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Reservoir Dogs (1992) Pulp Fiction (1994) Jackie Brown (1997) Kill Bill I (2003) Kill Bill II (2004)
Reservoir Dogs – Wilde Hunde (Reservoir Dogs) USA 1992, 99 Minuten Regie: Quentin Tarantino
Drehbuch: Quentin Tarantino, Roger Avary Musik: Karyn Rachtmann Director of Photography: Andrezej Sekula Montage: Sally Menke Produktionsdesign: David Wasco
Darsteller: Harvey Keitel (Mr. White / Lawrence Dimmick), Tim Roth (Mr. Orange / Freddy Newandyke), Michael Madsen (Mr. Blonde / Vic Vega), Chris Penn (Nice Guy Eddie Cabot), Steve Buscemi (Mr. Pink), Lawrence Tierney (Joe Cabot), Randy Brooks (Holdaway), Kirk Baltz (Marvin Nash, L.A.P.D.-Officer), Edward Bunker (Mr. Blue), Quentin Tarantino (Mr. Brown), Rich Turner, David Steen, Tony Cosmo, Stevo Polyi (Sheriffs), Michael Sottile (Teddy)
Im Reservat
Tarantinos Regiedebut – mit dem unsäglichen deutschen Titel „Wilde Hunde“ – zeigt schon deutlich die Vorlieben des Regisseurs für ein Kino, das gegen den Strich bürstet, was klassische Dramaturgie, inhaltliche Aussage und Effekte angeht. Tarantino schafft klassische Tragödien und handelt doch gegen deren Regeln. Formal ist „Reservoir Dogs“ eine solche klassische Tragödie mit dem kathartischen Ende, dem Tod aller, und doch durchbricht er diese klassische Form der Tragödie an etlichen Punkten. Die Geschichte selbst ist derart simpel gestrickt, das sie nicht weiter auffällt. Wie Tarantino diese Geschichte aber verarbeitet, ist hoch interessant und spannend inszeniert.
Acht Männer sitzen in einem Café und freuen sich auf ihren viel Geld versprechenden Job. Die Kamera wandert minutenlang um die Gangster herum, die sich ihres Erfolgs sicher sind, sie scherzen, ärgern ihren Auftraggeber Joe Cabot (Lawrence Tierney), einen erfahrenen Gangster, für den die anderen einen Juwelier ausrauben sollen. Tarantino stellt sie vor, die sich – so will es Cabot – nur mit ihren Spitznamen kennen: Mr. White (Harvey Keitel), Mr. Orange (Tim Roth), Mr. Blonde (Michael Madsen), Mr. Pink (Steve Buscemi), Mr. Blue (Edward Bunker), Mr. Brown (Quentin Tarantino) und Nice Guy Eddie (Chris Penn). Sie sprechen über Madonnas „Like a Virgin“, über den Sinn oder Unsinn von Trinkgeldern. Als sie das Café verlassen, sehen sie aus wie die Men in Black, schwarze Anzüge, Sonnenbrillen, zu allem entschlossen.
Der Job geht schief. Die Polizei war anwesend. Und der Verdacht kommt auf, dass unter den sechs Gangstern ein Verräter weilt. Einer der sechs ist bereits tot, einer ist eine Weile lang verschwunden. Drei können in eine Lagerhalle flüchten, Mr. White und der schwerverletzte Mr. Orange, der in einer Blutlache liegt; später stößt Mr. Pink zu ihnen. Heftig und nervös diskutieren sie, warum der Raub fehlgeschlagen ist, verdächtigen sich gegenseitig. Der einzige vernünftige scheint Mr. White, der darüber nachdenkt, was jetzt weiter geschehen soll. Mr. White und Mr. Pink streiten, ob sie den schwerverletzten Mr. Orange in ein Krankenhaus bringen sollen. Da platzt Mr. Blonde mitten in den Streit hinein und führt Mr. White und Mr. Pink zum Kofferraum seines Wagens. Er hat einen Polizisten, Marvin Nash (Kirk Baltz), entführt, den die drei nun in die Halle bringen und gefesselt auf einen Stuhl setzen. Als Nice Guy Eddie Mr. White und Mr. Pink holt, um die vor der Halle parkenden Autos zu verstecken, beginnt Mr. Blonde – Mr. Orange liegt blutend und bewusstlos am Boden – den Polizisten zur Musik von „Stuck in the Middle with You“ zu foltern. Die Tragödie nimmt ihren Lauf ...
Formal ist „Reservoir Dogs“ ein klassischer „heist movie“, ein Gangsterfilm, in dem der Coup scheitert, aufgeteilt nach Vorbereitung, Durchführung und Blutbad (Rache, Katharsis) oder ähnliches zum Schluss. Tarantino verzichtet allerdings schon auf die Darstellung der Durchführung des Raubüberfalls auf das Juweliergeschäft. Lediglich die Flucht unmittelbar nach dem Coup, als Mr. Orange blutend von Mr. White im Auto weggefahren wird, deutet auf den fehlgeschlagenen Überfall hin. Auch die Vorbereitung des Coups wird lediglich in einzelnen Rückblenden ausschnittsweise gezeigt, ebenso die Vorbereitung von Mr. Orange, dem Undercover-Polizisten, auf seine Rolle als Spitzel in der bunt zusammengewürfelten Schar der Gangster.
Das Hauptgewicht des Films liegt aber auf den Szenen in der karg ausgestatteten Lagerhalle. Diese Szenerie und die Handlung in der Lagerhalle gleichen einem Theaterstück, einem Bühnenstück also, nicht aber einem klassischen heist movie. Nicht die Vorbereitung und Durchführung der Tat stehen im Vordergrund, sondern die Folgen ihres Scheiterns. Tarantino dreht damit die klassische Reihenfolge solcher Filme auf den Kopf und setzt noch eins oben drauf: nämlich die (jedenfalls in dieser Hinsicht) völlig belanglose Anfangssequenz, in der sich die acht Männer über den Sinn von Trinkgeldern streiten. Allerdings hat diese im Verhältnis zur Dauer des Films relativ lange Anfangsszene eine durchaus wichtige Funktion: die Personen werden vorgestellt. Die Bedeutung, die den unterschiedlichen Charakteren der acht Männer zukommt, wird dem Betrachter allerdings erst in der Lagerhalle bewusst.
Mit vier Rückblenden durchbricht Tarantino zusätzlich den klassischen heist movie, folgt allerdings trotz allem den Regeln der klassischen Tragödie, eben auf seine Weise: die erste stellt die Flucht von Mr. Pink nach dem Überfall dar (70 Sekunden); die zweite zeigt Mr. White in Cabots luxuriösem Büro, letzterer erklärt Mr. White den Job (2 Minuten); die dritte spielt ebenfalls in dem Büro, Nice Guy Eddie schlägt Mr. Blonde für die Teilnahme am Raub vor (acht Minuten); die vierte schließlich – ganze 23 Minuten lang – zeigt die Vorbereitungen Freddys (Mr. Orange) auf seine Undercover-Tätigkeit. Diese Rückblende ist eine fast schon eigene Geschichte in der Geschichte und nimmt immerhin ein Viertel der Länge des Films ein. Sie unterteilt sich wiederum in drei Teile: Einschleusen von Freddy in Cabots Gang, direkte Vorbereitungen des Coups und Flucht von White, Orange und Brown nach dem Coup. Auch diese Rückblende ist wiederum mit Rückblenden versehen, u.a. mit der Szene, in der sich Freddy mit einer Tasche voll Stoff in eine Herrentoilette begibt, wo sich vier Polizisten und ein Polizeihund befinden.
Tarantino spielt also mit den Regeln des heist movie ebenso wie denen der klassischen Tragödie, ohne die formale Struktur der Tragödie jemals vollständig zu verlassen. Er realisiert sie auf seine eigene Weise.
Auch Gewalt inszeniert Tarantino auf seine Weise. Die Szene, in der der Polizist Marvin Nash von Mr. Blonde gefoltert wird, ist nicht gewalttätiger als viele Szenen in Kriegsfilmen, Thrillern u.ä., und trotzdem wird ihr unterstellt, sie verherrliche Gewalt. Wer die Szene jemals gesehen hat, kann das nicht ernsthaft behaupten, zumal das Abschneiden des Ohrs nicht gezeigt wird. Wo hier die Sympathien liegen, ist eindeutig: bei Nash, nicht bei Mr. Blonde, der im übrigen wenig später die Quittung für seine Folterung erhält. An dieser Szene ist nichts Amüsantes, Lustiges, im Gegenteil, sie verstört, der sadistische Mr. Blonde schreckt ab, Nash ist derjenige, mit dem man mitfühlt, obwohl man weiß, dass er keine Chance hat zu überleben [1].
