Thumbsucker - Bleib, wie du bist
(Thumbsucker)
USA 2005, 96 Minuten
Regie:  Mike Mills

Drehbuch:  Mike Mills, nach dem Roman von Walter Kirn
Musik:  Tim de Laughter
Director of Photography:  Joaquín Baca-Asay
Montage:  Haines Hall, Angus Wall
Produktionsdesign:  Judy Becker

Darsteller:  Lou Taylor Pucci (Justin Cobb), Tilda Swinton (Audrey Cobb), Vince Vaughn (Mr. Geary), Vincent D'Onofrio (Mike Cobb), Keanu Reeves (Perry Lyman), Benjamin Bratt (Matt Schramm),Kelli Garner (Rebecca), Chase Offerle (Joel Cobb), Arvin V. Entena (Perry Lymans Assistent)

Versuchskaninchen ...

„Wenn die Weltmeere umkippen, dann ist das auch unser Ende”, verkündet Teenager Rebecca (Kelli Garner) im Debattierclub der Schule einer Kleinstadt in Oregon. Wenn einer mit 17 Jahren noch am Daumen lutscht, wie ihr Schulkollege Justin (Lou Taylor Pucci), dann ist das eine mittlere Katastrophe für seine Umgebung. Trotz solcher welterschütternder Themen, lässt es Mike Mills in seinem Debutfilm ruhig zugehen. Mills, der bis dahin vor allem Musikvideos, Werbeclips, Kurzfilme und Dokumentationen gedreht hatte, schildert die Geschichte Justins und zugleich die seiner unmittelbaren Umgebung, seiner Familie, Schulfreunde, Lehrer und des Zahnarztes Lyman (Keanu Reeves) in einer erstaunlich unaufgeregten und nicht eklektizistischen Weise.

Justin, der Thumbsucker, muss gestört sein, darin sind sich alle einig. Und auch sein Lehrer Geary (Vince Vaughn), die Rektorin, seine Eltern (Vincent D'Onofrio, Tilda Swinton) und sein psychologisierender Zahnarzt, der ihm alle paar Wochen die Zähne richten muss, meinen, es müsse etwas unternommen werden. Selbst Justins kleiner Bruder Joel (Chase Offerle) glaubt, Justin habe eine Riesenmacke, weil der noch nie mit einem Mädchen gevögelt habe.

Papa Mike ist Manager bei Gart Sports, Mama Audrey ist Psychologin. Die Jungens reden beide mit dem Vornamen an, weil sie sich sonst zu alt fühlen würden. Justin träumt von Rebecca, und Rebecca verlangt absolute Ehrlichkeit von ihm – was wohl eher darauf hinausläuft, Justin solle sich ihr voll und ganz offenbaren. Lehrer Geary will seinen Schul-Debattierclub, der auch öffentlich auftritt, zur Höchstform vervollkommnen, und Rebecca ist die absolute Spitzenkraft in diesem Club.

Alles wird anders, als Hobbypsychologe Lyman Justin eine Hypnose verpasst. Justin soll sich ein Totemtier vorstellen, jedesmal wenn er das Bedürfnis verspürt, am Daumen zu lutschen. Das Reh wird zum Totemtier und das Versprechen Lymans, Justins Daumen würde nach Echinacea schmecken, wenn er ihn in den Mund führt, erfüllt sich gnadenlos. Sein ist die Rache, denkt Justin, der völlig aus dem Ruder gerät, und lässt seinen Zahnarzt bei einem Radrennen stürzen. Anlass genug für seine Umgebung, ihn einem Heilungsprozess zuzuführen. Justin leide an einer Aufmerksamkeitsdefizitsstörung. Man verpasst ihm Ritalin (eigentlich: Methylphenidat), das den jungen Mann in Überschallgeschwindigkeit zum schulischen Leistungsträger werden lässt. Er wird Debattierclub-Leader – zur Freude seiner Eltern und Gearys, der Rebecca als Leader verloren hat. Die gibt sich inzwischen irgendwelchen Drogen hin.

So verkehren sich die Verhältnisse. Noch mehr verkehrt sich oder wird offenbar. Mutter Audrey tritt eine neue Stelle in einer Promi-Psychiatrie an, in der auch Fernsehstar Matt Schramm wegen Kiffens behandelt wird. Und Vater Mike wie Justin befürchten, Audrey habe etwas mit dem Star. Joel enthüllt seinem Bruder, er fühle sich schon lange zurückgesetzt, weil es immer nur im Justin gehe. Und Rebecca spielt mit Justin Versuchskaninchen: Sie verbindet ihm die Augen beim Sex. Denn sie will nicht Justin, sondern nur neue Erfahrungen sammeln.

