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E.T. - Der Außerirdische (1982) Die Farbe Lila (1985) Der Soldat James Ryan (1998) A.I. - Künstliche Intelligenz (2001) Minority Report (2002) Catch Me If You Can (2002)
E.T. – Der Außerirdische (E.T. the Extra-Terrestrial) USA 1982, 114 Minuten Überarbeitete Fassung 2002 Regie: Steven Spielberg
Drehbuch: Melissa Mathison Musik: John Williams, Jim Carroll Director of Photography: Allen Daviau Montage: Carol Littleton Produktionsdesign: James D. Bissell
Darsteller: Dee Wallace Stone (Mary), Henry Thomas (Elliot), Peter Coyote (Keys), Robert MacNaughton (Michael), Drew Barrymore (Gertie), K. C. Martel (Greg), Sean Frye (Steve), C. Thomas Howell (Tyler), David M. O’Dell (Schuljunge), Richard Swingler, Richard Swingler (Lehrer), Frak Toth (Polizist)
Vermeintlich Eigenes und verdrängtes Fremdes
Der mit vier Oscars bedachte Spielberg-Klassiker wurde zum 20. Jubiläum nicht nur digital bearbeitet. Ebenso wurden aus einigen Szenen, heißt es, Waffen entfernt. Natürlich habe ich damals E.T. ebenso begeistert verschlungen wie Millionen andere. Allein lang, lang ist’s her und ein Vergleich der alten mit der überarbeiteten Fassung schier unmöglich. Interessant aber scheint mir, wie E.T. angesichts eines solchen zeitlichen Abstands heute gesehen werden kann.
Da steht er nun, mitten im Wald, der Außerirdische, den sein Raumschiff vergessen hat bzw. nicht mitnehmen konnte, weil NASA und FBI die Landung registriert hatten. Im Geräteschuppen der Familie von Mary (Dee Wallace Stone) und ihren Kindern Elliot (Henry Thomas), Michael (Robert MacNaughton) und Gertie (Drew Barrymore als süßes kleines Mädchen mit Zöpfen) findet er Unterschlupf und wird natürlich von Elliot entdeckt. Das Erschrecken ist beiderseitig. E.T., wie Elliot ihn ab sofort nennt, grunzt nur leise vor sich hin, Elliot hat es die Sprache verschlagen. Doch es dauert nicht lange, und beide verkriechen sich im Zimmer des Jungen. E.T. bekommt zu Essen, und schnell werden aus den Fremden Freunde.
Elliot bleibt nach einigen Tagen nichts anderes übrig, als seine zwei Geschwister einzuweihen. Während der große Bruder Michael ebenso sprachlos vor E.T. steht, bekommt seine kleine Schwester einen Schreianfall. Doch Mutter Mary darf nichts merken. Denn Elliot hat das unbestimmte Gefühl, dass es E.T. nicht gut bekommen wird, wenn die Erwachsenen von ihm wüssten.
E.T. schaut und hört Fernsehen, liest Kinderbücher, hört den Kindern zu und lernt sehr rasch die menschliche Sprache so weit, dass eine Verständigung möglich ist. Ja, und dann kommt der berühmte Satz mit dem Fingerzeig: „Nach Hause ...”
Ich will es dabei belassen, denn die Geschichte dieses Sciencefiction-Klassikers dürfte den meisten bekannt sein, und wer E.T. noch nicht gesehen hat, dem geht es auch besser, wenn er nicht mehr erfährt.
„E.T.” war – soweit ich das sehe – der erste große Sciencefiction, in dem ein Außerirdischer nicht als bösartige Bedrohung, gar als Gefahr für die gesamte Menschheit eingeführt wurde, sondern als emotionales, mitfühlendes Lebewesen, das sich recht schnell mit den Gepflogenheiten der Menschen zurechtfindet. Die Bedrohung kommt in Spielbergs Film eher von einem Teil der (institutionalisierten) Menschheit, dem FBI und der NASA, deren Repräsentanten in den ersten Szenen des Films im Schatten, in der Dunkelheit, fast anonym bleiben und erst gegen Schluss ins Helle, ins Tageslicht treten. Potentielles Opfer ist E.T., nicht die Menschheit.
Spielberg führt den Zuschauer (einmal mehr) in die Welt der Phantasie, der Kinder, der Kindheit, in die Welt vor allem von drei Kindern, deren Vater sich von Mary getrennt hat, den sie alle vermissen. Doch es wäre kurzschlüssig, in E.T. eine Art phantasievollen Vaterersatz sehen zu wollen. Das Vertraute, der Vater, ist zwar weit weg, in Mexiko, aber er lebt in den Herzen der Kinder weiter; wie alle Kinder wünschen sie sich instinktiv den Elternteil wieder, der die Familie verlassen hat. Und dann erscheint dort, im wahrsten Sinn vom Himmel gefallen, etwas Fremdes, ein Fremder, der anders aussieht, aber eben doch sehr menschenähnliche Züge hat, der verwelkte Blumen wieder zur Blüte verhilft, der kleine Wunden heilen kann, aber nicht als Vater, sondern als etwas, was so fremd und doch so nah ist.
Elliot, Michael und Gertie reagieren zunächst ganz unterschiedlich auf E.T. Elliot ist sehr schnell mit ihm verbunden; E.T. hat die Fähigkeit, ihn das spüren zu lassen, was in E.T. vorgeht. Man könnte sagen, die beiden sind wie ein Herz und eine Seele. Michael, der ältere Bruder, dagegen geht anfangs auf Distanz, zweifelt, ob da doch noch Gefahren lauern könnten. Die kleine Gertie hat zunächst einfach nur Angst. Doch sowohl Angst wie Zweifel verfliegen bei den Kindern schnell, während Mary das kalte Entsetzen im Gesicht geschrieben steht, als sie E.T. das erste Mal sieht, und ihr Schutzinstinkt gegenüber den Kindern sofort in Aktion tritt.
Elliot repräsentiert eine Art (kindliches) Urvertrauen in das Fremde. Bei ihm setzen sich sofort Schutzmechanismen in Gang, geleitet von seinen Emotionen, aber nicht gegen das Fremde, sondern gegen das Vertraute, Eigene, die Gefahr, die E.T. von denjenigen zumindest drohen könnte, die ihn zu Forschungszwecken missbrauchen oder gar töten könnten. Für die Kinder ist E.T. kein Spielzeug, sondern Freund; für die Erwachsenen eher Objekt von Forschung und Abwehr, auch wenn der NASA-Forschungsleiter (Peter Coyote) zum Schluss friedlich mit ansieht, wie E.T. von seinen Leuten wieder abgeholt wird. Doch er kann dies nur, weil er sich seinen Kindheitstraum bewahrt hat, wie Elliot einmal einem Außerirdischen in Frieden zu begegnen.
Spielberg geht (nicht nur in E.T.) zurück in die Kindheit, nicht um des Außerirdischen, sondern um unser Verhältnis zu „unseren eigenen Fremden”, zum Fremden in uns selbst willen. E.T. verkörpert vielleicht das, was wir in uns selbst als fremd verdrängt, ausgeschieden haben und was sich in unserem Verhältnis zu „anderen Kulturen” oft als Ablehnung, Aggression oder Schlimmeres äußert.
Ich nehme an, dass es kein Zufall ist, dass Spielberg seinen letzten Film „A.I. – Künstliche Intelligenz” ähnlich wie „E.T. – Der Außerirdische” betitelt hat. Der von Menschen geschaffene David in „A.I.” ist der Figur des Elliot in „E.T.” sehr ähnlich, auch wenn er reine Technik ist. Das Absurde in „A.I.” ist, dass David über Jahrhunderte hinweg die längst ausgestorbene Menschheit überlebt und im Schlaf das Menschliche sucht und verstehen will. David ist Technik, die Mensch werden will, Kind, das wissen will, wo seine Mutter, auf die er programmiert ist, geblieben ist. David kennt keine Zeit; Zeit ist nicht sein Problem, Technik nicht, sondern seine „Programmierung auf das Menschliche”. Elliot ist in seinem Urvertrauen ebenso „programmiert”, zwar nicht leichtsinnig sich jeder Gefahr auszusetzen, aber die Nähe zu spüren, egal wie „etwas” oder jemand aussieht, sich bewegt, oder wo jemand herkommt.
Verkörpert „A.I.” eine düstere Vision des Verlusts all dessen, was Humanität ausmacht, ist in „E.T.” 19 Jahre früher das Menschliche in den Kindern und E.T präsent; die Erwachsenen müssen es in sich suchen. Beide Filme stehen in einer denkbar merkwürdigen Tradition zu der alten Geschichte von Pinocchio, der Holzpuppe, die ein Kind werden wollte, was ja auch bedeutet, dann erwachsen zu werden.
Die Bearbeitung des Films ist mir im nachhinein ehrlich gesagt ziemlich egal. Die Waffen bei der Verfolgung in der Schlussszene wurden entfernt, OK. Aber am Gesamteindruck ändert das nichts wesentliches. Es war schön, diesen Film nach so langer Zeit wieder und vielleicht neu zu sehen. Es hat sich gelohnt.
Die Farbe Lila (The Color Purple) USA 1985, 154 Minuten Regie: Steven Spielberg
Drehbuch: Menno Meyjes, nach dem Roman von Alice Walker Musik: Andraé Crouch, Qunicy Jones, Jeremy Lubbock, Caiphus Semenya, Rod Temperton Director of Photography: Allen Daviau Montage: Michael Kahn Produktionsdesign: J. Michael Riva, Bo Welch, Lina DeScenna
Darsteller: Danny Glover (Albert), Whoopie Goldberg (Celie), Margaret Avery (Shug Avery), Oprah Winfrey (Sofia), Willard E. Pugh (Harpo), Akosua Busia (Nettie), Desreta Jackson (die junge Celie), Adolph Caesar (Old Mr.), Rae Dawn Chong (Squeak), Dana Ivey (Miss Millie), Leonard Jackson (Pa), Bennet Guillory (Grady), John Patton Jr. (Prediger), Carl Anderson (Reverend Samuel), Susan Beaubian (Corrine), James Tillis (Buster), Phillip Strong (Mayor), Laurence Fishburne (Swain), Peto Kinsaka (Adam), Lelo Masamba (Olivia), Margaret Freeman (Odessa), Howard Starr (der junge Harpo), Daphaine Oliver (die junge Olivia), Jadili Johnson (der junge Adam), Lillian Njoki Distefano (der junge Tashi)
Celie, Sofia, Shug, Nettie
„Writing saved me from the sin and inconvenience of violence.“ (Alice Walker)
Eine richtige Geschichte erzählen, Erzählen, das ist wohl die größte Leistung, die das Kino vollbringen kann. Früher gab es Geschichtenerzähler, die von Ort zu Ort gingen, oder in der eigenen Sippe erzählten die Alten den Jungen die Geschichten ihrer Vorfahren. Ein Märchen zu erzählen, ist gar nicht so einfach, denn die Kinder schauen einem dabei oft ins Gesicht und wollen dort ablesen, was die Geschichte zu bedeuten hat, die sie von den Eltern vorgelesen bekommen. Sie achten auf Gefühle, die im Gesicht der Erwachsenen sichtbar werden, auf Gesten, die Furcht oder Furchtlosigkeit, Glück oder Unglück, Trauer oder Freude zum Ausdruck bringen.