Reservoir Dogs“ ist ein hoch moralischer Film. Verrat beispielsweise wird nicht geduldet. Es geht um Loyalität und Erlösung, aber auch um die Fadenscheinigkeit und das Scheitern dieses ethischen Kodex in einem bestimmten Kontext. Selbst Mr. White, der einem menschlich am nächsten steht, duldet keinen Verrat. Mr. White mag Mr. Orange, man könnte sogar sagen, zwischen beiden herrscht so etwas wie väterliche Freundschaft. Als Mr. Orange am Ende gesteht, ein Spitzel zu sein, greift Mr. White allerdings zur Waffe. Verrat wird bestraft, weil Vertrauen, hier sogar ein leichter Anflug von Freundschaft oder zumindest Sympathie missbraucht wurde. In diesem Kontext bedeutet Strafe immer Tod. Das führt Tarantino auf eindrückliche Weise vor. Keiner der Gangster überlebt. Und auch Freddy muss sterben. Denn er hat sich auf diesen Kontext eingelassen – man mag das für ein „Berufsrisiko“ halten oder für etwas anderes. Mr. White – ein eiskalter Gangster, der keine Skrupel hat, ein ganzes Magazin und mehr auf ein Polizeiauto abzufeuern – erweist sich in diesem moralischen System als unbescholtenster Mann unter allen.
„Reservoir Dogs“ ist formal – trotz der bewussten Brüche und Tendenzen gegen die Regeln des Dramas und des heist movie – eine klassische Tragödie. Und inhaltlich ebenso. Der Tod steht als Endpunkt in einem moralischen System, in dem Loyalität alles ist und deren Verletzung unausweichliche Konsequenzen mit sich bringt. Shakespeare inszenierte in dieser Hinsicht nichts anderes.
[1] Vgl. die hervorragende Analyse zu diesem Film, auf die ich mich hier weitgehend stützen konnte, von Robert Fischer, in: Fischer / Korte / Seeßlen: Quentin Tarantino, Berlin 2000, S. 71-96
Pulp Fiction USA 1994, 154 Minuten Regie: Quentin Tarantino
Drehbuch: Quentin Tarantino, Roger R. Avary Musik: diverse Director of Photography: Andrzej Sekula Montage: Sally Menke Produktionsdesign: David Wasco
Darsteller: John Travolta (Vincent Vega), Samuel L. Jackson (Jules Winnfield), Uma Thurman (Mia Wallace), Harvey Keitel (Winston Wolf, "Der Wolf" ), Bruce Willis (Butch Coolidge), Tim Roth (Pumpkin / Ringo), Amanda Plummer (Honey Bunny / Yolanda), Maria de Medeiros (Fabienne), Ving Rhames (Marsellus Wallace), Eric Stoltz (Lance), Rosanna Arquette (Jody), Christopher Walker (Captain Koons), Paul Calderon (Paul), Bronagh Gallagher (Trudi), Peter Greene (Zed), Jimmy (Quentin Tarantino)
Im Zeitalter der Bedeutungslosigkeit
"Pulp Fiction" ist nicht erst seit neuestem ein Kultfilm. Ein wahrer Kult rankt sich seit 1994 um diesen Film; ausführliche Internet-Seiten, ein Rowohlt-Taschenbuch sowie einiges und einige mehr beschäftigten sich mit diesem Streifen. Zu Recht. "Pulp" hat zwei Bedeutungen, die beide als Ausgangspunkt des Films dienen: 1. eine formlose Masse, die sich z.B. in Fast Food wiederfindet; 2. Groschenroman auf billigem Papier mit billigen Geschichten. Tatsächlich erzählt Tarantino eine billige Geschichte mit billigen Figuren in billigen Szenarien, formlos – aber knetbar. Doch das ist nur die eine Seite dieses Meisterwerks.
Erzählt werden drei Geschichten mit Personen, die in allen Geschichten eine Haupt- oder Nebenrolle spielen. In Prolog und Epilog schließt sich der Reigen mit einer vierten Episode, einer Bonnie-and-Clyde-Geschichte.
Prolog: Am Tisch in einem Café sitzt das Gangsterpärchen Honey Bunny (Amanda Plummer) und Pumpkin (Tim Roth) und unterhält sich intensiv darüber – während die Bedienung freundlich fragt "Noch Kaffee?" –, welche Stätten mit Geld man am leichtesten ausrauben kann. Letztlich kommen sie zu dem logischen Schluss, dass das Café, in dem sie gerade frühstücken, ein furchtbar gut geeigneter Ort für ihre Ambitionen ist. Sie ziehen die Pistolen. Schnitt.
Erste Geschichte: "Vincent Vega und Marsellus Wallace Wife" Die Auftragskiller Vincent Vega (John Travolta, mit schmieriger, langer Mähne) und Jules Winnfield (Samuel L. Jackson) sollen für Gangsterboss Marsellus Wallace (Ving Rhames) einen wertvollen Koffer wieder besorgen, der sich in der Hand einiger jugendlicher Gangster befindet. Was sich in dem Koffer befindet, bleibt unsichtbar. Sie spüren die Jugendlichen auf, halten ihnen ellenlange Vorträge, essen ihr Fastfood, finden den Koffer und ermorden sie – nicht ohne dass Winnfield – wie wohl immer bei solchen Gelegenheiten – die Bibel zitiert: "... Auf dass sie erfahren sollen, ich sei der Herr, wenn ich meine Rache an ihnen vollbracht habe" (Hesekiel 25, 17).
Gesagt, getan.
Doch Vincent hat noch anderes zu tun. Er soll Mia Wallace (Uma Thurman) während der Abwesenheit von Marsellus Wallace ausführen – eine attraktive, hinreißende Frau, die sich amüsieren will und selbstverständlich damit spielt, dass es Vincent erhebliche Schwierigkeiten bereitet, sie nicht zu verführen. Doch gottlob (?) wird der Schönen durch eine Überdosis so schlecht, dass sie beinahe daran stirbt – wenn Vincent nicht die goldene Idee gegen den goldenen Schuss käme ...
Zweite Geschichte: "The Gold Watch" Auch in Diensten von Marsellus Wallace steht der Boxer Butch (Bruce Willis), der während eines Kampfes verlieren soll, um die Wetteinnahmen zu erhöhen. Doch Butch gewinnt den Fight, erfährt später, dass er seinen Gegner totgeschlagen hat. Für sein Verhalten spielt wohl auch eine Rolle, dass er sich im Traum vor dem Kampf daran erinnerte, wie ihm ein Kriegskamerad seines Vaters aus Vietnam dessen goldene Uhr, ein Familienerbstück, brachte, die er seither immer bei sich getragen hatte. Doch am Morgen nach dem Kampf ist die Uhr verschwunden. Butchs Freundin Fabienne (Maria de Medeiros) hatte sie liegen lassen. Butch weiß um das Risiko, die Uhr zu Hause zu holen. Und er trifft nicht nur auf Vincent, sondern auch auf Marsellus Wallace ...
Dritte Geschichte: "The Bonnie Situation" Als Vincent und Jules den Tatort verlassen, erschießt Vincent – mehr zufällig als gewollt – den übrig gebliebenen Jungen auf dem Rücksitz des Autos. Der Rücksitz des Wagens ist voll von Blut und dem zerfetzten Gehirn. Sie beschließen, den Wagen bei Vincents Freund Jimmy (Quentin Tarantino) unterzustellen, der allerdings nicht sehr erfreut ist; denn wenn Jimmys Frau davon erfährt, ist die Hölle los. Also muss "Der Wolf" (Harvey Keitel) ran, um bis zur Rückkehr von Jimmys Frau die Sache zu bereinigen ...
Epilog: Man sieht Honey Bunny und Pumpkin wieder, die das Café ausräumen wollen. Dort treffen sie allerdings auf Vincent und Jules, der ihnen eine biblische Lektion erteilt ...
Diese anscheinend sehr streng konstruierte Geschichte mit Epilog und Prolog erzählt Tarantino allerdings nicht in chronologischer Reihenfolge. Die Szenen der einzelnen Geschichten werden auseinander gerissen und sozusagen bunt gewürfelt dem Zuschauer präsentiert. Zuerst ist Travolta tot, dann lebt er wieder auf. Doch das spielt im Grunde überhaupt keine Rolle. Denn wie in den billigen Gangsterklamotten etwa der 40er Jahre scheint es nur auf Action pur, aber weder auf Logik oder Inhalt, noch auf irgendeine sonstige Fundierung der Handlung anzukommen.
