleicht auch den Blick verstellt. Die einem auf der Seele liegt. Eine Fahrt im Nebel. Eine abgelegene Insel, Shutter Island, eine psychiatrische Anstalt für psychisch kranke Schwerverbrecher, das Ashecliffe Hospital. Entwaffnend.
Scorsese, dessen Filme ich (fast) alle liebe, überrascht mit "Shutter Island" – in mehrfacher Hinsicht. Der Plot: klassisch. Die Dramaturgie: klassisch, aber trotzdem ein typischer Scorsese. Die Bilder und twists der Geschichte: schon in einigen Filmen (vielleicht) gesehen. Die spannungsgeladenen Momente: Scorsese greift in die Filmgeschichte und bedient sich. Und trotzdem ist dieser Film ein geradezu typisch typischer Scorsese.
Die Geschichte beruht auf einem Erfolgsroman von Dennis Lehane – und der Regisseur hält sich eng an diesen Roman.
Marshall Teddy Daniels und sein Kollege Chuck Aule werden nach Shutter Island gerufen, weil dort eine Gefangene auf unerklärliche Weise verschwunden ist: die dreifache Kindesmörderin Rachel Solando. Aus ihrer verschlossenen Zelle hätte sie nicht entkommen können – eigentlich. Und wo ist sie hin? Die Insel ist nur über die Fähre erreichbar. Und diese Fähre wird vom Sicherheitspersonal des Ashecliffe Hospitals streng kontrolliert. Der Fluchtweg durch das Wasser, um das Festland zu erreichen, ist nicht diskutabel. Jeder würde ertrinken. Hat ihr jemand geholfen? Und wenn ja, warum?
Daniels und Aule, die ihre Waffen abgeben müssen, werden von Dr. Cawley empfangen. Der ruhig wirkende und freundliche Anstaltsarzt ist ihnen allerdings keine große Hilfe. Die Akte der verschwundenen Frau dürfen sie nicht einsehen. Und auch sonst mauert Cawley eher, als dass er den beiden US-Marshalls wirklich hilft. Daniels fragt sich auch, warum der Arzt, der Rachel Solando behandelt hatte, Dr. Sheehan, verschwunden ist.
Daniels wird zudem von eigenen Erinnerungen geplagt. Als Soldat war er an der Befreiung des KZ Dachau beteiligt gewesen. Und seine Frau Dolores war nach kurzer Ehe bei einem Brand umgekommen. Zudem nimmt Daniels an, dass der Brandstifter, Laeddis, irgendwo in einer Zelle des Ashecliffe Hospital untergebracht ist.
Daniels plagen Schuldgefühle. Er hatte vor dem gewaltsamen Tod seiner Frau zu viel gearbeitet und zu viel getrunken. Immer wieder hat er Visionen, Alpträume, sieht darin seine verstorbene Frau, die schrecklichen Momente im KZ Dachau, und immer öfter verschwimmen Realität und Phantasie.
Doch Daniels lässt sich nicht locker. Er will diesen Fall der verschwundenen Kindsmörderin lösen – auch wenn die Befragungen von Patienten, Ärzten und Pflegekräften ihn und Aule nicht viel weiterbringen. Als sie den deutschen Arzt Dr. Naehring kennen lernen, kommt Daniels ein weiterer Verdacht: Werden hier heimlich Experimente an Patienten durchgeführt? Das Hospital steht sowieso in diesem Verdacht; und es soll zum Teil aus zweifelhaften Quellen (Schmiergeldern) finanziert werden.
Als ein heftiger Sturm die Insel heimsucht, u.a. sämtliche Telefonleitungen lahm legt und die Anstalt von der Außenwelt abkapselt, beginnen Daniels und Aule, rätselhaften Hinweisen nachzugehen – etwa einem Zettel, der von 67 statt offiziell 66 Patienten ausgeht. Gibt es einen weiteren verschwundenen Patienten? Hält sich Rachel Solando vielleicht irgendwo versteckt auf der Insel auf? Verbirgt der Leuchtturm Geheimnisse, die das Rätsel auflösen könnten?