Das Kino ist diesem Vorlesen insofern vergleichbar, als es zuallererst von Bildern lebt, dann erst von Worten. In Mimik und Gestik erkennen wir (oder auch nicht, wenn „es schlecht gemacht ist“), was empfunden wird, das, was auf uns übergreift, unsere Herzen bewegt und unsere Seele erreicht. Das, was man gemeinhin mit „Hollywood“ bezeichnet, ist eine Art und Weise, Kino zu machen, der es gelingt, an die Seelen des Publikums heranzukommen. Rainer Werner Fassbinder hat einmal gesagt, er wolle Kino machen wie in Hollywood – aber ehrlich. Hollywood ist demnach eine ambivalente Angelegenheit. Was da oftmals in die Herzen dringt, ist Rührseligkeit, Kitsch, Verlogenheit, Ideologie und vieles mehr, was man durchaus als unehrlich bezeichnen könnte.
Aber der Erfolg des amerikanischen Kinos à la Hollywood wäre längst Vergangenheit, wenn es nicht auch andere Filme aus der Kaderschmiede des Kinos geben würde. Zu diesen zählt meinem Empfinden nach Spielbergs „The Color Purple“, in dem Whoopie Goldberg ihr Debut als Filmschauspielerin gab – und das mit einer Glanzleistung–, und Oprah Winfrey eine Hauptrolle spielte, damals noch unbekannt, jene Oprah Winfrey, die als erste Frau ab 1986 eine Talkshow leitete, die zu den meist gesehenen ihrer Art wurde.
Der Film geht zurück auf einen Roman, den Alice Walker in Form von Briefen der Hauptfigur auch des Films, Celie, geschrieben hat.
Celie (Whoopie Goldberg) wächst Anfang des 20. Jahrhunderts auf dem Land im Süden der Staaten auf. In der Anfangssequenz sehen wir sie als Jugendliche (gespielt von Desreta Jack-son), wie sie mit ihrer Schwester Nettie (Akosua Busia) durch eine bunte Wiese läuft. Die Szene trügt. Denn Celie ist schwanger, und das schon das zweite Mal, von ihrem Vater, der das erste wie das zweite Kind weggeben wird. Celie kann nach der zweiten Geburt keine Kinder mehr bekommen. Auch Nettie stellt der Vater hinterher.
Mit 14 bietet der Vater Celie dem Farmer Albert (Danny Glover) als Frau an. Der Film schildert sodann die Geschichte Celies in den Jahren zwischen der Heirat 1909 und dem Ende der 30er Jahre.
Die Ehe zwischen „Mister“ – so redet Celie Albert an – und Celie ist geprägt durch Sklaverei und Gewalt. „Mister“ hat schon mehrere Kinder, u.a. Harpo (Willard E. Pugh), und Celie lebt zwischen der Versorgung der Kinder und des Hauses und der Brutalität ihres Mannes. Als „Mister“ dann auch noch ihre Schwester vergewaltigen will, die sich aber heftig zur Wehr setzt, vertreibt Albert Nettie aus seinem Haus – für die Schwestern ein weiteres furchtbares Ereignis in ihrem Leben. Die Briefe, die Nettie Celie schreibt, enthält Albert ihr vor; Celie weiß nichts von diesen Briefen.
Spielberg konzentriert die Handlung vor allem auf seine weiblichen Darsteller. Wir treffen auf Sofia (Oprah Winfrey), eine anfangs gestandene, energiegeladene Frau, so ganz anders als Celie, eine Rebellin, die sich nichts von Männern gefallen lässt, die in Alberts Sohn Harpo verliebt ist, ihn heiratet, dann aber zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt wird, weil sie der Aufforderung, als Haushälterin der Frau des Bürgermeisters, Miss Millie (Dana Ivey), zu arbeiten, keine Folge leistet und den Bürgermeister (Phillip Strong) in die Hölle wünscht.
Wir treffen auf die Barsängerin Shug Avery (Margaret Avery), die Frau, in die Albert verliebt ist. Anfangs verachtet Shug Celie („Du bist so hässlich wie die Sünde“), bis sie bemerkt, wie schön, intelligent und gefühlvoll Celie ist. Als Shug Celie küsst, zärtlich mit ihr wird, empfindet Celie das erste Mal in ihrem Leben, was Zärtlichkeit überhaupt ist. Spielberg konzentriert die Beziehung der beiden Frauen jedoch nicht auf deren Sexualität. Die wachsende Freundschaft der beiden steht im Vordergrund der Handlung. In dem von Harpo eröffneten Jazz-Schuppen singt Shug einen Blues ausschließlich für Celie.
Am Schluss treffen sich alle vier Frauen wieder ...
„The Color Purple“ erzählt die Geschichte eines Lebens und, wenn man so will, des Lebens. Die Handlung bewegt sich in den Kreisen der afroamerikanischen Bevölkerung, Weiße spielen nur ganz am Rande eine Rolle. Und doch ist die permanente Gewalt in den rassistischen sozialen Strukturen jederzeit spürbar. Diese Gewalt – vor allem die von Männern gegenüber Frauen – hat sich übertragen auf die Lebensverhältnisse der Afroamerikaner. Auch für den Vater von Albert (Adolph Caesar) ist diese Gewalt Normalität in Denken, Fühlen und Handeln, ebenso für Harpo, der allerdings selbst nicht fähig ist, gegenüber Frauen so zu handeln. Harpo ist der Typ eines jungen Mannes, der instinktiv spürt, ohne dass es ihm zunächst bewusst ist, dass diese (ihm wie natürlich vorkommende) strukturell verankerte Gewalt etwas Verwerfliches ist. Spielberg, und vor allem dann eben auch Goldberg, Winfrey und Avery, gelingt es, diese Umstände und diese Lebensweise in ihrer ganzen Bedeutung für die Beteiligten und für uns zu erzählen. Die Bilder sprechen hier die Sprache, nicht so sehr die Worte.
Unterschiede werden deutlich, vor allem in den Rollen der drei Frauen. Celies Weg ist nicht der der offenen Rebellion. Das Leben heilt sie, obwohl sie permanent misshandelt wird, nicht nur und nicht so sehr nur durch Gewalt. Sie darf kaum reden, sie hat kein eigenes Leben, sie dient lediglich – in einem Zustand der Permanenz. Doch zum Schluss siegt sie und weiß sich im Zustand des Glücks. Ganz anders Sofia. Das Leben schlägt sie, obwohl niemand sie schlägt. Das Gefängnis scheint sie zerbrochen zu haben. Shug hingegen ist eine Frau, die sich aus guten Gründen zunächst an keinen Mann bindet, die ihre Unabhängigkeit durch eine Lebensweise aufrechtzuerhalten strebt, in der kein Mann und keine Kinder und kein Haushalt Platz haben; sie ist Sängerin, eine gute Sängerin, eine mit Stil, mit Herz, mit Seele. Die Musik ist ihre Welt, die Spelunke, das Halbseidene, und dort kann sie ein hohes Maß an Unabhängigkeit bewahren und sich der Gewalt entziehen – bis sie einen Mann, Grady (Bennett Guillory), kennenlernt, der sie als Mensch und als Frau akzeptiert. Und last but not least Nettie, Celies Schwester, die im Ausland ihren Weg geht, von der wir und Celie zunächst nichts erfahren, bis Celie auf die zahllosen Briefe aus vielen Jahren stößt, die Albert ihr vorenthalten hat.
Die Fährten dieser vier Frauen streben von einem gemeinsamen Ausgangspunkt aus auseinander und am Schluss führen sie wieder zusammen. Zu den stärksten Szenen des Films gehört eine, in der Albert, sein Vater, Harpo, Sofia und Celie am Tisch beim Essen zusammensitzen und Celie beginnt zu reden, über ihr Leben mit Albert, den sie verlässt. Man spürt förmlich, was hier passiert, nicht nur in dem Sinne, dass sich eine Frau nach Jahren der Drangsal weiterer Unterdrückung entziehen wird. Man spürt vor allem, was in Celie vorgeht, was sie bewegt, was sie antreibt. Das gilt für den Film insgesamt. Die Tiefe und das Ausmaß dieses Lebens werden in „The Color Purple“ zu einem unvergesslichen Erlebnis, weil Regisseur wie Schauspieler ausschließlich „bei der Sache“ sind. Man erzählt, ehrlich, ohne irgendeine Form der Rührseligkeit oder des Kitsches, die Bildersprache ist überwältigend, und in keiner Minute des immerhin zweieinhalb Stunden dauernden Films kommt Langeweile auf.
Für manchen mag der Schluss des Films, in dem Celie die Früchte ihres Lebens erntet, übertrieben positiv sein. Ich empfand dies anders, denn man kann diesen Schluss kaum vom Rest des Films trennen. Geheimnisse werden gelüftet, Intrigen aufgedeckt. Alle vier Frauen sind auf ganz unterschiedliche Weise rebellisch, rebellisch als Menschen, deren Leben man beschneidet. Auch Celie ist eine Rebellin, aber eine stille, eine, die mehr will, als den kurzfristigen Aufstand in einer Umgebung, die sie dafür sofort hart bestrafen würde wie Sofia eine die jahrelang nach dem Moment sucht, dem „Anhaltspunkt“, ihrem Leben die Wendung zu geben, aufgrund derer sie „heil“ wird. Sofia ist die ad-hoc-Rebellin, was man ihr kaum zum Vorwurf machen kann, und sie wird hart bestraft, ohne daran allerdings endgültig zu zerbrechen. Sie rappelt sich wieder auf, und es ist die Freundschaft zu Celie, die ihr Kraft gibt. Und schließlich Shug, die wiederum anders rebelliert, indem sie den Stätten der Gewalt entflieht und in der Musik, im Blues, ihren Lebensinhalt findet.
„The Color Purple“ ist ein ehrlicher, bedeutender, emotionaler, aufrührerischer und zugleich stiller, urteilender, aber nicht verurteilender Film, in dem man vieles erkennen und nachempfinden kann, was nicht nur für die Figuren des Films Bedeutung hat.