Doch Tarantinos Film ist nicht einfach eine filmische Auseinandersetzung mit dem Genre. Kritiker schrieben, seine Filme zehrten nur vom Kino, nicht aber vom Leben, seien also so etwas wie l’art pour l’art. Weit gefehlt. Tarantino treibt die Elemente des Genres auf die Spitze, in satirischer Distanz, aber eben auch in liebevoller Sympathie. Der Kontrast zwischen den im Film immer wieder auftauchenden leidenschaftlichen Dialogen über banale Dinge (warum man einen Cheeseburger in Paris wegen des metrischen Systems anders zu nennen pflegt; wie man Mayonnaise bloß auf Pommes Frites essen kann) und scheinbar schwerwiegende philosophische Probleme (wie man die Bibel auszulegen hat) einerseits, der Brutalität des Geschehens auf der anderen Seite weist über das Kino hinaus: die Beliebigkeit des Daseins und die Bedeutungslosigkeit der Dinge. Leben und Tod, Reden und Schweigen, Handeln oder Innehalten erscheinen als Beiläufigkeiten in Zeit und Raum.
Tarantino kündet von einer Zeitstimmung, einem Zeitgeist der scheinbar absoluten Beliebigkeit. Er treibt dieses Beliebige, Beiläufige, Bedeutungslose auf die Spitze, treibt dessen Selbst-Charakteristik – das, wofür sich diese Zeit und ihre Protagonisten halten und was sie wohl teilweise auch sind – ins Absurde. Das Absurde der jeweiligen Situation – etwa wenn Travolta erst stirbt, dann wieder aufersteht – ist letztlich nur das Absurde dieser Realität der Bedeutungslosigkeit. Niemand kann sterben und dann wieder aufleben. Aber diese Frage allein ist völlig unwichtig.
Man geht den Dingen nicht mehr auf den Grund, sondern nimmt sie für bare Münze. Tarantino geht auf Distanz zu dieser Ära der Bedeutungslosigkeit, ist aber gleichzeitig ihr Kind. Er setzt keine Maßstäbe, pädagogischen Richtlinien, um dem Zuschauer die Augen zu öffnen, wie dies etwa Filmemacher tun würden, die dem Kontext der 68er-Generation verhaftet sind.
Tarantino verdreht Realitäten in einem eigenwilligen Sinn. Dort, wo es im Film um banale Situationen geht, etwa bei der Frage, wie man das Auto mit der Leiche des Jungen wieder sauber bekommt, wird aus einem praktischen, einfach zu lösenden Problem eine Komplikation konstruiert. Ein erfahrener Gangster muss her, der sich dieses Problems annimmt. Er gibt Ratschläge, wie in einer bestimmten Zeit das Problem zu lösen ist. Das Problem wird dramatisiert, obwohl jede Hausfrau und jeder Hausmann einfach nur anpacken müssten, um das Auto zu säubern. Während der Tod und das Leben, das Handeln und das Innehalten in beliebigen Alltagssituationen zu praktischen, einfach zu handhabenden kleinen Schwierigkeiten degradieren, werden aus Banalitäten hochgradig komplizierte und komplexe Konflikte. Die Welt scheint Kopf zu stehen.
Tarantino diskutiert nicht über Moral und Gewalt. Er zeigt. Er zeigt, wie ein Bibelzitat einerseits zur simplen Rechtfertigung von Mord dienen kann und andererseits als schale Begründung für Nicht-Mord, für Leben-Lassen. Die Bibel, die Religion werden beliebig einsetzbar. Aber auch das spielt letzendlich keine Rolle. Die Bibel ist bedeutungslos, lediglich simple Ausschmückung des Handelns wie die Frage, ob man Pommes Frites mit Mayonnaise essen kann.
"Pulp Fiction" führt eine Welt der Irrelevanz vor, die keine moralische, ethische Basis mehr zu benötigen scheint. Gemacht werden darf, was gemacht werden kann. Alles andere, die Worte, die Gesten, die Dialoge sind Beiwerk. Tarantinos Pädagogik ist eine Nicht-Pädagogik, eine, die der Welt der Bedeutungslosigkeit ihren Spiegel vorhält, sie so ernst nimmt, wie sie sich selbst gibt.
Für alle Figuren des Films existiert eine Art absolute Freiheit des Handelns ohne Rückendeckung oder Fundament. Man mordet oder lässt es sein. Was zählt, sind vielleicht noch Absprachen, Vereinbarungen im Sinne einfachster Tauschgeschäfte. Nur Mia bringt scheinbar ein bisschen Leben in die Geschichte, aber auch nur scheinbar. Denn ihre Provokation Vincents ist auch nur ein Spiel in der schier endlosen Reihe von Spielen.
"Pulp Fiction" lässt sicherlich viele Interpretationen zu. Mir scheint, der Film blickt auf die liberalistische Generation der 68er, aber eben auch auf die Früchte einer Epoche nach 1970, in der diese ideologisiert wurden. Flexibilität und Mobilität, nicht nur in einem ökonomischen Sinne, sondern auch im Denken, Handeln und Verantworten, sind solche Früchte der letzten 30 Jahre. Werden sie zum Selbstzweck erklärt, gehen sie den Weg der Metamorphose hin zur Ideologie der Selbstgerechtigkeit. Die Freiheiten, tun und lassen zu können, was einem gefällt, über sein Leben möglichst weitgehend selbst zu entscheiden, ist eine Sache; die Stilisierung dieser Freiheiten eine andere. Das eine ist der auch heute noch immer wieder schwer erkämpfte Weg, wenn auch unter oft einfacheren Bedingungen, das andere die Degeneration zu einer individualistischen Patchwork-Ideologie, nach dessen Kriterien man gestern Katholik, heute Buddhist und morgen Atheist sein kann und darf, als ob es hier um die Handhabung von Schubladen mit verschiedenfarbigen Socken ginge.
Es bedarf keiner Diskussion um Ethik und Gewalt, um Leben und Tod. Wenn man sein Handeln verantworten will, muss man zuallererst die Fähigkeit besitzen zu antworten. In "Pulp Fiction" muss niemand antworten und schon gar nichts verantworten. Man handelt, so oder so, wie ist vollkommen gleichgültig – eben wie in den billigen Groschenromanen oder B-Movies.
Tarantino handelt vom Kino, das er liebt, und vom Leben, das er liebt. "Pulp Fiction" ist ein Spiegel, in dem sich beides zeigt, auf eine überdrehte, satirische, dramaturgisch ausgeklügelte, von der Besetzung her optimale Art und Weise. Die Personen haben keine Geschichte, keine Tradition, keine Rückversicherung in sich selbst. Sie tun. Nicht mehr und nicht weniger.
Jackie Brown (Jackie Brown) USA 1997, 151 Minuten Regie: Quentin Tarantino
Drehbuch: Quentin Tarantino, nach dem Roman „Rum Punch“ von Elmore Leonard
Musik: Joseph Julián González Director of Photography: Guillermo Navarro Montage: Sally Menke Produktionsdesign: David Wasco
Darsteller: Pam Grier (Jackie Brown), Samuel L. Jackson (Ordell Robbie), Robert Forster (Max Cherry), Bridget Fonda (Melanie Ralston), Michael Keaton (Ray Nicolette), Robert de Niro (Louis Gara), Michael Bowen (Mark Dargus), Chris Tucker (Beaumont Livingston), Lisa Gay Hamilton (Sheronda), Tom „Tiny“ Lister Jr. (Winston), Hattie Winston (Simone), Denise Crosby (Pflichtverteidigerin), Sid Haig (Richter), Aimee Graham (Amy), Ellis Williams (Barkeeper)
Betrug !!!
