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Summer of Sam (Summer of Sam) USA 1999, 142 Minuten Regie: Spike Lee
Drehbuch: Victor Colicchio, Michael Imperioli, Spike Lee Musik: Terence Blanchard Director of Photography: Ellen Kuras Montage: Barry Alexander Brown Produktionsdesign: Thérèse De Prez
Darsteller: John Leguizamo (Vinny), Mira Sorvino (Dionna), Jennifer Esposito (Ruby), Adrien Brody (Richie), Michael Rispoli (Joe T), Bebe Neuwirth (Gloria), Al Palagonia (Anthony), Ken Garito (Brian), Saverio Guerra (Woodstock), Michael Badalucco (David Berkowitz), Mike Starr (Eddie), Patti Lu Pone (Helen), Spike Lee (John Jeffries), Ben Gazzara (Luigi), Anthony La Paglia (Detective Lou Petrocelli)
Dead End
Manchmal beschleicht einen das Gefühl, man sei aufgehoben, manchmal das, man sei völlig verlassen – trotz der Umgebung und dem Trubel einer Großstadt, der Großstadt, der Stadt, in der wohl die meisten Filme spielen. Der Journalist, der am Anfang und Ende des Films von Spike Lee zu hören ist, spricht davon, dass er in einer Stadt lebe, die er genauso hasse wie er sie liebe. Das NY von irgendwann früher ist nicht das NY von heute, und doch bleibt etwas, was, egal welche Filme in dieser Stadt spielen, egal zu welcher Zeit, immer gleich zu sein scheint. Was es ist, ist schwer in Worte zu fassen. Spike Lee („25 Stunden“, 2002; „It’s Showtime“, 2000) siedelt seine Geschichte, in der es vordergründig um einen Serienkiller, einen Psychopathen, geht, im NY des Jahres 1977 an – in einem dieser heißen Sommer, in dem die Hitze das Gemüt von Millionen von Menschen zu erfassen, ja zu manipulieren scheint. Aber das täuscht.
Wir hören Abba mit „Dancing Queen” und „Fernando”, wir hören „Boogie Night”. Und wir befinden uns in jenen Jahren, in denen das Saturday Night Fever grassiert, die Discos voll sind, das Lebensgefühl einer Generation prägen – nach einer Generation, die durch ganz anderes geprägt wurde: durch den Kampf gegen Rassentrennung und -diskriminierung, gegen den Vietnam-Krieg, gegen Nixon und seine korrupte Politik und seine korrupten Handlanger. Fast scheint es, als brauche die Folgegeneration einer solchen „kampferprobten” Generation so etwas wie ein verdrängtes Bewusstsein, einen Rausch, hier den Disco-Rausch, die Porno-Szene, die in jenen Jahren grassierte (man denke an Paul Thomas Andersons „Boogie Nights” von 1997), das Kokain, den Alkohol und die üblichen Ausschweifungen der üblichen Verdächtigen.
Es ist schwül. Und dann noch das: Ein Serienkiller macht sich breit, ermordet hier ein Pärchen, dort eine einzelne junge Frau. Vor allem dunkelhaarige junge Frauen sind unter seinen Opfern, die er erschießt. Ein Psychopath, der sich ausersehen sieht, im Auftrag Gottes oder was sonst auch handelt – was spielt das für eine Rolle?
Doch „Summer of Sam” – Son of Sam nennt sich der Killer David Berkowitz (Michael Badalucco) selbst – handelt weniger von diesem Killer, kaum von den Ermittlungen der Polizei. „Summer of Sam” ist ein Spektakel über ein Spektakel, ist ein mediales Ereignis über ein mediales Ereignis. Und selbst Regisseur Spike Lee hat sich als Reporter John Jeffries in den Rummel eingeschaltet, der alles andere ist als nur ein medialer Rummel.