Der Soldat James Ryan (Saving Private Ryan) USA 1998, 170 Minuten Regie: Steven Spielberg
Drehbuch: Robert Rodat Musik: John Williams Director of Photography: Janusz Kaminski Montage: Michael Kahn Produktionsdesign: Thomas E. Sanders, Ricky Eyres, Daniel T. Dorrance, Tom Brown, Chris Seagers, Alan Tomkins
Darsteller: Tom Hanks (Captain John Miller), Edward Burns (Private Reiben), Tom Sizemore (Sergeant Horvath), Jeremy Davies (Corporal Upham), Vin Diesel (Private Caparzo), Adam Goldberg (Private Mellish), Barry Pepper (Private Jackson), Giovanni Ribisi (Wade), Matt Damon (Private James Ryan), Dennis Farina (Lieutenant Colonel Anderson), Ted Danson (Captain Hamill), Harvey Presnell (General George Marshall), Paul Giamatti (Sergeant Hill), Ryan Hurst (Fallschirmjäger Michaelson), Harrison Young (Ryan als alter Mann)
Ein mutiger Kriegsfilm
Machen wir uns nichts vor: Krieg ist Krieg und Film ist Film. Wenn etwas wahrhaftig ist, dann die Tatsache, dass existentielle Situationen wie Krieg, permanente Armut oder Leben unter Elendsbedingungen, existentielle Erfahrungen solcher Art nicht „realistisch“ visualisiert werden können – noch weniger als schon Alltagserfahrungen, die jeder hat. Insofern wohnt jedem Film über den Krieg oder den Holocaust oder über Elend auch ein Akt des Scheiterns inne. Erfahrungen, die wir nicht selbst vorweisen können, verbleiben einem Bereich zu Unzugänglichen. So ist Ridley Scott mit seinem Kriegsdrama „Black Hawk Down“ (2001) an dem selbst verkündeten Ziel gescheitert, den Krieg so realistisch wie möglich per Zelluloid in die Gefühle und Gedanken zu hämmern. Auf der Leinwand wird nicht gekämpft und nicht gestorben. Scott zeigte zwei Stunden lang in technischer Perfektion ein fiktives Kriegsgeschehen. Aber das reale Kriegsgeschehen bleibt uns verborgen, auch wenn es vier Stunden von der Leinwand Bilder hageln und Bomben tönen würde.
Steven Spielbergs „Saving Private Ryan“ (mit dem verfälschenden deutschen Titel „Der Soldat James Ryan“, der dem zentralen Moment des Films den Boden unter den Füßen wegreißt) ist – trotz aller Widerworte – kein Film, der Realistik verspricht. Sein Thema ist ein anderes. Der 6. Juni 1944, als die Landung der Alliierten am 6. Juni 1944 in der Normandie begann, der D-Day, an dem die zweite Front gegen das nationalsozialistische Deutschland und die unbändigen Verheerungen seiner Kriegsmaschinerie eröffnet wurde, war auch ein Tag der Bilanzierung: Wie viele sowjetische Soldaten, die den Vormarsch der Hitler-Truppen verzweifelt und mutig bekämpft hatten, und wie viele KZ-Insassen hatten bis zu diesem Tag bereits ihr Leben lassen müssen?
Die lange Eingangssequenz von der Landung der ersten amerikanischen Soldaten an den Ufern Frankreichs gehört zu den am meisten beeindruckenden Kriegsszenarien der Filmgeschichte. Es ist nicht so sehr die technische Brillanz, sondern die Konstruktion dieser Szene aus der Sicht der einzelnen Soldaten, die sie beispielsweise von Scotts „Black Hawk Down“ bereits in ihrer Absicht unterscheidet. Die überwiegend mit der Handkamera gedrehten Bilder vermitteln uns näherungsweise ein Bild vom Eindruck, den die Soldaten empfunden haben könnten, müssten: Chaos. In diesen Momenten, so Spielberg, ist alles vergessen, was in Propagandafilmen, heroischen Reden, patriotischen Klängen der Armee mit auf den Weg gegeben wurde. Es herrscht nichts weiter als Tod und für jeden einzelnen russisches Roulette in unkontrollierbarem, apokalyptischem Ausmaß, dem man mit Worten nicht Herr werden kann.
Das Ziel der Landung – die Eröffnung der zweiten Front – korrespondiert direkt und auf erschreckende Weise mit dem Ziel des einzelnen Soldaten, diese Hölle zu überleben. Die Kamera, die in einer Szene mit dem Blut eines sterbenden Soldaten bespritzt wird, taumelt wie in der Hand eines Dokumentarfilmers durch die Reihen der fallenden Soldaten, die ihre Köpfe verlieren, bluten, das Meer röten, die in der Luft zerplatzen, und der weiter vorstoßenden Truppe. Es ist diese unkontrollierbare Situation, aus der es kein Entrinnen gibt, der man auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist, die jeden Patriotismus ad absurdum führt, weil es um nichts anderes mehr geht als: durch und überleben.
Ridley Scott hatte das gleiche Anliegen. Doch im Gegensatz zu Spielberg erzählt Scott keine Geschichte mit überzeugenden Figuren, keine Geschichte, die Hand und Fuß hat, sondern setzt voll und ganz auf die Macht der Bilder, hinter der sich die Ohnmacht der intendierten Aussage „Krieg, wie er wirklich ist“ nur schwer verbergen kann. Spielberg erzählt eine Geschichte, und kontrastiert diese Geschichte mit dem – im wahrsten Sinn – heillosen Chaos der Situation der Soldaten. Das macht wiederum Sinn, weil es das Kriegsgeschehen selbst nicht für sich in den Mittelpunkt stellt.
Anfang und Ende des Films ziert die amerikanische Fahne. Die Fahne am Ende des Films ist ergraut, blass geworden. Warum? Ein alter Mann (Harrison Young) steht auf einem Soldatenfriedhof in der Normandie, Jahrzehnte nach dem zweiten Weltkrieg, bestürzt, weinend, kraftlos. Er steht vor einem der zahllosen Gräber, die alle eins wie das andere aussehen, kniet nieder, erinnert sich, verbeugt sich vor dem Toten, der dort liegt.
6. Juni 1944. Im Hauptquartier der amerikanischen Armee erfährt General George Marshall (Harvey Presnell) kurz nach Beginn der Landung in „Omaha Beach“, wie das Operationsgebiet in der Normandie genannt wurde, dass eine Frau Ryan aus Iowa drei ihrer vier Söhne im Krieg bereits verloren hat. Frau Ryan erhält alle drei Todesbotschaften am selben Tag. Marshall erinnert sich an einen Brief, den der amerikanische Präsident Abraham Lincoln in einer vergleichbaren Situation während des Bürgerkriegs einer Frau Bixby in Boston sandte, die ebenfalls mehrere Söhne verloren hatte. Marshall erteilt den Befehl, eine Gruppe von Soldaten sollten den vierten Sohn von Frau Ryan, Private James Ryan (Matt Damon), in der Normandie ausfindig machen und nach Hause schicken.
Acht Männer erhalten den Befehl. Unter dem Kommando des Englischlehrers Captain John Miller (Tom Hanks) ziehen Private Reiben (Edward Burns), Sergeant Horvath (Tim Sizemore), der mit Miller befreundet ist, Private Caparzo (Vin Diesel), Private Wade (Giovanni Ribisi), Private Jackson (Barry Pepper), Private Mellish (Adam Goldberg) und der französisch und deutsch sprechende Corporal Upham (Jeremy Davies) los, um Ryan ausfindig zu machen. Keiner der acht begreift so recht, warum sie sich in zusätzliche Lebensgefahr bringen sollen, um einen Mann zu retten und nach Hause zu schicken.
Während der Suche nach Ryan kommt es Auseinandersetzungen. Als Miller einen deutschen Soldaten, der bei der Eroberung einer Anhöhe festgenommen wurde, laufen lässt, reagiert Reiben mit Sarkasmus und Zynismus und will die Gruppe verlassen.
Schließlich findet die Gruppe Ryan. Caparzo und Wade sind gefallen. Ryan allerdings, der mit einigen wenigen Soldaten eine Brücke vor den Deutschen sichern soll, reagiert anders als erwartet. Er will nicht nach Hause geschickt werden, sondern seine Kameraden bei der Verteidigung der Brücke unterstützen. Miller reiht sich mit seinen Leuten in die Gruppe ein und entwickelt einen Plan, anrückende Panzer aufzuhalten und nur im Notfall die Brücke zu sprengen ...
Spielberg benutzt die Kameraführung in der Eingangssequenz des Films, um einen annähernd dokumentarischen Charakter von der Landung am D-Day zu erzeugen. Janusz Kaminski, der auch „Schindlers Liste“ fotografierte, wirkt wie ein Augenzeuge im wirklichen Kriegsgeschehen. Selbst wenn allerdings jemand ein wirkliches Kriegsgeschehen unmittelbar gefilmt hätte, handelt es sich bei solchen Aufnahmen immer nur um eine Annäherung. Das dürfte auch Spielberg bewusst gewesen sein. Und – im Unterschied zu Ridley Scotts „Black Hawk Down“ kontrastiert er diese Annäherung mit einer Geschichte, die zwiegespalten ist. Auf der einen Seite zeigt er einen General, der aus durchaus ehrenwerten und glaubhaften Motiven einer Mutter den Verlust ihres letzten Sohnes ersparen will, und stellt demgegenüber die Gruppe von Soldaten, die diesen Sohn suchen soll und aus ihren furchtbaren Erfahrungen heraus, die sie bei der Landung gemacht haben, nicht begreifen können, welchen Sinn dieser Befehl haben soll. Sie riskieren ihr Leben in extremer Weise und sollen sich nun noch zusätzlich gefährden, indem sie einen anderen, den sie nicht einmal kennen, finden und nach Hause schicken sollen. Warum soll der überleben, wo einer nach dem anderen von ihnen gefallen ist?
Es ist dieser kontrastgeladene Unterschied zwischen den Erfahrungshorizonten – hier der General in der sicheren Position, dort die acht Soldaten im Kampf – der „Saving Private Ryan“ zu einem der besten Kriegsfilme der Filmgeschichte werden lässt. Das bezieht sich auch und vor allem auf die Schilderung der Charaktere selbst.
Tom Hanks spielt einen Englischlehrer, der als Captain dafür Sorge zu tragen hat, dass der Auftrag ausgeführt wird. Hanks Miller schwankt zwischen Pflichterfüllung, Resignation und psychischer und physischer Erschöpfung; nicht nur einmal zittern ihm die Hände wie Espenlaub. Er meint zu seinem Freund Horvath: „Mit jedem Mann, den ich töte, fühle ich mich weiter von zu Hause entfernt.“ 94 Soldaten unter seinem Befehl sind gefallen. Miller erinnert sich an seine Frau, wie sie Rosen beschneidet, und zweifelt daran, dass sie ihn bei seiner Rückkehr wiedererkennt. Edward Burns Reiben treibt die Kriegssituation und deren Unsicherheit in den Zynismus; er ist derjenige, der den Befehl, Ryan zu finden, am wenigsten verstehen kann. Jeremy Davies Upham schließlich ist eine, wenn nicht die zentrale Figur in Spielbergs Geschichte. Er ist gebildet, wird von Miller als Übersetzer mitgenommen, hat keinerlei Kampferfahrung. Upham hat nicht nur Angst wie die anderen auch, er verzweifelt an dem, was ihm und den anderen geschieht. Seine Panik lähmt ihn, er ist traumatisiert und weiß besser als jeder andere, was geschieht. Die Figur Uphams ist die, die einem am nächsten steht, wenn man sich vorstellt, selbst in den Krieg ziehen zu müssen. Angesichts seiner Darstellung fallen die letzten Schranken von Patriotismus, Heldenmut, Opferbereitschaft. Upham ist terrorisiert durch den Krieg. Auf das, was hier passiert, ist er nicht vorbereitet. Und so ging es den meisten, die zwar möglicherweise in der Armee irgendwelche Übungen absolviert hatten, aber in den Krieg geworfen wurden wie in kaltes Wasser, ohne schwimmen zu können, das Ungeheuer vor sich, die Maschinerie, deren Todessequenz sich gnadenlos abwickelt, unaufhaltsam bis zum bitteren Ende.