Pam Grier. Manche Tarantino-Fans nahmen dem „Meister“ übel, dass er in „Jackie Brown“ nach einem Roman von Elmore Leonard den Star der blaxploitation-Filme der 70er Jahre (u.a. „Coffy“, 1973; „Foxy Brown“, 1974; „The Big Dollhouse“, 1971; „The Big Bird Cage“, 1972) derart in den Mittelpunkt der Handlung schob, dass man schon annehmen „musste“, der Herr Regisseur habe sich verliebt – ob das ein Gerücht ist oder nicht, interessiert mich ehrlich gesagt nicht. Tatsächlich beginnt der Film – eine Mischung aus typischer Tarantino-Dramaturgie, Krimi, Groteske und Referenz an die Popkultur der 70er Jahre – mit einer Einstellung, in der nur Pam Grier zu sehen ist: als Stewardess Jackie Brown, die im Los Angeles International Airport auf den endlosen Rollbändern und breiten Gängen schnellen Schritts zum Flug der Cabo Air eilt. Die Kamera hält nicht nur hier im Vorspanntitel, sondern auch in etlichen anderen Szenen voll auf Pam Grier, vor allem auf ihr Gesicht.
Der Waffenschmuggler Ordell Robbie (Samuel L. Jackson) schaut sich mit dem gerade nach einer Haftstrafe wegen Bankraubs entlassenen Freund Louis Gara (Robert de Niro) einen TV-Film mit dem Titel „Chicks who loves Guns“ an: Frauen im Bikini mit den neuesten Super-MGs. Während Ordell mit seiner Begeisterung für Waffen nicht zurückhält, ist Louis gelangweilt, müde, fast träge. Man sieht ihm an, dass er im Grund nur eines begehrt: RUHE. Anwesend ist auch Melanie (Bridget Fonda), leicht bekleidet, Haschpfeife rauchend, die Beine schlenkernd auf dem Sofa. Die drei befinden sich in Melanies Wohnung, die Ordell bezahlt. Ordell hat mehrere solcher Wohnungen, in denen er ihm hörige Damen eingenistet hat. Er erzählt Louis von 500.000 Dollar, die er in Mexiko aus seinen Geschäften gebunkert habe. Da bekommt er einen Anruf eines seiner Helfer, Beaumont (Chris Tucker). Der wurde wegen Trunkenheit im Verkehr eingebuchtet.
Ordell holt ihn raus. Bei dem erfahrenen Kautionsvermittler Max Cherry (Robert Forster) hinterlegt er die dazu nötigen 10.000 Dollar – allerdings nur, um den inzwischen freigelassenen Beaumont, den er unter einem Vorwand dazu bewegt hat, in seinen Kofferraum zu steigen, des nachts mit zwei Schüssen zu ermorden, damit der Ordell nicht verpfeift.
Die beiden Detectives Mark Dargus (Michael Bowen) und Ray Nicolette (Michael Keaton) nehmen am Flughafen Jackie Brown fest. Sie hat 50.000 Dollar im Handgepäck, und die beiden Cops wollen wissen, woher das Geld stammt und ob sie Ordell kenne. Nicolette erzählt ihr von dem Mord an Beaumont. Als Jackie beharrlich schweigt, locht man sie wegen Drogenbesitzes ein. In ihrer Tasche hätten sie ein Tütchen Kokain gefunden. Das war für Melanie als Mitbringsel gedacht.
Wieder muss Ordell zu Cherry, bittet ihn, die 10.000 Dollar für Beaumont, die jetzt ja freigegeben sein müssten, für die Freilassung von Jackie Brown zu verwenden. Nur widerwillig nimmt Cherry den Auftrag an, nachdem ihm Ordell seinen Anteil bar bezahlt. Cherry holt Jackie aus dem Gefängnis ab; er ist von Anfang an stark beeindruckt von der 44-jährigen Frau, geht mit ihr noch in eine Bar, bevor er sie nach Hause fährt. Cherry meint, sie müsse sich auf einen Deal mit der L.A.P.D. einlassen, dann bekäme sie nur eine geringe Haftstrafe. Als er sich von ihr verabschiedet, wartet bereits Ordell vor Jackies Wohnung.
Ordell hat natürlich mit Jackie das gleiche vor wie mit Beaumont. Doch Jackie hat die Pistole aus Cherrys Handschuhfach mitgehen lassen und drückt sie Ordell in den Bauch, als dieser ihre Wohnung betritt: Kein Mord. Statt dessen schlägt Jackie einen Deal vor: Sie schweigt und Ordell zahlt ihr dafür 100.000 Dollar. Sie habe auch schon einen Plan, die halbe Million aus Mexiko herzuschaffen.
Den beiden Polizisten schlägt sie ebenfalls einen Handel vor: Sie lassen sie das Land verlassen, weil sie sonst ihren Job verliere, und versprechen ihr Straffreiheit, dafür werde sie ihnen helfen, Ordell festzunageln. Ordell erklärt sie ihren Plan von einer offenen und einer versteckten Geldübergabe in einem Kaufhaus. Cherry bleibt im Hintergrund, um die Abwicklung des doppelten Betrugs zu beobachten und wenn nötig einzugreifen. Jackie will natürlich das Geld für sich, um aus der verzwickten Situation zwischen Gefängnis und drohendem Tod herauszukommen und irgendwo anders ein neues Leben anzufangen ...
In „Jackie Brown“ – äußerlich ein Krimi – geht es weniger um eine komplexe Handlung. Die relativ simple Handlung selbst wird eindeutig bestimmt von den Charakteren, ihren Beziehungen zueinander. Da tauchen vor allem „Zweierbeziehungen“ auf: Ordell und sein Freund Louis (eine von Ordell beherrschte „Freundschaft“ im Sinne von großer bestimmender Bruder), Jackie und Max (Sehnsucht von Max nach Liebe, Jackies Verlangen nach Vertrauen), Jackie und Ordell (weibliche Intelligenz versus männliche Dominanz), Ordell und Max (Max durchschaut die banale Skrupellosigkeit Ordells), Ordell und Melanie (Melanie als Objekt Ordells in jeder Hinsicht, Melanies Verachtung gegenüber Ordell), Melanie und Louis (Louis Ruhebedürfnis versus Melanies Versuch, ihn für einen Betrug einzuspannen: Sex in weniger als drei Minuten als Köder), Jackie und die beiden Polizisten. Diese Paare, ihre Beziehung zueinander sind die eine Ebene, auf der sich die Handlung systematisch aufbaut. Das andere Element ist der unbändige und von den anderen – außer Max – nicht durchschaubare Wille Jackies, ihrem bisherigen Leben zu entrinnen. Sie ist Angestellte bei einer kleinen Fluggesellschaft mit geringer Bezahlung und schlechten Zukunftsaussichten. Sie hat sich breitschlagen lassen, für Ordell Aufträge abzuwickeln, und sitzt nun sozusagen zwischen allen Stühlen. Sie ist 44, sieht blendend aus, aber was nützt ihr das schon für den Rest ihres Lebens – ohne Geld, ohne Perspektive, wenn Geld das einzige zu sein scheint, was noch eine Perspektive eröffnet?
Jackie Brown ist die Queen in ihrem eigenen Film. Tarantino feiert sie. Sie feiert sich, ohne dass dies aufgesetzt wirken würde. Sie setzt fast von Anfang an die Figuren in diesem Spiel – spätestens ab dem Zeitpunkt, als ihr bewusst geworden ist, das gleiche Schicksal wie Beaumont erleiden zu müssen. Sie ist klüger als alle anderen – und niemand ahnt etwas davon. Nur Max weiß Bescheid. Das berechtigte Misstrauen, dass Jackie gegenüber Ordell und der Polizei hegt, auch gegenüber Melanie, die ihrerseits Ordell mit Hilfe von Louis übers Ohr hauen will, korrespondiert mit einem absoluten Vertrauen zu Max, den sie gerade erst kennen gelernt hat, mit dem sie aber praktisch von Anfang an eine Nähe verbindet, die ohne große Worte auskommt.
Die Charakterzüge der anderen Beteiligten des Sextetts – Ordell, Louis, Melanie und Nicolette – werden ihnen zum Verhängnis. Ordell, der ruchlose Waffenhändler, der alles per Waffe statt Intelligenz aus dem Weg räumt, was den Zugriff auf seine 500.000 Dollar gefährdet, scheitert an der Fehleinschätzung nicht nur Jackies, die ihr nie und nimmer für intelligenter gehalten hätte als sich selbst. Er scheitert auch an seinem gelangweilten, müden Freund Louis, der ihn hintergehen würde, ohne mit der Wimper zu zucken, dieser Langweiler, den Ordell voll quatscht, um Ablenkung zu haben. Als er ihn mit zwei Schüssen im Auto tötet, sagt er zu ihm: „What the fuck happened to you, man?“ Ordell ist maßlos enttäuscht. Nicht nur, dass Louis Melanie erschossen hat, weil deren Gequatsche ihm auf die Nerven ging, nicht nur, dass er lediglich mit 40.000 Dollar statt einer halben Millionen erscheint, zu allem Überfluss erzählt Louis auch noch, dass er Max im Kaufhaus gesehen hatte, wo die Geldübergabe stattfand und sich nichts dabei gedacht habe. Das ist sein Todesurteil. Billiges Mordmotiv plus Dummheit, das ist zu viel für Ordell, schlimmer als ein Handlanger wie Beaumont. Der Mord an Louis ist allerdings zugleich der Beginn des Scheiterns von Ordell.