Im Mittelpunkt stehen zwei Pärchen und deren Bekannte und Freunde. Wir treffen auf den Disco-King Vinny (John Leguizamo), der im Friseursalon von Gloria (Bebe Neuwirth) arbeitet und mit Dionna (Mira Sorvino) verheiratet ist, die im Restaurant ihres Vaters arbeitet; auf Richie (Arien Brody), der nach langer Zeit nach NY zurückkehrt – mit Punk-Frisur und einem T-Shirt mit aufgedruckter britischer Flagge – und auf Ruby (Jennifer Esposito), die sich in Richie verliebt. Alle wohnen in einem Viertel, in dem auch sonst viele italienisch-stämmige Amerikaner leben. Und sie treffen sich an einer Straße, die am Meer endet – irgendwo in der South Bronx. Dead End.
Nachdem Berkowitz, über dessen Identität lange Zeit niemand Bescheid weiß, erneut zugeschlagen hat, gerät Vinny durcheinander. Die Opfer waren zwei Nachbarn aus dem Viertel, in dem er mit Dionna lebt. Er scheint so verängstigt, dass er Dionna schwört, er werde ab sofort der beste Ehemann für sie, den sie sich vorstellen könne. Vinny gehört zu jenen Männern, die trotz ihrer Ehe nichts anderes im Kopf haben, als wild in der Gegend herum zu vögeln. Richie hingegen, der kein Geld hat, den der Freund seiner Mutter in die Garage verbannt, um vor ihm Ruhe zu haben, treibt sich als Tänzer in einer Schwulenbar herum und dreht Pornos, um an ein bisschen Geld zu kommen. Seit er sein Outfit verändert hat, nehmen die anderen im Viertel Abstand von ihm, meiden ihn, genauso wie Woodstock (Saverio Guerra), den kleinen Dealer, oder Bobby (Brian Tarantina), den Schwulen.
Während Detective Petrocelli (Anthony La Paglia), der selbst aus dem Italiener-Viertel stammt, sogar den örtlichen Mafia-Boss Luigi (Ben Gazzara) bittet, ihm bei der Killer-Suche behilflich zu sein, ist der unbekannte Killer, der immer wieder zuschlägt, Tag für Tag Thema der Schlagzeilen aller Zeitungen und Fernsehsender. Aus Angst lassen sich viele Frauen mit dunklen Haaren blond färben. Und Luigi schickt seine Mafiosi auf die Straße, um jeden verdächtigen Mann einer eingehenden Kontrolle zu unterziehen. Polizisten fahren freiwillig Sonderschichten, während Berkowitz – ein offensichtlich psychisch kranker Mann – in seiner Wohnung abwechselnd tobt und seine Mission beschwört – ja phantasiert, ein Hund würde ihn zum Weiter-Morden auffordern.
Unterdessen knistert es immer drastischer zwischen Vinny und Dionna, die ihren Mann verlässt. Und Vinnys Freunde, Joe T. (Michael Rispoli) vor allem, glauben, den Killer gefunden zu haben: Richie, den sie eh nicht mögen ...
Spike Lee zeigt ein New York der durch die Existenz des Killers aufbrechenden Konflikte. Trotz der ganzen Disco-Fever-Atmosphäre, der Porno- und Drogenszene, des ganzen Looks jener Jahre, trotz allen Glitzers und Glamours herrscht etwas anderes in der Stadt. Man könnte sagen: Hass, Rassismus und Dummheit. Aber da ist noch mehr. Lee desavouiert die persönlichen Beziehungen als leer und instrumentell. Vinny, der immer wieder mit anderen Frauen ins Bett geht, setzt nicht nur seine Ehe mit Dionna aufs Spiel. Es ist Dionna, die immer deutlicher erkennt, worauf sie sich eingelassen hat – bis dahin, dass sie einwilligte, mit Vinny in eine Art Swinger-Club zu gehen, weil der mit ihr nicht mehr schlafen konnte. Auf der Rückfahrt beschimpft er sie als Hure, Lesbe und mit noch schlimmeren Schimpfwörtern, weil sie in diesem Club mit einem anderen Mann Sex hatte (das, was er doch wollte!). Dionna reagiert zu Recht aggressiv. Und allein durch diese Szene entpuppt sich all das, was Vinny und seine Freunde als Ehre, Normalität, Wahrhaftigkeit, Treue usw. hochhalten, als hohl und leer. Und Dionna? Sie zündet Kerzen in der Kirche an!