In welcher Situation ist ein Leben mehr wert als ein anderes? Dies ist die zentrale Fragestellung von „Saving Private Ryan“. Und noch so gelehrte Kommentare über die angeblich verfälschende Sichtweise Spielbergs über die Umstände des zweiten Weltkriegs können daran nicht rütteln. David Walsh liefert in der „World Socialist Web Site“ ein fürchterliches Beispiel, wie man diesen Film – man muss schon vermuten: gewollt – missverstehen kann. Seitenweise rekapituliert er seine Ansichten über die Rolle der verschiedenen Alliierten und dass Spielberg angeblich die USA als entscheidende Macht hinstelle, die Hitler in die Knie gezwungen habe. Erstens tut dies Spielberg nicht. Zweitens geht es ihm um etwas anderes. Und drittens könnte die Geschichte dieses Films auch in einem anderen Krieg des 20. Jahrhunderts angesiedelt sein.
Ich behaupte sogar, dass „Private James Ryan“ sich jedes Patriotismus bzw. der Glorifizierung der Rolle der USA enthält. Die amerikanische Fahne sieht am Schluss sehr blass aus; sie dokumentiert, dass diejenigen, die am grünen Tisch die Weltgeschichte lenken wollen, in der Regel keine Vorstellung davon haben, was das für Millionen anderer bedeutet. Es wäre absurd, Spielberg vorwerfen zu wollen, die Rolle der sowjetischen Streitkräfte im Kampf gegen Hitler-Deutschland nicht gewürdigt zu haben. Auch eine solche Kritik schießt an den Intentionen dieses Films schnurstracks vorbei. In einer Szene äußert Miller eine Frage, die so schon oft gestellt worden ist: Wenn ich drei, fünf, zehn oder sogar hundert Männern das Leben retten kann, dafür aber einen töten muss, soll ich das dann tun? Wer entscheidet darüber? Wer hat das Recht, darüber zu entscheiden? Diese Frage bleibt in „Private James Ryan“ unbeantwortet. Wer eine Antwort kennt, möge sie geben – eine Frage übrigens, die paradoxerweise in Anhörungen von Kriegsdienstverweigerern in den 70er Jahren oft gestellt wurde, um das Gewissen der Kriegsdienstverweigerer zu „prüfen“.
„Private James Ryan“ endet nicht in Patriotismus und Heldenmut. Der Film endet in Resignation, Verzweiflung, aber auch in der Hoffnung, das immer mehr Menschen solche Erfahrungen erspart bleiben. Als der alte Mann Jahrzehnte später vor dem Grab in der Normandie steht, fragt er seine Frau, ob er ein gutes Leben geführt habe, so, als frage er, ob er in seinem Leben dem Tod seiner Kameraden gerecht geworden ist, ob er es verdient habe, überhaupt weiter zu leben, während die anderem an diesem Ort des Grauens begraben liegen. So weit treibt es der Krieg.
Neben „Platoon“ (1986, R: Oliver Stone), „Full Metall Jacket“ (1987, R: Stanley Kubrick), „Apocalypse Now“ (1979, R: Francis Ford Coppola) und „Wege zum Ruhm“ (1957, R: Stanley Kubrick) gehört „Saving Private Ryan“ für mich zu den besten Filmen des Genres, was amerikanische Filme dieser Art angeht. Es sind, wie gesagt, nicht die „realistischen“ Kampfszenen, sondern es ist ihr Kontrast zu der zentralen Frage, die Spielbergs Film zu einem der besten des Genres macht. Zwängt man diese Frage in ein politisches respektive ideologisches Korsett, zerstört man ihre zutiefst menschliche und lebenswichtige Substanz.
Man mag sich fragen, ob dieses Genre Kriegsfilm nicht bereits völlig ausgereizt ist. Doch: Gibt es keine Kriege mehr?
A.I. – Künstliche Intelligenz (Artificial Intelligence: AI) USA 2001, 146 Minuten Regie: Steven Spielberg
Drehbuch: Steven Spielberg, Ian Watson, Brian Aldiss Musik: John Williams Director of Photography: Janusz Kaminski Montage: Michael Kahn Produktionsdesign: Rick Carter
Darsteller: Haley Joel Osment (David), Frances O’Connor (Monica Swinton), Sam Robards (Henry Swinton), Jake Thomas (Martin Swinton), Jude Law (Gigolo Joe), William Hurt (Prof. Hobby), Ken Leung (Syatyoo-Sama), Ashley Scott (Gigolo Jane), John Prosky (Mr. Williamson), Brendan Gleeson (Lord Johnson-Johnson)
„Wo die Träume geboren werden ...“
„... Und zum ersten Mal kam er an den Ort, wo die Träume geboren werden.“
Was nach dem Menschen kommt ... nach dem Krieg und nach der Liebe, nach der Geschichte und nach dem Geld, nach der Macht und nach dem Tod, nach der Gier und der Besessenheit ... Was nach dem Menschen kommt, das ist vielleicht die Frage danach, was im Menschen mehr stecken könnte – eine geradezu irrsinnige Frage angesichts der Schlachten, die der Mensch geführt hat und immer noch führt und führen wird. Da ist nichts mehr an Erinnerung des gemeinsamen Ursprungs der einzigen menschlichen Rasse, die sich später teilte in schwarz und gelb, rot und weiß, nur außerhalb unserer Erfahrung und unserer Erinnerung, außerhalb unseres Gefühls liegender wissenschaftlicher Erkenntnisse über den Ursprung dessen, was wir Mensch nennen. Das ist die Frage, die quälende Frage eines Stanley Kubrick, die sich durch alle seine Filme zieht. Man kann nicht normal sein, wenn man sich diese Frage stellt, denn sie steht so weit außerhalb unseres Horizonts, unseres Alltags, unserer Biografien, dass allein ihre Formulierung des Pathologische des Fragenden sichtbar macht.
Und doch ist fraglich, ob diese Frage Pathologisches ausdrückt oder nicht viel mehr die Antworten, die wir auf unsere Existenz geben. Es ist Steven Spielberg, der die Kubrick’sche Frage aufgrund eines immerhin schon 60 Seiten umfassenden Drehbuchentwurfs und Gesprächen mit dem verstorbenen Regisseur weiter verfolgte und in seinem umstrittenen Film „A.I. – Künstliche Intelligenz“ bebilderte. Ich sehe in diesem Film immer wieder die Fortführung von Kubricks „2001: A Space Odyssee“, auch wenn die Antworten, die Spielberg gibt – wenn es sich denn überhaupt um Antworten handelt –, vielleicht anders ausgefallen sind, als sie bei Kubrick, hätte er den Film noch inszenieren können, ausgefallen wären. Es ist müßig, darüber nachzudenken. Denn „A.I.“ ist trotzdem eine Hommage an Kubrick, fast in jeder Hinsicht.
Der enorme visuelle Aufwand, der sich u.a. in den phantastischen Bildern von „Rouge City“, der Skyline eines untergegangenen Manhattan, den Außerirdischen, der Arena usw. zeigt, hat sich gelohnt. Und es ist meinem Eindruck nach keineswegs so, dass dieser visuelle Aufwand Mängel des Films überdecken würde. Für „A.I.“ gilt, was bei den meisten Filmen Spielbergs richtig ist: Geschichte und Charaktere stehen im Vordergrund, nicht die Technik.
INSTRUMENTALISIERUNG ALS ORGANISATIONSPRINZIP VON GESELLSCHAFT UND DIE RESTE VON HUMANITÄT
Wir befinden uns in einer nahen Zukunft; große Teile der Erde sind überflutet. Wissenschaftler haben Meccas entworfen, mechanische, meist menschenähnliche Gestalten, die den Menschen zu allerlei Diensten zur Verfügung stehen – sogar, um unerfüllte Kinderwünsche zu erfüllen. Das Ehepaar Monica und Henry Swinton (Frances O’Connor mit einer beeindruckenden Leistung, Sam Robards) leidet darunter, dass der gemeinsame Sohn Martin (Jake Thomas) im Koma liegt und kaum eine Chance hat wieder aufzuwachen. Cybertronics, die Firma, für die Henry arbeitet, hat einen neuen Mecca entwickelt, ein Kind, das lieben kann, einen Prototyp namens David (Haley Joel Osment), der elternlosen Kindern das Leben versüßen soll.
Was ist Liebe? Prof. Hobby (William Hurt) von Cybertronics definiert dies vor versammelter Mann- und Frauschaft ziemlich präzise: Liebe ist das Verlangen, geliebt zu werden, und sei es – wenn es nicht anders geht – durch eine fast perfekte Maschine, die darauf programmiert ist, Gefühle vorzutäuschen. Aber kann der Mensch, der von einem Mecca geliebt wird, diesen auch lieben? Ja, antwortet Prof. Hobby. Die Liebe zu dieser Maschine ist die Vortäuschung und Selbsttäuschung desjenigen, der eine solche Maschine sein eigen nennen darf. Liebe wird zur Täuschung, zum Selbstbetrug.
Monicas Antwort auf den Vorschlag ihres Mannes, diesen David als Ersatz (!) für Martin auszuprobieren (!), ist zunächst Wut, Angst und Distanz, doch schon bald Gewöhnung, Annäherung und Zuneigung. Sie prägt schließlich David auf ihre Person durch das Ablesen eines Wort-Codes, der David auf sie fixiert: „Mama!“ Die Täuschung, Selbsttäuschung scheint perfekt. Und obwohl David nicht essen und schlafen muss, eben eine Maschine ist, entsteht eine Beziehung zwischen Mensch und Maschine, die alles danach aussehen lässt, dass Liebe funktioniert. Ein neuer Sohn ist geboren.