In „Jackie Brown“ wird schrecklich abgestraft. Louis muss büßen, vorher schon Beaumont, Melanie, die sich für schlau hält, bringt ihr Gequatsche den Tod, und Ordell wird Jackie zum Verhängnis. Tarantino zeigt die drei Morde und die Erschießung Ordells durch die Polizisten – im Gegensatz zu seinen früheren Filmen – aus einer unglaublichen Distanz. Kaum Blut. Vom Mord an Beaumont sieht man nur zwei blitzende Schüsse im Dunkeln. Den Mord an Louis betrachtet Tarantino einerseits vom Rücksitz des VW-Busses, in dem Louis und Ordell sitzen, und dann von außen, aus zig Meter Entfernung. Nur ein paar Blutspritzer an der Windschutzscheibe deuten auf Louis Tod. Sein Gesicht ist nicht oder kaum zu sehen, nur sein leichtes Zucken. Als Louis Melanie erschießt, sieht man lediglich ihn, wie er schießt.
Dafür sind zwei andere Aufnahmen zentral für den Ablauf der Handlung. Der cool wirkende und handelnde, aber innerlich zerrissene Max, der von seinem Job eigentlich schon lange die Schnauze voll hat, schaut am Ende mit einer fast unerträglichen Wehmut Jackie Brown nach, die im „geliehenen“ Mercedes von Ordell zum Flughafen fährt, um mit dem Geld in Spanien neu anzufangen. Max ist an einem Punkt, an dem ihm bewusst wird, dass sein Leben so bleiben wird, wie es war und wie es ist. Ein Leben lang wird er Kautionssteller sein. Die andere Szene: Großaufnahme von Jackie im Mercedes. Beide Szenen drücken die Labilität und Widersprüchlichkeit der ganzen Situation aus. „Man“ hat gesiegt. Ordell ist tot. Die Polizei zufrieden. Max bleibt, was er ist. Jackie hat das Geld und jagt ihrem Traum vom neuen Leben nach. Max ist nicht in der Lage mitzufahren, obwohl Jackie ihn gefragt hatte, ob er mitkommt.
Jackie in der Anfangsszene, eine Frau, die noch nicht weiß, wie ihr Leben weitergehen soll. Am Schluss sitzt Pam Grier fast mit dem gleichen Gesicht und viel Geld in der Tasche im Auto von Ordell. Max ist der eigentliche Verlierer in dem Kartenspiel. Für Jackie war er der Joker. Man kann darüber spekulieren, warum er nicht mit Jackie geht. Vielleicht ist es Mutlosigkeit. An einer Stelle fragt Jackie Max, wie er mit dem Alter fertig werde. Vielleicht zweifelt Max, der Jackie ohne zu zögern geholfen hat, ohne dass sie darauf reagiert hätte, aber auch daran, dass beide ein Paar werden könnten. Vielleicht steckt in Max die tiefe Einsicht, dass beide trotz ihrer Zuneigung oder – was Jackie betrifft – zumindest einem Gefühl davon, was Zuneigung sein könnte, dass er aus seinem Trott nicht mehr herauskommt und Jackie das Geld über das Vertrauen stellt, das sie ihm zweifellos entgegengebracht hat, das heißt die Bedeutung dieses Vertrauens gar nicht bemessen kann.
Die Szene im Warenhaus, wo der entscheidende Geldaustausch – der Betrug Jackies sowohl an Ordell wie der Polizei – stattfindet, ein relativ uninteressanter, wenn auch effektvoller Coup, zeigt Tarantino gleich dreimal: aus der Perspektive Jackies, Louis / Melanies und Max Cherrys. Tarantino zieht hier eine zwar für die Handlung entscheidende, aber doch dramaturgisch nicht sehr interessante Szene völlig in die Länge. Auch dies erscheint wie die völlig zurückhaltend inszenierten Morde als ein Kontrapunkt zu seinen früheren Filmen. Der Geduld des Publikums wird einiges abverlangt. Aber genau diese Szene zeigt eben die unterschiedliche Sichtweise und Lebensperspektive der Agierenden.
„Jackie Brown“ ist eine Art Kontrapunkt. In gewisser Weise ist der Film ein „Betrug“, weil er Tarantinos bisherige Arbeiten in vielen Punkten gnadenlos entzaubert, so, wie „Pulp Fiction“ „Reservoir Dogs“ oder „From Dusk Till Dawn“ anderes entzauberten. „Jackie Brown“ ist gegen den Strich dieser Filme gedreht, obwohl es – insbesondere in der Figur Ordells und in Samuel L. Jackson – durchaus Bezugspunkte gibt. Man sehe sich diesen Robert de Niro an, diesen lahmarschigen, genervten, sich fast ständig im Halbschlaf befindenden, extrem langsam denkenden (wenn überhaupt denkenden) Louis, eine Rolle die sogar dem Bild de Niros in anderen Filmen völlig entgegenarbeitet.
Die eigentliche Handlung ist trivial, wenn auch genial, was den Plan einer Stewardess betrifft, den sie gnadenlos und konsequent verfolgt. Es ist ihre Inszenierung. Andererseits enthält der Film nicht nur unterschwellig einen roten Faden des gnadenlosen Scheiterns in einer gnadenlosen Welt. Bis auf Jackie. Sie entkommt nach Spanien. Mit was fängt sie dort an außer mit etwas mehr als 400.000 Dollar? Sie ist intelligent. Also wird ihr was einfallen. Solche Spekulationen fördert der Film, weil er ganz auf die Hauptfigur zugeschnitten ist. Er fördert damit einen Funken Hoffnung, die Hoffnung auf eine Nische, eine Perspektive.
„Betrug“ ist der Film jedoch auch, weil er von einem Bild ausgeht, dem Bild der 70er Jahre in Los Angeles (oder wo auch immer), von einer Kultur, wie man sie sich vorstellt, und den Figuren und dem Verhalten, wie man sie sich vorstellt. In vielen Nuancen erinnert „Jackie Brown“ an Filme aus diesem Jahrzehnt, an Kriminalfilme, allerdings auch hier wieder einen Gegensatz setzend: „Jackie Brown“ ist an Action arm, konzentriert sich auf die Personen, nicht auf rasante Handlung. Die Kaufhausszene ist der Höhepunkt dieser extremen Langsamkeit, fast Behäbigkeit. Aber das darf man nicht mit Langeweile verwechseln. In den Details und Nuancen des Films offenbart sich erst seine Stärke – mit einer grandiosen Pam Grier, einem gewohnt exzellenten Samuel L. Jackson, einem Robert de Niro, der gegen seine üblichen Rollen spielt, einem Robert Forster, wie ich ihn immer wieder sehen könnte, und last but not least einer Bridget Fonda, die die ganz Zeit über high zu sein scheint.
Literaturhinweis: Robert Fischer, „Jackie Brown“ in: Robert Fischer / Peter Körte / Georg Seeßlen: Quentin Tarantino, Berlin 2000, S. 199-230.
Kill Bill I (Kill Bill: Vol. 1) USA 2003, 111 Minuten Regie: Quentin Tarantino
Drehbuch: Quentin Tarantino Musik: RZA Director of Photography: Robert Richardson Montage: Sally Menke Produktionsdesign: Yohei Taneda, David Wasco, Daniel Bradford
Darsteller: Uma Thurman (Die Braut / Black Mamba), David Carradine (Bill), Lucy Liu (O-Ren Ishii / Cottonmouth), Daryl Hannah (Elle Driver / California Mountain Snake), Vivica A. Fox (Vernita Green / Copperhead), Michael Madsen (Budd / Sidewinder), Michael Parks (Sheriff), Sonny Chiba (Hattori Hanzo), Chiaki Kuriyama (Go Go Yubari), Julie Dreyfus (Sofie Fatale), Chia Hui Liu (Johnny Mo), Jun Kunimura (Boss Tanaka), Kazuki Kitamura (Boss Koji), Akaji Maro (Boss Ozawa), Gordon Liu (Johnny Mo)
Erwischt ...
