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Tanguy – Der Nesthocker (Tanguy) Frankreich 2001, 108 Minuten Regie: Étienne Chatiliez
Drehbuch: Étienne Chatiliez, Laurent Chouchan Musik: Pascal Andreacchio Director of Photography: Philippe Welt Montage: Catherine Renault Produktionsdesign: Stéphane Makedonsky
Darsteller: Sabine Azéma (Edith Guetz), André Dussollier (Paul Guetz), Eric Berger (Tanguy Guetz), Hélène Duc (Großmutter), Aurore Clément (Carole), Jean-Paul Rouve (Bruno), André Wilms (Psychiater), Richard Guedj (Patrick), Roger van Hool (Philippe), Nathalie Krebs (Noëlle), Delphine Serina (Sophie), Sachi Kawamata (Kimiko), Annelise Hesme (Marguerite), Jacques Boudet (Richter), Philippe Laudenbach (Badinier, Rechtsanwalt)
Sehenswerte Komödie mit Schwächen
„Nix wie weg“ – das ist heute das Motto von Last Minute L’Tour. Früher – in meiner Jugend zumindest – war es Ausdruck fast einer ganzen Generation, die ihr Elternhaus so schnell wie möglich hinter sich lassen wollte. So ganz stimmt das zwar auch nicht. Aber auf jeden Fall hört man heute von vielen geplagten (?) Eltern, dass ihre lieben Kleinen, die inzwischen nicht mehr klein und auch nicht immer lieb sind, das heimelige und warme Nest einfach nicht verlassen wollen: „Hotel Mama und Papa“. Über die tatsächliche – statistisch gesehen längere (?) – Verweildauer junger Erwachsener bei ihren Eltern weiß ich nichts; man hört nur so allerhand. Jedenfalls hat Étienne Chatiliez dieses Phänomen zum Anlass einer Komödie genommen.
Tanguy (Eric Berger) ist 28 Jahre alt, Philosoph und angehender Sinologe, ein extrem intelligentes, charmantes, doch zugleich vor allem auf sich selbst bezogenes Kerlchen, das seit 28 Jahren bei seinen Eltern verweilt und nicht die geringsten Anstalten macht, Mama Edith (Sabine Azéma) und Papa Paul (André Dussollier) in ihrem Eheleben allein zu lassen. Warum auch? Er bekommt alles, wie auf dem Silbertablett serviert: die Wäsche gewaschen, Frühstück und Abendessen, er hat ein geräumiges Zimmer, nein zwei, denn er braucht viel Platz für sein Leben und seine Wissenschaft. Das haben sie nun davon. Als Tanguy geboren wurde, beugte sich Mama über das kleine süße Herzchen und gelobte: „Wenn du willst, kannst du dein ganzes Leben bei uns verbringen.“ Die Geister, die ich rief ... Nun haben Edith und Paul den Salat. Sie haben ihn satt, ihren klugen Sohn, der sich morgens nach dem Familienfrühstück mit den Worten verabschiedet: „Ich habe dich lieb, Mama / Papa.“ Und das klingt wie eine Drohung, die die Eltern erwartungsgemäß mit „Ich habe dich auch lieb“ wie in einem Ritual beantworten müssen. Müssen?
Einzige Hoffnung für die beiden ist, dass Tanguy nach Abschluss seiner Dissertation einen längeren Aufenthalt in China plant. Edith schüttet ihr Herz bei einem Psychiater aus, Paul schluckt seinen steigenden Unmut über den Nesthocker mal mehr, mal weniger hinunter. Und dann erreicht sie eine weitere Hiobsbotschaft: Auf Anraten seines Professors verschiebt Tanguy seine Dissertation um ein Jahr, und damit auch den China-Aufenthalt. Edith ist der Verzweiflung nahe. Zunehmend schwankt sie zwischen Zuneigung, Wut und Hass gegenüber ihrem Sohn. Und Paul? Der muss sich von seiner nicht auf den Mund gefallenen, zynischen Mutter (Hélène Duc) ständig die Meinung sagen lassen. Wenn sie nicht aufpassen, meint die Großmama Tanguys, dann würde der Bursche ein Leben lang bei ihnen wohnen. Und nicht nur wohnen. Denn Tanguy, der seine langjährige Freundin immer wieder vertröstet, die mit ihm zusammenziehen will, hat eine weibliche Bekanntschaft nach der anderen und bringt alle mit in die Wohnung. Edith und Paul werden so andauernd Ohrenzeugen des Liebeslebens ihres Sohnes.
Jetzt reicht es! Die geplagten Eltern, von Hass und Rache erfüllt, beschließen, Tanguy das Familienleben madig zu machen. Edith lässt beim Waschen seine Pullover einlaufen, Paul dreht an der Badezimmertür eine Schraube aus der Fußleiste, damit Tanguy sich heftig am Fuß verletzt. In Tanguys Kleiderschrank wird ein stinkender Fisch deponiert. Mama braucht plötzlich ihr Zimmer, das Tanguy benutzt, wieder, weil sie die Bildhauerei wieder aufnimmt, veranstaltet dabei einen Mordslärm, provoziert einen Kurzschluss, so dass Tanguys PC ausfällt usw.