Als Martin unerwartet aus dem Koma erwacht, entstehen Konkurrenz, Neid, Rachegefühle auf Seiten Martins, der erkennt, dass die perfekte menschliche Imitation, die David darstellt, für ihn eine Gefahr sein könnte. Nur Henry weiß im Grunde, was hier abläuft, und er weiß es doch nicht. Für Henry, den Menschen- und Maschinenvater, ist klar, dass David nur eine Simulation, eine täuschend echte Nachbildung eines Jungen ist, die man nach Gebrauch oder bei Schwierigkeiten wieder entsorgen kann. Was allerdings auch Henry nicht bewusst ist: Durch das Erwachen Martins aus dem Koma wird deutlich, dass auch Martin eine Funktion hat, ja, ein Instrument ist, auf dem die Eltern spielen. Jetzt kann Martin wieder als das Instrument dienen, das David nur als Interimslösung darstellte.
Dieser einleitende Teil verdeutlicht, wie menschliche Gesellschaft organisiert erscheint: als gegenseitige Instrumentalisierung, hier in Form der Mutter-Kind-Liebe. Der Schein des kleinen David als „richtiger Junge“ ist nur ein Reflex dieser Instrumentalisierung auch rein menschlicher Beziehungen. Der Betrachter der Szenerie wiederum beginnt bereits hier, gerade wegen der täuschenden Echtheit dieses Davids Mitgefühl zu entwickeln: mit einer Maschine. All das ist Perversion der Verhältnisse und zugleich doch deren krasse Realität.
SÜNDENFALL UND UNBEWUSSTE KAPITULATION VOR EINER REVOLUTION MENSCHLICHER GEFÜHLE
Doch die Geschichte wäre schnell zu Ende, würde jetzt nicht etwas passieren, sprich: inszeniert werden, was der Erzählung über die Menschheit eine bestimmte Richtung geben würde: Monica hatte Martin und David die Geschichte von Pinocchio vorgelesen. Jetzt, als Martin wieder zum funktionstüchtigen Sohn avanciert ist, soll David (da er auf Monica geprägt und daher zu einem anderweitigen Einsatz untauglich ist) verschrottet werden. Monica jedoch entwickelt nun Mitleid, ja Mitgefühl mit David.
Sie setzt ihn aus. Diese Szene im Wald, dieser Vorgang, ist zentral für den Film. Denn hier bündelt sich in der mitfühlenden Mutter zweierlei, Konträres. Der menschliche Urinstinkt, das Leben-Wollen und das Leben-Erhalten, auch eine Art Urvertrauen, „bremsen“ die brutalen Folgen (Vernichtung) der instrumentellen Vernunft und des tötenden Verstandes. In der Aussetzung Davids kulminieren Liebe und Selbsttäuschung aufgrund der Instrumentalisierung. David wird die Mutter entzogen, bzw. sie entzieht sich ihm, doch zugleich ermöglichst sie ihm das Leben – ohne sie. Für einen ausgesetzten Menschen wäre dies eine existenzielle Katastrophe. Die Situation ist paradox, weil sich diese Handlung auf einen Mecca bezieht, eine Maschine, und eben nicht auf einen Menschen. Der Betrachter jedoch steigert sein Empfinden für diesen Pseudo-Menschen, vielleicht gerade weil es sich um eine Maschine handelt und man unbewusst spürt, was es heißen würde, wenn es sich wirklich um einen Menschen handeln würde.
EVOLUTION, VERGESELLSCHAFTUNG, BIOGRAFIE, ERINNERUNG ...
Was jetzt geschieht? Die Menschheitsgeschichte wird – in einer verfremdeten Form – rekapituliert. David, der mit seinem kleinen Teddy (eine ebenfalls programmierte Maschine) weiter zieht – was soll er auch sonst tun? –, erinnert sich. David wurde nicht geboren, er wusste nicht, woher er kommt, nur, wohin er zu gehen hatte, als er von Monica geprägt wurde. Jetzt, da Monica ihn verlassen hat, erinnert er sich, man könnte sagen: plötzlich, sozusagen aus dem Stand heraus entwickelt diese Maschine eine Biografie. Er erinnert sich an die Geschichte von Pinocchio, an dessen Suche nach der blauen Fee, die ihn nun vermenschlichen soll, um ihn zur Mutter zurückzubringen. Er überträgt ein Märchen auf das eigene Schicksal, und erst durch diese Übertragung wird David zu so etwas wie einem fühlenden und leidenden Wesen. Durch diese Übertragung, die gleichzeitig einen Lernprozess in Gang setzt, kommt Geschichte in das Leben einer Maschine – und wird damit (weitgehend) vergleichbar mit der eines Menschen.
David entwickelt einen Traum, ein Ziel, das er von nun an vehement verfolgt. Menschen spielen in der Folgezeit immer weniger eine Rolle, nur als Zerstörer, Gefahren, in der Arena, in der Menschen nach dem bekannten Muster von Brot & Spiele Meccas zerstören – unter dem tosenden Beifall der Besucher. „Fleisch-Fest – Fest des Lebens“ nennen die Menschen diese Vernichtungsaktion und begründen sie damit, dass die gefühllosen Maschinen keine Überhand gewinnen dürften!
David und Gigolo Joe (Jude Law), ein Maschinen-Callboy, der von Frauen gemietet werden kann und die sexuellen Wünsche besser als jeder Mann erfüllen soll (ohne Folgen, versteht sich), begegnen sich hier, gefangen im Käfig. Und wieder steht die Welt Kopf: Als das Publikum David sieht, protestiert es gegen seine Vernichtung, weil es ihn für einen Menschen hält. Wir protestieren mit. Warum? David schreit, zeigt Gefühle, akklamiert seinen Wunsch, seine Sehnsucht. Das kann nur ein Mensch! Er und Joe entkommen, und in Rouge City, einem riesigen Vergnügungsviertel, dem Sodom und Gomorrha der Zukunft, führt ihn Joe zu einem Wahrsager, einem Computer, der den Namen Dr. Know trägt, aus dessen Antworten auf die Frage nach der blauen Fee Joe schlussfolgert, man müsse an das Ende der Welt reisen, um sie zu finden. Vieles läuft in „A.I.“ wie im Märchen, allerdings in einer technizistisch überwölbten Welt und so real, dass es erschreckend und phantastisch zu gleichen Teilen ist.
Aus der Sex-Maschine Joe entwickelt sich plötzlich und paradoxerweise: ein Freund. Ein Freund, der David folgt und ihm hilft, obwohl er weiß und dies auch David sagt, dass Menschen Maschinen nur wegen dem lieben, was die Maschinen für sie tun, nicht aber die Meccas selbst. Diese „maschinelle“ Art der Solidarität, des Gesellschaftlichen, scheint ohne wirklichen Eigennutz. Doch sie resultiert daraus, dass Joe seine Funktion für Menschen verloren hat (er sollte vernichtet werden). Was sollte er jetzt tun? Aus dem Funktionsdefizit, aus einem Mangel heraus (!), entwickelt Joe ein anderes Interesse. Er macht aus der Not eine Tugend. Auch er, der Ex-Stricher, lernt.
Joe hält das versunkene Manhattan, wo nur noch die Wolkenkratzer aus dem Meer ragen, für das Ende der Welt. Dort fliegen Joe und David und Teddy hin und dort trifft David auf Prof. Hobby und muss feststellen, dass der inzwischen Dutzende von Davids produziert hat und durch die Beeinflussung von Dr. Know ihn hierher gelockt hat. Und nun entwickelt David so etwas wie Individualität: Er zerschlägt einen seiner bereits fertigen Klone. Und mit dieser Individualität einher geht – ebenfalls entlang der Menschheitsgeschichte – die Entstehung von Abgrenzung, Gewalt, Vernichtungswillen – und Verzweiflung.
Und wiederum folgt ein Akt, der einen Fort-Schritt darstellt: David, der auf dem Rand eines Wolkenkratzers sitzt, lässt sich fallen, stürzt ins Meer – und findet dort scheinbar die Erfüllung all seiner Träume: eine menschengroße weibliche Figur, die er für die blaue Fee hält. Märchen aller Orten. Denn auch hier greift die Inszenierung des Regisseurs knallhart ein. Sie lässt ihn fallen. Aber dieses Fallen, dieser Sprung in die Tiefe, die einen Menschen wahrscheinlich getötet hätte, dieser Selbstmordakt, ist doch „nur“ Symbol für einen dieser Sprünge, die die Menschheitsgeschichte immer wieder geprägt haben: Man muss ins kalte Wasser springen, um fortzukommen.
Zusammen mit Teddy sitzt er dort, in dem Fahrzeug auf dem Meeresgrund, mit dem er hierher gekommen ist, 2000 Jahre lang und bittet die Fee immer wieder, ihm seinen Wunsch zu erfüllen: Mensch zu werden. Als die Außerirdischen, freundliche, wohlgesonnene Wesen, ihn aus dem Eis ziehen und die Fee zerfällt, scheint Davids Traum unerfüllbar geworden. Doch in Wirklichkeit wird sein Traum auf ein realistisches Maß zurecht geschnitten: Aus der DNA der Locke, die David aufgrund einer Racheaktion Martins Monica abgeschnitten und die Teddy aufbewahrt hatte, können die fremden Wesen für einen Tag Monica zum Leben erwecken – ein Tag des Glücks, der Erfüllung, aber auch ein Tag des endgültigen Abschieds, ein Tag der Freude und der Tränen für David, ein Tag von dem einer der Außerirdischen sagt:
„... Und zum ersten Mal kam er an den Ort, wo die Träume geboren werden.“
Man könnte sagen, dass dieses Ende ein typisch Spielberg’sches Ende ist, ein Ende, in dem Spielberg (wie in „E.T.“) die Grenzen der Erfüllung kindlicher Träume und Wünsche auslotet, ein aus humanistischer Tradition geborener Schluss, der zwar der Menschheit, die es nicht mehr gibt, aber ihrer Geschichte eine Chance gibt, denn in David ist all das gespeichert, was für die Menschheitsgeschichte wesentlich ist. Wäre Kubrick da nicht pessimistischer gewesen, hätte er einen anderen Schluss bevorzugt?
Wenn man sich an das Ende von „2001: A Space Odyssee“ erinnert, ist dies zumindest fraglich. Will man „A.I.“ unbedingt als verfremdete „Geschichte vom Erwachsenwerden“ verstehen (Pinocchio könnte ja darauf hindeuten), würde dieses Ende Distanz zu Kubrick bedeuten. Ich sehe das anders. Spielberg ist hier sehr nahe an Kubricks Frage „Was nach dem Menschen kommt ...“, indem er (ähnlich, wenn auch anders wie Kubrick in „2001“) die Menschheitsgeschichte in ihren wesentlichen emotionalen wie verstandesmäßigen „Eckpunkten“ – verfremdet durch die Hauptperson, eine Maschine – nacherzählt: Unschuld, Vertreibung aus dem Paradies, Gedächtnis, Individualität, Sozialität, vor allem aber die scheinbar unausweichliche Entwicklung hin zur instrumentellen Vernunft im Sinne Adornos, einer Vernunft, die die negativen und negierenden Folgen der Dialektik der Aufklärung zum Maßstab menschlichen Daseins werden lässt. „Der Zweck heiligt die Mittel“ ist dafür nur ein schwacher Ausdruck. Das Robbespierre’sche „Tugend durch Terror“ schon eher – auch wenn dies in „A.I.“ nicht derart brutal erscheint, weil die Erzählung sich scheinbar auf einen widerstreitenden Begriff von Liebe reduziert.