„Kino und Gewalt gehören zusammen. Es ist nun mal interessanter zu sehen, wenn ein Auto explodiert, als wenn es geparkt wird.“ (Quentin Tarantino)
Sicher, „Kill Bill“ ist schon jetzt Filmgeschichte, und „Kill Bill“ handelt von Filmgeschichte, ist eine Hommage an all die Martial-Art-Filme, an Hongkong-Action-Movies, an Spaghetti-Western, John Woo und Clint Eastwood, an Anime, und darüber hinaus zeichnet Tarantino ein Bild des Kinos, spürt Kinogeschichte nach. Nichts an „Kill Bill“ ist echt und doch ist alles „authentisch Tarantino“. „Kill Bill“ ist komisch, kaum tragisch und trotz aller Unkenrufe selbst ernannter Moralapostel und Sittenwächter kein „gewalttätiger“ Film (ich weiß immer noch nicht, was das sein soll), trotz aller Blutströme, abgeschnittenen Körperteile, samt Köpfen, trotz aller Gewalt höchstens – gewaltig.
Uma Thurmans Black Mamba rächt sich an den Mördern ihres Mannes und der anderen Hochzeitsgäste, als einzige, schwer verletzte Überlebende, die glaubt, auch ihr Kind verloren zu haben, nach vier Jahren Koma an den Mördern: Bill (David Carradine), der im ersten Teil des Spektakels nur schemenhaft wahrzunehmen ist, von dem man nur die Stimme hört, der geisterhafte Führer der „Deadly Viper Assassination Squad“, zu der auch O-Ren Ishii (Lucy Liu), genannt Cottonmouth, Vernita Green (Vivica A. Fox), genannt Copperhead, Budd (Michael Madsen), genannt Sidewinder, und Elle Driver (Daryl Hannah), genannt California Mountain Snake, gehören. Die Handlung ist so absehbar wie das Amen in der Kirche. Nach dem Zehn-kleine-Negerlein-Prinzip wird einer nach dem anderen Black Mambas Rache zum Opfer fallen., Sidewinder, California Mountain Snake und Bill erst im zweiten Teil, es sei denn Tarantino hält noch eine überraschende Wende des Spiels parat.
„Die Braut“ ohne Namen, „Black Mamba“, im Trainingsanzug und mit dem geklauten Auto eines erbärmlichen Krankenpflegers, der ihr, die sie noch im Koma lag, Männer „zuführen“ wollte, und der dafür mit seinem Leben bezahlen musste, beschäftigt sich zuerst mit O-Ren Ishii, Haupt eines japanischen Yakuza-Clans, dann mit Vernita, inzwischen Hausfrau und Mutter, obwohl beide Rachefeldzüge im Film in chronologisch umgekehrter Folge gezeigt werden. Das alles ist aber nicht so wichtig. Denn Tarantino reproduziert vor allem das Kino selbst. Ob Asiatische Anime, Sheriffs mit martialischem Auftreten und vier Ersatzsonnenbrillen im Auto, Yakuza-Kodex und so weiter – die Bezüge zu allem, was Kino, insbesondere im Bereich Action, Martial Art, Anime, Yakuza, Mafiafilm, Rachegeschichten ausmacht, werden persifliert, satirisch aufgelöst, sarkastisch kommentiert, komisch verdreht, bewundert.
Doch ist es nicht nur die Liebe des Regisseurs zu den B-Movies aller Zeiten der verschiedenen Genres und Sub-Genres, die in „Kill Bill“ so eindrucksvoll zum Ausdruck kommt. Tarantino lässt deutlich werden, dass Kino und dass Film ein zweites Universum neben der Realität bilden, dass beide unterschiedlichen Regeln folgen und es lächerlich wäre – obwohl es oft geschieht –, beide zu vermischen oder gar das zweite zur Quelle des ersten zu erklären. Blut fließt, aber wie? Man schaue sich das Bild an, nachdem Black Mamba sämtliche Kämpfer von O-Ren Ishii besiegt hat. Ein Teehaus voller Leichen, Überlebender mit abgehackten Armen oder Beinen, jammernd, ein Bild wie gemalt, in dem die Frau des Besitzers – entsetzt, das man ihr Teehaus so verunstalten konnte – zwischen all den schwarz gekleideten Körpern hindurch watet, ein Bild, wie es kaum jemand schöner malen kann, aber in keinem Fall eine Verherrlichung von Gewalt, wie manche Besserwisser sicherlich wieder behaupten werden, sondern ein Bild, das einem, wenn man den Film in sich aufnehmen kann und wirklich hinschaut, gerade die Unsinnigkeit solcher Behauptungen vor Augen führt: Wir sitzen im Kino und nicht zwischen den Leichen auf irgendeinem Schlachtfeld der Menschheitsgeschichte. Und Tarantino sorgt dafür, dass man über solche Szenen herzhaft lachen kann.
Tarantino arbeitet mit Klischees, die nicht die ureigen seinen sind, mit Ikonen wie dem mit Schnee bedeckten weißen Garten hinter dem Teehaus, die ebenfalls nicht von ihm erfunden wurden, mit Figuren, besser Charaktermasken, deren Entstehung im Kino schon lange zurück liegt, wie etwa dem Schwert-Schmied Hattori Hanzo (Sonny Chiba), mit Szenen, etwa dem Rausschmiss einer Vertrauten O-Ren Ishiis, Sofia Fatale (Julia Dreyfus) aus dem Kofferraum („Goodfellas“ lässt grüßen), dem heimlichen Besuch der Mörderin Elle Driver bei Black Mamba im Krankenhaus, um ihr eine tödliche Spritze zu verabreichen, oder auch der Versammlung der Yakuza-Bosse, bei der es zum Streit kommt und einer den Kopf verliert, – Szenen, die wir aus anderen Filmen kennen, die dennoch nicht geklaut sind, sondern in die Groteske, die „Kill Bill“ letztlich auch darstellt, als Teil eines wirklichen Gesamtkunstwerks integriert wurden.
Über die „Gewalt“ in „Kill Bill“ kann nur der nicht lachen, der das Thema Gewalt und den Unterschied zwischen Kino und Realität verdrängt hat oder bewusst vergessen machen will. Als der letzte kampffähige schwarz gekleidete Verteidiger O-Ren Ishiis vor Black Mamba steht und sie ihm Stück für Stück seines Schwertes weghaut, winselt er, zittert und Black Mamba schickt ihn zu Mama nach Hause. Allein diese Szene besticht nicht nur durch ihre Komik; sie löst Kino in das Substrat auf, was es ist: Fiktion. Wenn bei jedem abgeschlagenen Arm oder Kopf das Blut – bzw. die rötliche Flüssigkeit, die dafür verwendet wird! – wie aus einem Feuerwehrschlauch nach dem Befehl „Wasser an!“ heraussprudelt und -spritzt, kann ich nur lachen. Nicht weil diese Szenen lächerlich umgesetzt würden, sondern weil hier Tarantino ebenfalls durch Übertreibung und Absurdität visualisiert, wo und warum wir uns wo befinden: in einem großen Raum zum Vergnügen.
Kino wirkt vor allem durch Bilder. Auch wenn manche Filme auf ausprägte Dialoge setzen, ist Kino kein Hörspiel. Im Gegensatz zu „Pulp Fiction“ kommt „Kill Bill“ „ohne große Worte“ aus, ohne tiefe Charakterisierungen, ohne ausgebuffte Handlung, obwohl Tarantino wieder mit Verschachtelungen arbeitet. Und das ist gut so. Denn die Wirkung der Bilder ist enorm. An was fühlt man sich da nicht alles erinnert, man schmunzelt, lacht drüber. Könnte man lachen, wenn man im wirklichen Leben Zeuge eines Mordes wird? Wohl kaum, es sei denn man ist Psychopath oder dergleichen. Bei Tarantino kann man lachen, wenn ein Kopf fällt. (Und die einzige Szene, die mich wirklich erschreckt hat, ist gleich am Anfang zu sehen, als Bill der noch lebenden Black Mamba in den Kopf schießt. Man hört nur den Schuss; und ich jedenfalls zuckte zusammen.)