Doch Tanguy hat nicht nur die Ruhe weg. Er nimmt das alles mehr oder weniger gelassen. Hauptsache: Er kann im „Hotel Mama und Papa“ bleiben. Edith, dem Zusammenbruch nahe, und Paul, denen die Phase „Machen wir ihm das Leben unangenehm“ mit Wonne genossen haben, sehen keine andere Möglichkeit mehr, als ihren Sohn ganz aus der Wohnung zu schmeißen. Sie mieten eine Wohnung für ihn. Ob das gut geht? ...
Alles scheint verkehrt in dieser Welt. Die Eltern werden zu Kindern, die sich gegenüber ihrem Sohn verhalten wie geplagte Kinder gegenüber allzu strengen Eltern. Sie entwickeln ein hohes Maß an, man kann schon fast sagen: krimineller Energie, um ihren Sohn los zu werden. Paul schreckt nicht davor zurück, sogar Schläger zu engagieren. Der Sohn dagegen, nach außen ein sympathischer, gut situierter, freundlicher und hochintelligenter junger Mann, ist ein Egozentriker par excellence – und weiß es wahrscheinlich noch nicht einmal. Tanguy hält es für völlig normal und selbstverständlich, mit 28, 29, 30 ... noch immer bei seinen heißgeliebten Eltern zu wohnen, die in ihrem Leben alles getan haben, damit aus dem Söhnchen mal etwas wird. Ja, sie haben es ernst genommen, was uns die Psychologie immer wieder einhämmert: Kinder sind das wichtigste in Eurem Leben, liebe Eltern, tut alles, um ihnen gute Startchancen zu bieten, erzieht sie mit vermittelndem Gespräch und Methoden der friedlichen Konfliktlösung, vermeidet Gewalt in jeder Hinsicht usw. usf. Und jetzt haben sie die Bescherung: Denn anders, als die Psychologie verspricht, verlässt ein so wohl geformter Mensch mit 18 oder 20 nicht das Elternhaus, sondern bleibt mir nichts dir nichts einfach – zu Hause.
Und was ist mit den Eltern? Sie haben kein Privatleben mehr; ihre Sexualität bleibt auf der Strecke. Alles dreht sich wie in einer endlosen Schleife nur ums Kind, das gar keines mehr ist. Oder doch?
Étienne Chatiliez gelingt es durchaus, in der satirischen Übertreibung einer solchen Situation, die vielleicht nicht alltäglich, aber dennoch eine vorhandene Tendenz ist, die Kehrseiten der Erziehungsrevolution seit Mitte / Ende der 60er Jahre plastisch werden zu lassen. Niemand wird etwas gegen eine Erziehung einzuwenden haben, in der Individualität und Individuum im Mittelpunkt stehen. Oder doch? Tanguy ist der manchmal, aber nicht immer übertrieben inszenierte Prototyp des modernen Egomanen, durchaus nicht unsympathisch, aber Sinnbild dessen, wozu eine falsch verstandene Pädagogik des „Verständnisses“ auch führen kann: zum Egozentriker, der ein Tüpfelchen oder zwei zu viel Liebe und ein Paar Tropfen zu wenig, nennen wir es: soziale und emotionale Intelligenz abbekommen hat, zu der u.a. auch Sich-Zurücknehmen, eine gewisse Demut und Bescheidenheit und einiges mehr gehören.
Étienne Chatiliez steigert den Konflikt bis zum Hinauswurf des Sohnes zumeist durchaus ansehnlich und mit viel komödiantischer Brillanz. Allerdings hatte ich das Gefühl, dass es Chatiliez irgendwann angesichts dieser Dramatik selbst mulmig wurde: Er nimmt gegen Schluss das Tragikomische zunehmend aus der Handlung heraus; etliches wiederholt sich, wahrscheinlich nicht aus Gründen fehlenden Ideenreichtums, sondern aus Furcht vor den Konsequenzen der einmal begonnenen Dramatik selbst. Und folgerichtig endet der Film mit einem Happyend, das nicht nur unglaubwürdig ist, sondern der Satire den Kopf abschlägt. Das hat mich ehrlich gesagt geärgert. Das Ende des Films gehört in den Bereich der honigtriefenden Klamotte und hat mit dem bitterböse schönen Anfang und Mittelteil nicht viel gemein.
Eric Berger schlüpft in die Rolle des Egomanen Tanguy, als wenn er es selbst wäre. Ein Mensch zum lieben, aber auch zum hassen. André Dussollier hat mir als Vater Paul am besten gefallen. Es ist einfach zu schön anzuschauen, wenn ihm der Kragen platzt, wenn er die Vorhaltungen seiner Mutter nicht mehr hören kann, wenn er durchgreift oder wenn er sich in nahezu sadistischer Weise darüber freut, sobald Tanguy „etwas passiert“. Sabine Azéma hat in dieser Hinsicht auch ihre starken Szenen, wirkte mir aber in ihrer Mimik oft zu übertrieben, aufgesetzt in der Rolle der Mutter. Trotzdem gelingt ihr und André Dussollier, die „Feigheit vor dem Feind“, sprich: die Unfähigkeit, ihrem Sohn Grenzen zu setzen, weitgehend überzeugend darzustellen.
Ein bitterböses Ende der Geschichte wäre mir lieber gewesen und hätte in der Logik einer solchen Satire gestanden. So aber verbleibt der Eindruck: Alles nicht so gemeint gewesen, wie anfangs behauptet. „Tanguy“ bleibt trotz vieler Stärken und wundervoller Szenen im Status einer netten Komödie, einer zu harmlosen Farce stecken, anstatt sich zu einer ätzenden Sozialsatire zu vollenden.
© Bilder: Universal Pictures
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