Wie bei Kubrick jedoch auch verbleibt eine bei Spielberg vielleicht nicht aus der Verzweiflung geborene, aber dennoch vage „Hintertür“, ein „Hintertreppchen“: Monicas emotional bedingte Erinnerung an Mitgefühl und die Geschichte von Pinocchio als Grund für die Suche nach der Erfüllung, nach Glück. Als Monica nach dem einen Tag Glück wieder einschläft und stirbt, liegt David neben ihr und schläft ebenfalls. Er, die fühlende Wunschmaschine, trägt die Summe menschlichen Daseins und die Substanz der Geschichte in all ihrer Dialektik in sich – wie wir alle. Wir müssen sie nur entdecken.
Minority Report (Minority Report) USA 2002, 145 Minuten Regie: Steven Spielberg
Drehbuch: Scott Frank, nach einer Kurzgeschichte von Philip K. Dick Musik: John Williams, Johann Sebastian Bach, Pyotr Ilyich Tchaikovsky Director of Photography: Janusz Kaminski Montage: Michael Kahn Produktionsdesign: Alex McDowell
Darsteller: Tom Cruise (Detective John Anderton), Colin Farrell (Detective Danny Witwer), Samantha Morton (Agatha), Max von Sydow (Director Lamar Burgess), Lois Smith (Dr. Iris Hineman), Peter Storemare (Dr. Solomon), Tim Blake Nelson (Gideon), Steve Harris (Jad), Kathryn Morris (Lara Anderton), Mike Binder (Leo Crow), Daniel London (Wally), Neal McDonough (Officer Gordon Fletcher), Jessica Capshaw (Evanna), Patrick Kilpatrick (Officer Jeff Knott), Jessica Harper (Anne Lively) Ashley Crow (Sarah Marks), Arye Gross (Howard Marks), Anna Maria Horsford (Casey), Sarah Simmons (Lamar Burgess Sekretärin)
Gegen den Strich
Roger Ebert schrieb in seiner Rezension zu diesem Film, Spielberg habe „Minority Report“ mit Hilfe (!) der neuen technischen Möglichkeiten inszeniert, während andere Regisseure diese Technologien zum Inhalt ihrer Filme machten. Spielberg sei ein Meister der neuen Techniken des Films, aber er setze ausschließlich auf Geschichte und Charaktere.
Spielbergs letztes Leinwandepos – „Artificial Intelligence“ – löste bei etlichen, Publikum wie Kritik, nicht gerade Begeisterungsstürme aus. Ich habe diesen Film geliebt und ich liebe „A.I. – Künstliche Intelligenz“ noch immer. Er basierte auf einer Idee von Stanley Kubrick und meinem Gefühl nach hat er auch viel von Kubricks Art zu filmen. „Minority Report“ ist eine Art Fortsetzung von „A.I.“, wenn auch mit anderen Mitteln und einer anderen Geschichte.
John Anderton (Tom Cruise) ist Lamar Burgess (Max von Sydow) bestes Pferd im Stall. Burgess ist Leiter einer Polizeisondereinheit im Washington des Jahres 2054, die darauf spezialisiert ist, Morde im voraus zu verhindern und die potentiellen Mörder auf Eis zu legen. Ermöglicht wurde dies durch eine zufällige Entdeckung der Wissenschaftlerin Iris Hineman (Lois Smith) die im „genetischen Kampf“ gegen Drogenmissbrauch. Ergebnis sind drei Individuen, die sich nun in einer Nährflüssigkeit in einem von der Außenwelt vollständig abgekapselten Raum im Hauptquartier der Pre-Crime-Polizisten in einer Art Dauerhalbschlaf befinden. Diese drei Pre-Cogs, die beiden Männer Dashiell und Arthur sowie Agatha (Samantha Morton), können Morde voraussehen. Durch ein aufwendiges Verfahren werden die Bilder ihrer Visionen auf einem gläsernen Bildschirm sichtbar gemacht. Sie liefern auf Kugeln die Namen der Opfer und der Täter des zukünftigen Verbrechens. Anderton und seine Kollegen liefern die potentiellen Mörder in einem Raum bei Gideon (Tim Blake Nelson) ab, der als mit allen technologischen Raffinessen ausgestatteter Gefängniswärter über die in Säulen versenkten „Täter“, die den Rest ihres Lebens in eine Art Koma versetzt werden, wacht.
Pre-Crime sorgte dafür, dass es in Washington sechs Jahre lang keinen Mord mehr gab. Nun schickt der karrierebesessene Generalstaatsanwalt seinen Adlatus Danny Witwer (Colin Farrell) in das Hauptquartier mit dem Auftrag, Fehler im System zu entdecken, um das Projekt unter seine Obhut zu bringen und es dann über das gesamte Land auszudehnen.
Anderton ist ganz und gar überzeugt von seiner Arbeit. Das hat nicht zuletzt darin seinen Grund, dass er vor etlichen Jahren seinen Sohn Sean im Schwimmbad verloren hat. Der Junge verschwand damals spurlos. Andertons Frau Lara (Kathryn Morris) hatte ihren Mann daraufhin verlassen. Anderton hat nur noch holografische Aufzeichnungen, die ihn an Sean erinnern und die er sich immer wieder ansieht. Er glaubt, dass sein Sohn ermordet worden ist.
Dann allerdings passiert etwas, was Anderton aus dem Gleichgewicht bringt. Kurz nachdem Witwer den Raum mit den Pre-Cogs inspiziert hat, erscheint auf dem Bildschirm Anderton selbst als Mörder. In 36 Stunden soll er einen gewissen Leo Crow (Mike Binder) erschießen, den er gar nicht kennt. Anderton gelingt die Flucht aus dem Hauptquartier, verfolgt von seinen eigenen Leuten. Er glaubt an eine Manipulation und begibt sich auf die Suche nach der Wahrheit. Dabei stößt er auf eine unglaubliche Geschichte ...
Spielbergs Sciencefiction ist tatsächlich eine phantastisch komponierte Geschichte über die Frage der (staatlichen) Verhaltenskontrolle, hier bezüglich der Mord-Kriminalität, in erster Linie aber eben nicht eine eingeschränkte Auseinandersetzung über die Methoden und Inhalte der Verbrechensbekämpfung, wie einige Filmkritiken suggerieren. Es geht um mehr. Vordergründig ist die Aussage von „Minority Report“ klar und mehr als deutlich: Darf eine staatlich verfasste Gesellschaft – und andere kennen wir heutzutage nicht mehr – in derartiger Weise in das Verhalten eingreifen? Spielbergs Antwort ist so eindeutig „Nein“, wie die Realität uns schon heute ein klares „Ja“ auf diese Frage gibt.
Das, was schon heute unter dem hochtrabenden Titel „Vorbeugende Verbrechensbekämpfung“ mit den Mitteln der visuellen Überwachung, der V-Leute und allerlei technischen Finessen in dieser Hinsicht praktiziert wird, schreibt die auf einer Kurzgeschichte von Philip K. Dick aus den 50er Jahren stammende Handlung logisch fort. Sicher, die Gedankenleserei, die in „Minority Report“ dargestellt wird, könnte man wie fast jede Sciencefiction-Idee als aberwitzig abtun: So etwas wird es nie geben. So etwas vielleicht nicht. Aber diese Erfindung dient Spielberg ebenso wie die rasanten Verfolgungsjagden und digitalen Tricks „nur“ als Transportmittel einer erschreckenden Bilanz – einer Bilanz der Gegenwart, nicht der Zukunft.
Pre-Crime und Pre-Cogs sind die Kennzeichen einer totalen Aufhebung jeglicher rechtsstaatlicher und menschenrechtlicher Garantien in einer neuen und ganz anderen Form totalitärer Herrschaft, als sie die Diktaturen des 20. Jahrhunderts darstellten. Die Pre-Cogs werden von der Bevölkerung gefeiert. In einer Szene z.B. krabbeln Techno-Spinnen auf der Suche nach Anderton durch ein Wohnviertel, in dem 29 Menschen ausgemacht wurden, um durch Scannen der Augen deren Identität zu ermitteln. Tom Cruise (Anderton) weiß, in welcher Gefahr er sich befindet. Er legt sich in eine mit Eiswasser gefüllte Badewanne, um seine Körperwärme, auf die die Spinnen programmiert sind, zu senken. Sie finden ihn trotzdem. Inzwischen allerdings hat er die Augen eines anderen. In dieser Sequenz des Films krabbeln die Scan-Spinnen durch allerlei Zimmer der Anwohner, die sich gerade streiten, beim Essen sitzen oder sonst einer Tätigkeit nachgehen. Sie lassen sich durch die Spinnen unterbrechen, scannen, damit ist für sie die Angelegenheit erledigt, und sie streiten, essen weiter. Nur eine Mutter ist besorgt, weil ihre Kinder Angst bekommen. Im großen und ganzen aber hat das Verfahren des Pre-Crime die Akzeptanz der Bevölkerung erlangt. Das Private, das Intime, das durch die Verfassung „eigentlich“ geschützt ist, rangiert nunmehr unterhalb dessen, was die Verfechter von Pre-Crime Sicherheit nennen. Die Erfolgsbilanz scheint ihnen Recht zu geben.
Selbst die Kaufhäuser und sonstigen öffentlichen Gebäude sind durch Kameras überwacht, die die Augen der Besucher und Kunden auf Identität scannen. Die Werbung ist „individuell“ abgestellt auf den einzelnen Konsumenten. Die Werbeleinwände sprechen die Kunden beim Vorbeikommen mit deren Namen an.
Die Umgebung, die Spielberg zeigt, unterscheidet sich nur wenig von der Gegenwart. Zwar fahren hochentwickelte Fahrzeuge nicht nur auf Straßen, sondern bewegen sich auch in der Vertikalen und seitwärts. Doch neben diesen Neuerungen hat sich in 50 Jahren nur wenig geändert. Die Erfinderin der Pre-Cogs, Dr. Iris Hineman, zum Beispiel, die Anderton aufsucht, lebt in einem durch genetisch veränderte Pflanzen (allerdings nur unzureichend) gesicherten alten Haus auf dem Land, umgeben von ihren Pflanzen, die sich fast alle bewegen. Sie lebt in sich zurückgezogen, halb stolz, halb verbittert über ihre Arbeit, die zu Pre-Crime geführt hat. Hilflos, machtlos und im Zweifel darüber, ob Pre-Crime denn nun ein Fortschritt ist oder Ausdruck von Barbarei, doch noch immer ihrer genetischen Forschung verhaftet, wenn auch auf Pflanzen beschränkt.