Wenn Black Mamba zu Anfang Vernitas Tochter gegenübersteht und der Kleinen – ihre Mutter liegt tot in der Küche – sagt, wenn sie groß sei und sich an ihr rächen wolle, würde sie sie erwarten – dann, ist dies sowohl eine verzweifelte Situation, als auch ganz dem Hollywood-Kino verpflichtet (im Gegensatz zum fast gesamten Rest des Films, der sich immer weiter nach Asien und dem dortigen Kino widmet). Es ist eben jene Mischung aus realitätsnaher Fiktion, die uns für einen Moment oder auch mehr berührt, weil wir sie für echt halten und weil wir uns an „diese Art“ Kino gewöhnt haben, und fiktionsnaher Realität, weil wir alle dazu neigen, das Tragische im Leben zusätzlich zu dramatisieren, dieses Wechselbad zwischen Kino und Realität, zwischen Verstand und Gefühl, mit der Tarantinos „Kill Bill“ spielt – mit sich, mit uns – und das ist gut so, angenehm und komisch.
Last but not least ist „Kill Bill“ auch eine Reminiszenz an die vielen Frauenfiguren, die in den letzten Jahren als Fighter das Kino überschwemmen, gleichzeitig aber auch eine Hommage an bestimmte Frauen selbst. Uma Thurman – kann man mit ihr sympathisieren, mit ihr warm werden, obwohl auch sie doch nur eine „figurative Figur“ in diesem Spielchen ist? Man kann. Man nehme die Szene, in der sie sich nach jahrelangem Koma nicht auf den Beinen halten kann und zum Auto des schändlichen Krankenpflegers kriecht. Sie sitzt auf dem Rücksitz des Wagens, betrachtet ihre Füße und gibt ihrem großen Zeh den Befehl zu wackeln. Einfach schön, und man „wandert“ mit der kämpfenden Uma von Amerika nach Okinawa und Japan, und wer steht nicht auf ihrer Seite in ihrem Rachefeldzug? Da fühlt man sich erwischt. Und man ist erwischt. Und in diesem Sinne ist „Kill Bill“ irgendwie auch die zeitgenössische Bewunderung für einen zeitgenössischen Frauentypus. Was daran wahr und fiktional ist, real oder Verblendung, Schein und Sein – das möge doch bitte jeder für sich selbst entscheiden.
Kill Bill: Vol. 2 (Kill Bill - Vol. 2) USA 2004, 136 Minuten Regie: Quentin Tarantino
Drehbuch: Quentin Tarantino, Uma Thurman Musik: The RZA, Robert Rodriguez Director of Photography: Robert Richardson Montage: Sally Menke Produktionsdesign: Yohei Taneda, David Wasco
Darsteller: Uma Thurman (Beatrix Kiddo / The Bride / Black Mamba), David Carradine (Bill), Michael Madsen (Budd / Sidewinder), Daryl Hannah (Elle Driver / California Mountain Snake), Chia Hui Liu (Johnny Mo / Pai Mei), Michael Parks (Esteban Vihaio), Perla Haney-Jardine (B.B.), Christopher Allen Nelson (Tommy Plimpton), Bo Svenson (Reverend Harmony), Jeannie Epper (Mrs. Harmony), Samuel L. Jackson (Rufus, der Orgelspieler), Claire Smithies (Clarita), Clark Middleton (Ernie), Larry Bishop (Larry Gomez), Sid Haig (Jay, der Barkeeper), Reda Beebe (Lucky), Caitlin Keats (Janeen)
Phantastisches Universum
„I'm the deadliest woman in the world – but right now, I'm just scared shitless about my baby!“ The Bride
„Papa tanzt Mambo, Mama tanzt Mambo.“ Der Pop tanzt sich selbst. Und Tarantino lässt das Kino und Black Mamba tanzen.
Man stelle sich vor, nämlich einen Mord aus Leidenschaft. Das Ergebnis sehen wir alle – eine Leiche. Wie es dazu gekommen ist? Wer will das schon genau wissen? Die Frau, die ihren Mann erschossen hat, erzählt es vielleicht: „so”, der findige Journalist, der die „Story” rekonstruieren will: „so”. Der Staatsanwalt, der gegen die Mörderin ermittelt und seine Akten mit Beweisstücken und Berichten füllt: „so”. Keines dieser „So” wird mit einem der anderen (völlig) identisch sein. Wenn dann ein interessierter Regisseur einen Film über den Fall inszeniert, haben wir ein weiteres: „So”. Und wenn ein weiterer Regisseur aus der Sicht solcher und vieler anderer Filme sich überlegt: Was bleibt übrig von all den Geschichten und Episoden, die das Kino schrieb, die wiederum das Kino irgendwann und irgendwo aus den Leben von Menschen extrahiert hat, und wenn dieser Regisseur zuallerletzt dann noch ein Faible für Martial Arts und Western hat – was glaubt ihr, was dabei herauskommt? Tarantino, und niemand anderes.
Wie „Kill Bill: Vol. 1“ ist der zweite Teil der Geschichte streng durchkomponiert, eingeteilt in die Kapitel 6 bis 10: „Das Massaker von Two Pines“, „Das einsame Grab der Paula Schultz“, „Der grausame Weg von Pai Mei“, „Elle und ich“ sowie „Von Angesicht zu Angesicht.“ Wiederum arbeitet Tarantino mit Rückblenden, bezieht sich auf etliche „Versatzstücke“ der Kinogeschichte und zitiert, wiederum erzählt er eine in sich logische und glaubwürdige Geschichte – und doch erzählt er im Grund eine neue Geschichte, oder: er erzählt die gleiche Geschichte, aber eben nicht dieselbe. Schon die Eingangsszene ist nicht als Martial-Art-Eastern, sondern eben als Western, der sich deutlich auf John Ford und Sergio Leone bezieht, inszeniert.
Während der Probehochzeit zwischen der Braut Beatrix Kiddo (Uma Thurman) – diesen Namen von Black Mamba erfahren wir nun – und Tommy (Christopher Allen Nelson), einem Plattenladenbesitzer, taucht Bill (David Carradine) auf, der vor der Kirche auf einer Bank Flöte spielt. Wie zwei Revolverhelden treten sich Beatrix und Bill gegenüber. Bill, das ist hier nicht mehr der Schlächter aus dem ersten Teil der Saga, sondern ein aus Verletzung gewalttätig Handelnder, der nicht akzeptiert, dass Black Mamba ihr Killerdasein ablegen will. Beide lauern, Bill ist ruhig und cool, spricht leise und bedachtsam. Beatrix bleibt äußerlich gelassen, aber sie ahnt trotz allem nichts Gutes und hat Bill emotional nicht „im Griff“. Als alle – einschließlich des Pfarrers und einiger Gäste sowie des Organisten Rufus (Samuel L. Jackson in einer kurzen, aber prägnanten Szene, auch hier eine Reminiszenz Tarantinos in bezug auf seine eigenen Filme) – beisammen sind, öffnet die Kamera aus dem Inneren der Kirche den Blick nach außen wie aus einem Saloon kurz vor einer Explosion der Gewalt: Leone lässt grüßen. Und trotzdem wird hier nicht kopiert, geklaut, zitiert im üblichen Sinn. Diese Szene, beispielhaft für viele andere, hat einen ganz eigenen, originären Charakter. Sie endet, wie wir schon aus Vol. 1 wissen, mit einem Massaker, das Beatrix (im jahrelangen Koma) überlebt.
Schnitt. Black Mamba setzt ihren Rachefeldzug fort, den sie in „Kill Bill: Vol. 1“ begonnen hatte. Bills Bruder Budd, „The Sidewinder“, hat sich aus dem Killerleben zurückgezogen, sein wertvolles Schwert für 250 Dollar verkauft und arbeitet als ewig zu spät kommender Rausschmeißer in irgendeiner Bar. Beatrix aber unterschätzt seinen Spürsinn, und schon liegt sie mit einer Ladung Steinsalz in der Brust bewegungsunfähig vor dem schäbigen Wohnwagen Budds. Der wittert ein Geschäft. Er will Beatrix Schwert an ihre Rivalin Elle Driver (Daryl Hannah) für eine Million Dollar verkaufen. Die will, dass Black Mamba einen qualvollen Tod erleidet. Budd hat eine in diesem Sinne glänzende Idee. Warum Beatrix nicht lebendig begraben?
Schnitt, zurück in die Vergangenheit. Bill schickt Black Mamba in die Ausbildung nach China zu Pai Mei (Chia Hui Liu), einem Mönch des Lotus-Ordens, der Amerikaner hasst, und Frauen erst recht, und blonde amerikanische Frauen noch mehr. In einer der Tortur nahe kommenden Ausbildung lernt Black Mamba, was kämpfen wirklich heißt.