"Er hörte die Tränen in ihrer Stimme und wusste, sie hatte Tränen in den Augen und auf den Wangen, und er verabscheute, wie verkommen und obszön die Welt geworden war und alles in ihr."
Scorseses "Standard-Crew" – vor allem Dante Ferretti und Thelma Schoonmaker –, aber und besonders auch Robert Richardson hinter der Kamera zaubern eine düstere Atmosphäre, die an die besten Traditionen der Filmgeschichte nahtlos anknüpfen kann. Dass Scorsese dabei an alt bewährte Mittel anknüpft, stört mich nicht im geringsten. Denn hinzu kommt, dass die Art und Weise, wie er diese Geschichte erzählt, sich in diese Atmosphäre nahtlos einfügt.
Es mag sein, dass mancher, der den Roman nicht kennt, trotzdem schon bald ahnt, welche Lösung die Geschichte in sich birgt. Aber selbst wenn dem so sein sollte, bleibt "Shutter Island" ein visuelles und erzählerisches Ereignis auf höchstem Niveau.
Die Geschichte führt den Betrachter auf viele Fährten. Spuren werden überall gelegt, ziehen sich weiter durch die Handlung, verknüpfen sich mit anderen Spuren, verlieren sich hier und da. Wie ein Labyrinth entfaltet sich die Suche nach einer verschwundenen Frau. Wie ein Labyrinth ist auch das Hospital, durchzogen von Gängen, unterirdischen Zellen, Winkeln, nicht genutzten Räumen usw. Auch die Insel selbst, zerklüftet, birgt geheime Räume, Höhlen, einen alten Friedhof. Das Mysteriöse, Verschlungene verortet sich überall – in der Anlage der ehemaligen Festung, der Insel selbst, aber vor allem in den handelnden Personen. Niemand ist wirklich im Gleichgewicht oder identifizierbar. Die Unschärferelation zwischen den Personen ist enorm: Glaubt man, jemanden identifiziert, "dingfest" gemacht zu haben, erweist sich sofort jemand anders als unscharf, als "anders", als fremd.
Das gilt auch für Daniels selbst. Seine Alpträume, Tagesphantasien und Erinnerungen an existentiell belastende Erlebnisse treffen auf eine Realität, die er, je weiter er nach der verschwundenen Frau sucht, immer weniger fassen kann. Die psychischen Störungen der Insassen des Ashecliffe Hospital, die enorme Spannung zwischen "definiert normal" und "definiert krankhaft", scheinen auf die ganze Insel und alle, die sich dort befinden, übergegriffen zu haben. Kurz, es gibt nichts, an dem man sich festhalten könnte.
Die Haltepunkte jedenfalls sind variabel, relativ, bedingt. Und die Lösung des Rätsels selbst, die Scorsese am Ende bereit hält, ist auch nur eine relative. Denn gerade die allerletzte Szene des Films lässt wiederum einen Hauch von Zweifel aufkommen – Zweifel an einer wirklichen, handfesten, eindeutigen, sicheren "Lösung".