Auch Lara Anderton lebt mitten in der „unberührten“ Natur, an einem See, zurückgezogen, abseits der Großstadt, fern jeder Hochtechnologie, immer noch in Trauer um ihren verlorenen Sohn. Anderton selbst ist gespalten in eine Person der öffentlichen Verfolgung und in den trauernden Vater. Er glaubt jedoch, mit seiner Arbeit das verhindern zu können, was ihm passiert ist. Er sieht keinen Widerspruch zwischen seinen Erfahrungen und seiner Arbeit, im Gegenteil. Und darin täuscht er sich so gewaltig, wie er es nie geahnt hätte.
Ich muss das an dieser Stelle andeuten, weil es die Brisanz des Films ausmacht: Die grundlegenden Merkmale rechtsstaatlicher Garantien sind u.a. die Unschuldsvermutung (jeder Angeklagte gilt als unschuldig, bis er rechtskräftig verurteilt wurde), der Schutz der Privatsphäre vor staatlichen Eingriffen, das Prinzip in dubio pro reo (man, der Staat, muss eine Straftat nachweisen, sonst kann niemand verurteilt werden), aber auch nulla poena sine lege, keine Strafe ohne Gesetz. Die verhinderten Mörder im Film werden durch lebenslanges Einsperren in gläserne Röhren nicht nur für etwas bestraft, was sie zwar begehen wollten, aber nicht begangen haben. Sie werden damit auch einem Prinzip unterworfen, das von Rechtsprechung und Staats- und Strafrechtlern des „Dritten Reichs“ entwickelt wurde: dem sog. Willensstrafrecht, einem Gesinnungsstrafrecht, das im nationalsozialistischen Staat das Tatstrafrecht durch das sog. Täterstrafrecht ablöste. Entscheidend sei, so z.B. der damalige Justizminister Franz Gürtner, nicht die Tat eines Verbrechers als solche, sondern der kriminelle Wille. Wer einmal morde, morde immer wieder. Das war u.a. die Geburtsstunde der sog. „Sicherungsverwahrung“ und der „Schutzhaft“. Der Strafrechtler Georg Dahm schrieb z.B. 1935 in der „Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft“ (S. 261), dass das nationalsozialistische Recht „die Verteidigungslinie vorverlegen will, nicht abwarten will, bis der Verbrecher seine Absicht verwirklicht“. Bestimmte Gewalttäter mussten nicht nur ihre Zeitstrafe absitzen, sondern wurden danach lebenslang in Sicherungsverwahrung oder sogar Strafhaft genommen.
Genau dies geschieht mit den potentiellen Mördern in „Minority Report“.
Spielberg exemplifiziert diese Probleme exzellent – nicht mit Hilfe eines „Weltenretters“, eines Superman oder Batman, der durch einsame Heldentaten die Nation befreit. Er erzählt die Geschichte eines Mannes, der über sein eigenes Schicksal Bescheid zu wissen glaubt, sich dabei gründlich irrt und gezwungen ist, die Wahrheit selbst herauszufinden. Er ist nach Strich und Faden betrogen worden. Gerade diese Art der Inszenierung macht den Film äußerst spannend. Doch nicht nur das: Spielberg verdeutlicht, wie stark diejenigen, die als eifrige und völlig überzeugte Verfechter des Pre-Crime auftreten selbst nach dem Prinzip handeln: Der Zweck heiligt die Mittel. Sie wenden Mittel an, um ihr Projekt zu realisieren und auszuweiten, die dem proklamierten Ziel selbst widersprechen, ja es ad absurdum führen. Der „Minderheiten-Report“, das sind die Aufzeichnungen über abweichende Gedanken der Pre-Cogs in bestimmten Fällen, also wenn etwa zwei von ihnen ein Verbrechen voraussehen, der dritte aber nicht – diese Berichte wurden gelöscht: Es darf keinen Zweifel an der absoluten Zuverlässigkeit des Systems geben. Auch hierfür ist jedes Mittel recht.
Die Geschichte selbst ist einfach, klar und unmissverständlich gestrickt – jedoch nicht simpel. Die Aussage des Films ist derart klar, dass man an einer Diskussion über das Thema eigentlich nur vorbeikommt, wenn man seineDenkfähigkeit abschalten könnte oder die zugrundeliegenden Probleme – aus welchen Gründen auch immer – bagatellisiert.
Nicht nur die prognostizierten Verbrecher, auch die drei Pre-Cogs sind Opfer eines Sicherheitsfanatismus und -fatalismus, einer falsch verstandenen Verbrechensbekämpfung und vor allem dadurch auch einer riskanten sozialen Idee: Sie, drei Menschen immerhin, sollen zeit ihres Lebens in einem verschlossenen Raum in einer Flüssigkeit, so gut wie bewegungslos verbringen, abgetrennt von jeglichen sozialen Kontakten, beaufsichtigt durch einen „Babysitter“, der ihnen „schöne“ Worte zuflüstert, die an ihrer Situation als Gefangene des Systems nichts ändern. Individualität ist hier abgeschafft. Individualität ist in dieser nicht allzu fernen Zukunftsgesellschaft einem durch Technologie unterstützen Sicherheitsdenken geopfert, das nichts weiter als eine neue Form des Totalitarismus darstellt – gebilligt und begrüßt von einer Mehrheit der Bevölkerung, die sich selbst diesem System unterwirft.
Spielberg demonstriert schließlich eindrücklich, dass nicht technologische Neuerungen gesellschaftliche Entwicklungen prägen. An seinen Figuren – sei es nun Anderton oder Burgess oder Witwer – wird im Gegenteil einmal mehr exemplifiziert, dass sie es sind, die an entscheidenden Punkten die Wahl haben, den einen oder anderen Weg zu gehen. Wie schwierig das sein kann, wird in „Minority Report“ mehr als deutlich.
Wenn anfangs Tom Cruise, später Colin Farrell vor dem Bildschirm der Vorausahnungen der Pre-Cogs stehen, dann bewegen sie sich vor dieser Tafel des Grauens wie Dirigenten. Sie holen ein Bild nach dem anderen auf den Schirm, in einer , sie dirigieren eine Sinfonie des Schreckens der totalen Überwachung und des fatalen Glaubens an eine totale Sicherheit. Spielberg führt das System ad absurdum (ich will darüber natürlich nichts verraten). Aber man stelle sich vor, ein solches System würde auch auf andere Straftaten angewendet.
Ein Film gegen den Strich. Ein Film gegen die fanatische, riskante, ja teilweise lebensgefährliche Sicherheitsideologie, die nicht nur in den Vereinigten Staaten ihr Unwesen treibt, und eine Plädoyer für eine Gesellschaft, in der der einzelne im Zentrum steht und nicht „das System“, „der Staat“, „die Sicherheit“, „die Werte“ – oder hinter was sich Ideologien, Systeme, die an einer fixen Welt mit fixen Prinzipien festhalten wollen, noch zu verbergen glauben (können) – Ideologien, die auf die wirklichen Fragen keine wirklichen Antworten kennen und kennen können, die sich hinter der Macht verschanzen. Die Anleihen Spielbergs bei Kubrick, Fritz Langs „Metropolis“ und auch Charlie Chaplins „Moderne Zeiten“ sind unübersehbar, aber er kleistert „Minority Report“ damit nicht zu. Es sind „sanfte“ Anleihen, mit denen Spielberg sich in eine Tradition stellt – und das ist gut so. Eine Tradition, die die „filmischen“ Finger in die tiefen Wunden unserer Zivilisation hält.
(1) Vgl. dazu z.B. Prof. Dr. Gerhard Wolf: Befreiung des Strafrechts vom nationalsozialistischen Denken; Quelle: http://www.rewi.hu-berlin.de/online/hfr/9-1996/Drucktext.html
Catch Me If You Can (Catch Me If You Can) USA 2002, 141Minuten Regie: Steven Spielberg
Drehbuch: Jeff Nathanson, nach dem Buch von Frank W. Abagnale und Stan Redding Musik: John Williams Director of Photography: Janusz Kaminski Montage: Michael Kahn Produktionsdesign: Jeannine Oppewall, Sarah Knowles, Peter Rogness, Michael Laliberte
Darsteller: Leonardo DiCaprio (Frank Abagnale), Tom Hanks (Carl Hanratty), Christopher Walken (Frank Abagnale, Sr.), Martin Sheen (Roger Strong), Nathalie Baye (Paula Abagnale), Amy Adams (Brenda Strong), Jennifer Garner (Cheryl Ann), Frank John Hughes (Earl Amdursky), Brian Howe (Tom Fox), Chris Ellis (Agent Witkins), Ellen Pompeo (Marci), Shane Edelman (Dr. Harris), Matthew Kimbrough (Kreditberater), Jonathan Brent (Dr. Ashland), James Brolin (Jack Barnes), Steve Eastin (Paul Morgan), John Finn (stellvertretender Direktor), Nancy Lenehan (Carol Strong)
Swinging Sixties?
Die Sicht auf vergangene Jahrzehnte ist oft versperrt oder zumindest verschoben, weil wir diesen Jahrzehnten noch zu nahe sind – zumindest die von uns, die in dieser Zeit als Kinder aufgewachsen sind, aber auch die, die wenig darüber erfahren. Wer weiß schon, was in den 50er Jahren wichtig war – denen, die damals lebten, denen die später ihre Eltern- und Großelterngeneration anprangerten angesichts der Verwicklung in die Zeit vor 1945. Die 50er Jahre gelten noch immer als Zeitalter der konservativen Restauration nach dem Krieg – zumindest was Deutschland betrifft. Die 60er stehen im Ruch und Geruch des „Kalten Krieges“. An alldem ist sicherlich vieles richtig, aber wie oft drückt dies nur die halbe Wahrheit und damit gar keine aus. Denn über das Lebensgefühl dieser Zeiten sagt derlei wenig aus.
Merkwürdig: Aber über die Zeit des Nationalsozialismus, der organisierten Vernichtung von Menschen wissen jüngere Generationen heute oft mehr als über die Zeit zwischen 1945 und dem Beginn der sog. „Kohl-Ara“. Im Geschichtsbewusstsein klaffen Lücken, riesige Lücken. Man nennt diese Zeit der 50er und ersten Hälfte der 60er Jahre oft die „Adenauer-Ära“. Und man muss sich angesichts solch personeller Zuspitzungen auf eine – sicherlich entscheidende – Person dieser Zeit mit Bertolt Brecht fragen: Cäsar eroberte Gallien. Hatte er nicht wenigstens einen Koch dabei? Für die Verhältnisse in den USA in bezug auf diese Zeit wird anderes, aber ähnliches gelten.