Schnitt, vorwärts. Beatrix kämpft im Wohnwagen von Budd mit Elle Driver. Mehr sei nicht verraten.
Schnitt. The last fight. Beatrix hat Bill in Mexiko aufgespürt. Und dort erlebt sie eine böse und eine gute Überraschung.
Was passiert hier eigentlich? Lässt man einmal das Groteske, Absurde, Komische, Heroische, mit denen Tarantino die Handlungselemente gleichsam als Eigenschaften eines bewegten Gemäldes koloriert, sowie auch die Bezüge zu den Genres für einen Moment beiseite, was haben wir dann für eine Geschichte? Haben wir überhaupt eine Geschichte? Bill liebte Black Mamba, aber Black Mamba wollte Beatrix Kiddo sein und träumte von einem „gutbürgerlichen“ Leben. Bill will diesen Traum zerstören. Black Mamba erwacht nach diesem Versuch Bills aus dem Koma und will sich rächen. Der letzte Satz aus Vol. 1 „Is she aware her daughter is still alive?“ scheint Programm. Bill tötet aus Liebe zu Black Mamba, Beatrix Kiddo tötet aus Liebe zu ihrem Traum. Ist das eine Geschichte, wie sie das Leben schrieb? Oder schreibt das Leben Tarantinos eine Geschichte, die nicht nur wie ein Traum aussieht?
In einigen Kritiken zum Film war zu lesen, Tarantino vergöttere seine Hauptdarstellerin Uma Thurman über die Maßen. Mag sein, dass er sie vergöttert. Doch was wir sehen, ist nicht Uma Thurman als Uma Thurman, sondern eine „Diva“ im Film, einen weiblichen Racheengel. Wenn Tarantino Beatrix zeigt, wie sie im Auto fährt, die Kamera direkt in ihr Gesicht, gedreht in Schwarz-Weiß, dann erhebt er diese Frauengestalt zu einer Heldin im Film – ganz ähnlich übrigens, wie er dies mit Pam Grier in „Jackie Brown“ (1997) getan hat (man erinnere sich an die lange Eingangssequenz, in der er Pam Grier auf den schier endlosen Wegen durch ein Flughafengebäude zeigt). Da ist etwas von ungestillter Sehnsucht und unerfülltem Wunsch in diesen Szenen, die auch etwa an Filme von Fassbinder erinnern, in denen Barbara Sukowa, Rosel Zech und Hanna Schygulla auf eine Fassbinder eigene Art „bewundert“ und vor allem als bewunderungswürdig gezeigt werden. „Kill Bill“ ist eben auch so etwas wie Wunschproduktion.
Vergessen wird dabei auch, dass David Carradines Bill der ebenbürtige, zweite Star des Tarantino-Universums in Teil 2 von „Kill Bill“ ist. Ich habe Carradine glaube ich nie in einer überzeugenderen Rolle gesehen. Aus dem Kung-Fu-Star der 70er Jahre wird – und auch hier wirkt die Erinnerung an diese Rollen nachhaltig nach! – eine Mixtur aus einem wortgewandten, ruhigen, intelligenten und schlauen Killer und aus einem verletzten Mann, der nur in der Rache aus „verratener“ Liebe handeln kann.
Man kann den Film allerdings in dieser Hinsicht auch ganz anders lesen, um auf das Thema Wunschproduktion zurückzukommen. Man kann ihn lesen als einen schier endlosen Koma-Traum einer Frau, die nicht zu einer Killerin geworden ist, sondern die sich von einer Killerin in das durchschnittliche „normale“ bürgerliche Leben träumt. Der Schluss des Films lässt fast kaum einen anderen Schluss zu. Dies wiederum verweist auf den Verursacher all dessen – auf Tarantino selbst. Wer rauscht in „Kill Bill: Vol. 2“ vorbei? Der kampferprobte Mönch, der sich unzählige Male den schmalen, langen, weißen Bart streift, eine Kunstfigur, in der sich allerdings so etwas wie höchste Konzentration, Disziplin, Härte gegenüber sich selbst und Weisheit personalisiert; der versoffene, manchmal fast larmoyant, dann wieder skrupellos und zynisch sich gebärdende Budd; die eifersüchtige, hintertriebene Elle Driver, die Schlange mit Schlange; schließlich die kriminelle Vaterfigur des Esteban (Michael Parks), dem – in dieser Hinsicht vergleichbar mit Pai Mei – in seiner Altersweisheit völlig bewusst ist, dass es keinen Ausweg gibt als den Kampf auf Leben und Tod zwischen Beatrix und Bill. Was heißt dies? Es hieße, dass die träumende Beatrix in ihrem Rachefeldzug den Weg Tod durch Liebe respektive Liebe durch Tod durchschreitet und durchkämpft – eben gegen die mehr oder weniger gefährlichen Figuren, die sie dabei trifft und treffen muss und die für das stehen, was für diesen Traum, der sich Familie nennt, so symptomatisch ist. Der hübsch-hässliche Begriff „Familienbande“ zeugt in seiner Doppeldeutigkeit genau davon: von liebendem Zusammenhalt wie von schmerzendem Zwang.
Dafür sprechen im übrigen auch die weit weniger als im ersten Teil inszenierten Actionszenen (in Teil 2 herrschen Wortgefechte vor), etwa der Kampf zwischen Beatrix und Elle Driver im Wohnwagen Budds. Die für einen solchen Kampf mit langen Schwertern in der Realität fast unmögliche räumliche Situation wird nur in der visuellen Inszenierung zu einem glaubwürdigen Etwas. Ähnliches gilt für die Sargszene. Wir sind im Kino, in der Phantasie, und da ist alles erlaubt. Das wichtige dabei ist nicht ein falscher Maßstab von Realistik. Das Wichtige ist die Bedeutung, die der Kampf im Rahmen der Phantasie hat. Das wichtige ist, dass B.B. (Perla Haney-Jardine), die Tochter von Bill und Beatrix nach den Anfangsbuchstaben der Namen ihrer Eltern benannt wurde, von Bill. Das wichtige ist, dass Beatrix und B.B. am Schluss übrig bleiben und fast alle anderen tot sind. Das ist der Traum. Das ist der Film, wie man ihn auch lesen kann, und das ist der Ansatzpunkt, diese Interpretation wieder umzuschmeißen und in Argumentation gegen sie eine andere zu wagen.
„Kill Bill: Vol. 2“ verhält sich zu „Kill Bill: Vol. 1“ einerseits wie eine selbständige, für sich sprechende Geschichte, andererseits wie eine Art Gegenstück, ja Entzauberung des ersten Teils, aber nur, um wiederum einen Zauber zu entfalten, in der nicht wirklich etwas erzählt wird, sondern Wünsche, Phantasien, Hoffnungen und Begierden in einem Amalgam von Gefährlichem und Schönen, Tödlichem und nach Leben Gierigem entfaltet wird, das zu allerlei Spekulativem Anlass gibt und Interpretationen freien Lauf lässt.
Wir sind im Kino. Und last but not least ist Tarantinos Zweiteiler eben auch eine (überzeugende) visuelle Demonstration der messerscharfen Trennung von Realität und Fiktion in dem Sinne, als beides je ureigene Raumzeiten mit je eigenen Regeln und Konventionen entfalten, die man nicht wirklich vermischen kann und sollte. Arbeit ist Arbeit und Schnaps ist Schnaps. Realität und Fiktion haben etwas miteinander zu tun, aber sie sind nie eins, ja, sie überlappen sich nicht einmal im Sinne von „Der Film kommt der Realität aber nahe (oder nicht)“. Gewalt in der Realität ist eine soziale Praxis, Gewalt im Film ist ein visuelles Konstrukt. Im Film kann man alles machen, alles konstruieren, das Publikum in die Irre führen oder dorthin, wohin man es haben will. In der Realität kaum. In ihr schlägt sich die Liebe oder der Hass, die Gewalt oder die Friedfertigkeit eine Bahn – unweigerlich. Im Film schlägt sich die Phantasie eine Bahn, und wenn man will, kann man die Szene, die schon gedreht ist, ändern und eine andere produzieren.
Tarantino hat sein Universum für sein Publikum erweitert. Das ist nicht nur gut, es macht Spaß, und es ist, wenn man darüber nachdenkt, vielleicht manchmal ernsthafter zu nehmen als es im ersten oder zweiten Moment erscheint.
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