Was für die private Beziehung zwischen Vinny und Dionna gilt, gilt umso mehr für das Milieu. Als Joe T und seine Kumpane es darauf anlegen, Richie als Killer auszumachen und ihn zu stellen, lässt sich Vinny – ein langjähriger Freund Richies – dazu herab, den Lockvogel zu spielen, um Richie auf die Straße zu locken.
Lee lässt dieses Geschehen begleiten durch die mediale Berichterstattung. Und besonders bedrückend ist es, als der festgenommene Berkowitz im Polizeiwagen zum Kommissariat gefahren wird und eine aufgebrachte, johlende Menge mit Pappschildern bewaffnet schreit „Tötet ihn!!” und die Medien so reagieren wie sie immer reagieren: Kamera drauf!
Das mediale Ereignis verschmilzt im Film mit der erzählten Geschichte über Vinny, Dionna und die anderen zu einem Spektakel, das Realität geworden zu sein scheint. Während die persönlichen Beziehungen einerseits von massiven Vorurteilen, Betrug und Funktionalisierung beherrscht sind – außer bei Richie und Ruby vielleicht –, verschmilzt das allgemeine Ereignis – die Suche nach dem Killer – mit diesen Beziehungen zu einer unheimlichen Mixtur. Selbst der Killer wird instrumentalisiert, nicht nur durch die Vorurteile von Vinnys Freunden, die Richie nicht mögen und ihn deshalb verfolgen, in der Existenz des Killers einen geeigneten Anlass dafür sehen. Nein, der Killer wird von allen instrumentalisiert: von den Medien und von jedem, der seinen lang gehegten Hass ausleben möchte. An die Opfer denkt schon lange niemand mehr.
Jeder misstraut in dieser Geschichte jedem anderen – zu Recht oder zu Unrecht, das wird nicht gefragt. Das Misstrauen ist unterschwellig vorhanden, prägt eine Grundstimmung. Jeder hat auch Angst vor jedem – was nur kaum einer zugibt. Da ist es schon nicht verwunderlich, dass einzig Richie versucht, mit Ruby ein einigermaßen ehrliches Leben zu führen.
Spike Lee enthüllt ein New York, das sich genauso darstellt wie die Provinz, wie das flache Land und macht damit alle Vorurteile der Städter über dieses flache Land zu einer faustdicken Lüge, weil sich in diesen Vorurteilen die eigenen Unzulänglichkeiten hinter dem Mantel von Glitter und Glamour sichtbar machen. Die Schlussakkorde des Films wirken schon fast als sarkastischer Kommentar auf diese Kultur.
Am Schluss sehen wir einen Vinny in seiner ganzen mentalen „Nacktheit“, der nichts weiter zu sagen weiß als „Es tut mir leid”. Aber dieses „Es tut mir leid” – auch wenn es ehrlich gemeint sein sollte – ist eine genauso erbärmliche Entschuldigung wie diejenige gegenüber Dionna für sein ausschweifendes Sexualleben. Wir sehen einen John T, der nur noch die Flucht ergreifen kann, nachdem sich offenbart hat, wie gnadenlos skrupellos sein Verhalten war.
Dabei ist „Summer of Sam” keineswegs ein moralisierender Film. Nein, Lee verpackt die Geschichte äußerst geschickt in ein mediales Spektakel, in dem die Grenzen zwischen medialer Realität und Lebenswirklichkeit oft fast verschwimmen. Er zeigt die selbst verschuldete Unmündigkeit seiner Akteure in praktisch allen ihren Lebensäußerungen – ganz im Kant’schen Sinne. Lee verzichtet auch auf eine Bloßstellung seiner Akteure in dem Sinn, dass man sie verachten müsste. Bei mir tat sich am Schluss eher ein gewisses Mitgefühl auf – für Vinny wie für John T, die es eigentlich hätten besser wissen müssen.
Und so schließt sich der Reigen über NY – das man zugleich lieben wie hassen muss.
© Bilder: Touchstone Pictures Screenshots von einer TV-Aufnahme.
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