Steven Spielberg ist ein schlauer Fuchs. Dieser Film scheint in seiner Werkgeschichte eine Ausnahmeerscheinung, ein wenn auch positiv zu sehender Fauxpas, ein Ausflug in die unbefangene, belanglose, wenn auch durchaus gute Komödie, kein allzu ernst zu nehmender Film, der unpolitisch daher kommt, eine bisschen Satire vielleicht, eine beschwingte, leichte Komödie, die vielleicht nur zufällig im Amerika der 60er Jahre spielt, weil eben die reale Person des Frank Abagnale sein „Unwesen“ als Betrüger in dieser Zeit trieb. Von wegen zufällig!! Nein, nein, nicht nur die Bilder, die Musik, die Kostüme, die Kulisse, die Charaktere, die Handlung, die Umstände – nicht nur all dies ist einer Zeit verhaftet, die manche gern – im Vergleich zu dem, was folgte: Vietnam, Watergate vor allem – die Zeit der Unschuld nennen (möchten). Spielberg versetzt uns im wahrsten Sinn des Wortes in eine Zeit, in der tatsächlich vieles beschwingt, leicht und unschuldig anmutet. Solche Eindrücke sind zumeist trügerisch, künden von eher tragischen Dingen, die da kommen, von Ablenkung, Verleugnung, dem Sich-Hingeben an die Launen, Lüste und Laster einer nur scheinbar so reinen Zeit.
Der Vietnamkrieg begann nicht erst in den 70er Jahren, Kennedy wurde in den 60er Jahren ermordet, die Kuba-Krise, die fast einen Weltkrieg auslöste, war ein sattes Ereignis dieser Zeit, die Erstarrung angesichts des Kalten Krieges war präsent wie nie zuvor und nie mehr danach. Und was macht der schlaue Steven Spielberg daraus? Einen Film zwischen Komödie und Drama, zwischen der Tragik eines Jahrzehnts und der Komik seiner Mentalitäten. Er erzählt uns eine Geschichte, die mit alldem scheinbar nichts zu tun hat, die Geschichte des Betrügers Frank Abagnale (Leonardo DiCaprio), der einen geliebten Vater verliert und einen neuen väterlichen Freund gewinnt.
Franks Eltern, Frank Abagnale Sr. (Christopher Walken in einer seiner besten Rollen) und Paula (Nathalie Baye) hatten sich während des Krieges in Frankreich kennen gelernt. Doch in ihrer Ehe kriselt es. Paula hat ein Verhältnis mit Jack Barnes (James Brolin), einem Bekannten des Ehepaares, den sie später – nach der Scheidung von Frank Sr. – auch heiraten wird. Für Frank Jr., der sich bei beiden immer wohlgefühlt hat, ist dies eine Katastrophe. Er soll sich entscheiden, bei wem von beiden er leben will. Das kann er nicht. Statt dessen flieht er. Gerade einmal 16 Jahre alt kommt er mehr oder weniger zufällig auf die Idee, sich als Pilot auszugeben. Er hat beobachtet, wie Flugkapitäne hofiert und von Frauen umschwärmt werden. Frank entscheidet sich für eine Laufbahn als Betrüger. Er gibt sich nicht nur als Pilot aus, er lernt – fast perfekt – das Handwerk des Scheckbetrugs.
Der Betrug Franks nimmt Ausmaße an, die das FBI auf den Plan rufen. Der Experte für Scheckbetrug Carl Hanratty (Tom Hanks im 60er-Jahre-Stil!!) macht sich an die Arbeit. Aber Frank ist nicht zu fassen. Immer wieder entwischt er dem Zugriff der Bundesbehörde, gibt sich als Anwalt und Arzt aus, indem er beispielsweise ein Harvard-Diplom penibel fälscht und lernt darüber die naive, aber nicht dumme Brenda Strong (Amy Adams) und deren Eltern (Martin Sheen, Nancy Lenehan) kennen, die sich hervorragend verstehen und Frank an die Zeiten erinnern, als seine Eltern glücklich zu sein schienen.
Im folgenden entwickelt sich eine Art Katz- und Mausspiel zwischen Frank und Carl, das von zunehmendem gegenseitigen Respekt geprägt ist ...
Spielbergs Film beginnt schon im Vorspann mit den Farben und dem Design der 60er Jahre. Er spielt mit dem Gedanken an diese Zeit, und insofern ist auch der Titel des Films durchaus doppeldeutig: Fangen wir sie ein, die 60er Jahre, wenn wir es können. Fangen wir den Betrüger, wenn wir es können. Hinter der Jagd Carls auf Frank steckt mehr als die Aufklärung von Verbrechen, das am wenigsten. Der richtige wie der visuelle Frank war der Hacker von damals. So, wie Hacker in den 90er Jahren nach ihrer erfolgreichen Jagd auf Sicherheitsbereiche später zum Teil von Firmen als Experten eingestellt wurden, wird Frank Abagnale in den 70er Jahren zum führenden und hoch bezahlten Spezialisten für Scheckbetrug beim FBI.
Diese scheinbar „einfache“ Metamorphose vom Verbrecher zum Kriminalisten ist nur der äußere Rahmen für eine wesentlich komplexere Sicht. Das drückt sich schon in den Rollen der beiden Protagonisten aus. Während DiCaprio den gewieften, charmanten, flinken, oft nüchternen, in bezug auf seine Eltern allerdings sehr sensiblen Betrüger und Täuscher spielt, scheint Tom Hanks FBI-Agent ein manchmal tumber, nie lachender, ja humorloser Staatsbeamter zu sein, der nur in seiner zur Schau gestellten Ungeschicklichkeit zum Lachen reizt. Andererseits lässt Carl Hanratty nicht locker. Es scheint seine Lebensaufgabe geworden zu sein, Frank hinter Schloss und Riegel zu bringen. Im Verhältnis beider entwickelt sich so etwas wie unausgesprochene Sympathie, ja Zuneigung, etwa wenn sie immer wieder zu Weihnachten aufeinander treffen bzw. miteinander telefonieren. Hanratty will Abagnale zwar einbuchten, gleichzeitig liegt er ihm jedoch am Herzen – ein Gemisch aus Vater-Sohn-Verhältnis und Männerfreundschaft. Wieder einmal gestalten zwei Figuren, die ihre Familie verloren haben – Frank durch die Scheidung seiner Eltern, Carl durch die Trennung von Frau und Kind – so etwas wie emotionalen Zusammenhang durch einen Konflikt, der sich zwar als Auseinandersetzung um Recht und Gesetz darstellt, aber letztlich geht es um anderes.
Frank linkt zu Beginn Carl, indem er sich – als er schon gestellt zu sein scheint – seinem FBI-Gegenüber als Mitarbeiter des Geheimdienstes ausgibt, der auch hinter dem Betrüger her sei. Carl fällt darauf herein. Später entschuldigt sich Frank bei Carl, der ihm das nicht so recht abnehmen will, aber auch unsicher ist, ob Frank es nicht doch ein bisschen ernst meint. Franks Weg ist der der leisen, aber betonten Rache am verlorenen Vater. Frank Sr. ist nicht verloren, weil er seinen Sohn im Stich lässt, sondern weil er bankrott ist, die Staatsanwaltschaft ihm im Nacken sitzt, seine Frau ihn verlassen hat und er für seinen Sohn nicht viel tun kann. Frank Jr. kann das nicht akzeptieren, nimmt sich von denen, die er für die Situation seines Vaters verantwortlich hält: Banken und Staatsmacht. DiCaprio spielt keinen Revolutionär, keinen Rebellen, seine Motive sind keine politischen. Sie sind persönlich, sehr persönlich, und drücken damit eine Zeitstimmung aus, die man vielleicht als „vor-rebellisch“ bezeichnen könnte. Frank Jr. hat nichts mit der 68er-Bewegung, die es auch in den USA gab, zu tun. Er steht tatsächlich noch für eine andere Zeit, eine andere Generation, eine andere Atmosphäre. Versöhnung ist noch möglich, denkbar, mir ihr kann man in bezug auf Frank noch kalkulieren. Und Carl tut dies.
In beiden Charakteren drückt sich – so sehr sie auch mit Flucht hier, Verfolgung da beschäftigt zu sein scheinen – eine unterschwellige Suche aus, einer Suche nach dem, was man neudeutsch später als „Identität“ bezeichnen sollte. Frank wie Carl befinden sich in einer Art Schwebezustand zwischen zwei Epochen, der Nachkriegs-Ära und der Zeit nach Vietnam, nach 1968, einer Epoche des ungebrochenen Optimismus – trotz aller Tragik weltpolitischer Ereignisse –, des uneingeschränkten Glaubens an Emporkommen, wirtschaftliche Prosperität, farbiges Leben. Nur dieser Optimismus macht einen Betrüger wie Frank möglich. Im Rausch dieses Glaubens an wachsendes und ständiges Glück fallen die kleinen verborgenen Dinge, die Täuschungen weniger auf, auch wenn Frank trotzdem einige Mühe darauf verwenden muss, Harvard-Diplom, Schecks usw. überzeugend zu fälschen.
Man erinnere sich an die Filme jener Zeit, auf die Spielberg unausgesprochen, sanft, wenn auch – bei genauem Hinsehen – deutlich Bezug nimmt. Die Musik John Williams’ und die Lieder von Sinatra u.a., jedoch auch die spezielle Verve der Inszenierung geben dem eine zusätzliche Note.
Leonardo DiCaprio spielt keinen jungen Helden, schon gar keinen, der übertrieben und maßlos sein (Un-)Wesen treibt. Er spielt diesen Frank Abagnale eher fast zurückhaltend und doch zugleich gerissen und wendig, tragisch und komisch, auf natürliche Art charmant und traurig. Es gibt einige sehr beeindruckend Szenen zwischen ihm und dem exzellent aufspielenden Christopher Walken als seinem Vater. Tom Hanks ist einfach grandios als humorloser, leicht steifer FBI-Agent, der sein Ziel fest im Auge hat, und nach etlichen vergeblichen Zugriffsversuchen Frank doch noch schnappen kann. Martin Sheen als Vater Brendas und Amy Adams als Brenda mit Zahnspange ergänzen die insgesamt ausgezeichnete Besetzung des Films.
Spielberg spielt. Er spielt mit der Annäherung an eine Zeit, die bislang nur wenig thematisiert wurde, jedenfalls nicht im Kino. Natürlich ist „Catch Me If You Can“ als Dreamworks-Produktion auch Hollywood-like. Aber ich muss zugeben, dass mich das bei Spielberg bisher kaum gestört hat, vor allem weil er nicht den Fehler begeht, Wahrheiten zu verkünden und etwas als selbstverständlich visualisiert, was nicht selbstverständlich, sondern historisch bedingt ist. Er bleibt konsequent bei seiner Geschichte und seinen Charakteren und überlässt es seinem Publikum – nicht nur zu lachen, sondern auch zu denken. Insofern steht der Film dann eben doch in einer Reihe mit vielen anderen Inszenierungen eines Regisseurs, dem die amerikanische Geschichte am Herzen zu liegen scheint.
Weitere Spielfilme von Spielberg:
“Duell” (1971) “München” (2005) “Unheimliche Begegnung der dritten Art” (1977) “Der weiße Hai” (1975)
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