Ich würde noch weiter gehen. Shutter Island ist eine Art autopoietisches System, ein System also, das sich selbst erzeugt, in dem der Unterschied zwischen Erzeuger und Erzeugnis nicht besteht. Eine spezielle Form der Kommunikation, die sich von Kommunikationen anderer Art unterscheidet und abgrenzt, erzeugt das System, was Shutter Island ausmacht. Der spezifische Kommunikationskontext der Psychologie (hier auf dem Stand von 1954, dem Jahr, in dem "Shutter Island" spielt), der das Verhältnis von Patient und Arzt bestimmt, ist wesentlicher Bestandteil dieses Systems. Alle Fremdeinwirkungen auf diesen Kommunikationszusammenhang sind Störungen und werden ignoriert oder eliminiert. Jeder auf Shutter Island ist diesem Kommunikationskontext unterworfen – auf Gedeih und Verderb. Selbstverständlich ist Shutter Island nicht ohne Verbindung zur Außenwelt. Die Psychologie, die hier den Kontext entstehen lässt, ist nicht auf der Insel produziert worden. Doch die Entwicklung zu einem System ist tatsächlich autopoietisch. Oder wie Luhmann schrieb:
"Ein soziales System kommt zustande, wenn immer ein autopoietischer Kommunikationszusammenhang entsteht und sich durch Einschränkung der geeigneten Kommunikation gegen eine Umwelt abgrenzt. Soziale Systeme bestehen demnach nicht aus Menschen, auch nicht aus Handlungen, sondern aus Kommunikationen." (Niklas Luhmann: Ökologische Kommunikation, 1986, S. 269) "Autopoietische Systeme können ihre Strukturen nicht als Fertigprodukte aus ihrer Umwelt beziehen. Sie müssen sie durch eigene Operationen aufbauen und das erinnern – oder vergessen." (Niklas Luhmann: Soziologische Aufklärung 6. Die Soziologie und der Mensch, 2008).
In "Shutter Island" wird diese Idee jedoch weitergetrieben. Für Scorsese, behaupte ich einmal, steht dieses "System Shutter Island" (neben der historischen Einordnung des Romans im Jahr 1954, auch durch Lehane) für andere, letztlich für alle Systeme der menschlichen Gesellschaft. Denn entscheidend – nach Sicht des Films – ist die Frage: Wer ist das Monster? Die Unschärfe jeglicher Antwort auf diese Frage ergibt sich mir nach dem Film schlagartig. Die Verdrängung des "Bösen" weist eher auf die Struktur des "Bösen", denn auf "einen Bösen". "Ein Böser" ist schnell ausgemacht. Jeder SS-Arzt wie Mengele, jeder KZ-Aufseher wie Höss oder jeder Diktator wie Hitler sind als personeller Fokus "des Bösen" identifizierbar. Doch der Faschismus z.B. als System ist nur verständlich durch seine spezifische "autopoietische" Kommunikationsstruktur (Führerprinzip, Volksgemeinschaft, Rassismus, speziell Antisemitismus usw.). Diese spezifische Kommunikation schafft erst den Faschismus als System, das sich aus sich selbst produziert und sich selbst reproduziert. Nur das Verständnis dieses spezifischen, anderes ausschließenden Kommunikationssystems lässt es auch zu, es (in seinen "Grundannahmen") zu bekämpfen.
Dem heilsamen, Wunden schließenden, Konflikte, vor allem auch innere Konflikte lösenden Moment der Geschichte, die Scorsese erzählt, haftet am Schluss des Films (gerade durch die letzte Szene) etwas Trügerisches, Zweifelndes, Misstrauisches an – die Frage, ob dieses System "Shutter Island" wirklich aus sich selbst heraus etwas "lösen" kann. Lösen, ablösen, auflösen, den Knoten entwirren. Ist das tatsächlich möglich? Insofern geht "Shutter Island" über seine konkrete Geschichte hinaus. Der Film hat meinem Gefühl nach enorme zivilisationskritische Momente, wobei Scorsese sich wie immer jeglicher "Botschaft" enthält. Insofern knüpft "Shutter Island", trotz seiner ganz andersartigen Dramaturgie, an seine früheren Filme, insbesondere auch "Gangs of New York" und "Aviator", an.
Ich will es dabei belassen. "Shutter Island" empfinde ich als einen weiteren Geniestreich Scorseses – trotz so mancher Unkenrufe anderer. Zu erwähnen ist schließlich, wie großartig DiCaprio diesen Teddy Daniels spielt, dessen Figur hier eindeutig im Vordergrund steht, unterstützt von einer sorgfältig ausgewählten Schauspielergarde, die ihr Bestes gibt. Und last but not least fügt sich die Musik des Films wunderbar in die Handlung ein.
Wertung: 10 von 10 Punkten. Prädikat: Besonders wertvoll.
© Bilder: Concorde Filmverleih.
(24. Februar 2010)
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