Justin lässt Ritalin weg und kifft. Das ist wenigstens ehrlicher. Und immerhin winkt ein Job auf einer Universität in New York zwecks Ausbildung zum Journalisten – etwas, was er allen verheimlicht hat.

„Thumbsucker” ist Groteske und scharfsinnige Sozialkritik in einem. Hier wird jeder getrieben und glaubt, andere selbst zu treiben, vor allem treiben zu dürfen – zum Glück aller, versteht sich. Vater Mike entpuppt sich als unsicherer Kantonist, der schon lange befürchtet, seine Frau wolle ihn verlassen, liebe ihn nicht mehr etc. Mutter Audrey fühlt sich einsam in ihrer Familie, drängt auf einen neuen Job und verehrt heimlich einen mittelmäßigen Serienstar. Bruder Joel spielt sein Leben so normal, wie er es eben kann, um sich nicht anmerken zu lassen, dass er sich vernachlässigt fühlt. Schulfreundin Rebecca stürzt aus ihrer Leader-Rolle im Debattierclub ins Kiffen ab. Lehrer Geary merkt irgendwann, dass er Justin zu einem Monster gemacht haben könnte.

Und Justin? Versteht die Welt und versteht sie nicht. Mills führt den Zuschauer fast leise, aber bestimmt in eine Welt, die wir alle kennen müssten – in die Welt, in der sich Menschen zwischen Höchstleistung und Versagen die Klinke in die Hand geben. Bäumchen wechsle dich – nur das Prinzip bleibt, wie es ist. Mike flüchtet sich in seine Arbeit aus Furcht vor dem Verlust seiner Frau und dann auch aus Angst, Justin könne besser sein als er, der er doch wegen einer Knieverletzung eine Football-Karriere an den Nagel hängen musste. Lang ist es her, aber so was von präsent!

Manches Mal ist es grauenhaft zu sehen, wie sich Schüler zur Höchstform im Debattierclub der Schule treiben lassen und selbst treiben. Justin stellt Mills als denjenigen dar, der zwischen völligem Versagen und absoluter Höchstleistung die Grenzen dieses Systems austariert – ohne es selbst zu wollen. Denn was in diesem Film jeder will oder nicht, bleibt völlig außen vor – außer bei Justin, der sich heimlich bei einer New Yorker Universität bewirbt. Heimlich, weil es ihm niemand zutraut, dem Daumenlutscher und gestörten Ritalin-Fresser. Dabei hegt der Regisseur des Films durchaus Sympathie zu seinen Figuren. Tilda Swintons wie Vincent D'Onofrios Charaktere Mike und Audrey sind keine verachtenswerten Gestalten, die einem zuwider werden könnten. Sie sind auch nicht einfach bedauernswerte Geschöpfe, für die man nur noch Mitleid haben könnte. Sie sind eher – wie auch Geary – zugleich Opfer und Täter eines Systems, deren Regeln sie selbst nicht (mehr) durchschauen können, eines Systems, in dem Gefühle nur noch Vehikel dieser Regeln zu sein scheinen, eines Systems, in dem ein exakt definierbarer Leistungsbegriff und damit auch das, was als „gesunde” Normalität einzig akzeptabel erscheint, zur absoluten Wahrheit geworden ist. Einzig Justin beginnt langsam zu verstehen, was seine Mitmenschen da treiben und was sie treibt. Zumindest hat er eine Ahnung davon. Als er das Ritalin in die Mülltonne schmeißt, nuckelt er wieder am Daumen – wenn auch nur im Schlaf im Flugzeug.

Soll er doch!! Der Echinacea-Geschmack ist verflogen. Andere kratzen sich laufend am Kopf, obwohl der nicht juckt, können sich nicht an Namen erinnern, obwohl es sich um die von bekannten Leuten handelt, oder lassen in bestimmten Situationen immer die gleichen Sprüche ab. Sollen sie doch!!

Bei alldem kommt die Komik kaum zu kurz – etwa als Justin, der seiner Mutter in der Psychoklinik nachspioniert, vom drogenabhängigen Serienstar Schramm erfährt, seine Mutter habe diesem unter Schmerzen geschmuggelte Drogen aus dem Hintern gezogen. Oder wenn Möchtegernpsychologe Lyman Justin alle Monate lang – sozusagen alle Nase lang – von seinem jeweils neuen Selbsterfahrungstrip erzählt.

Mills Bilder sind ebenso unaufdringlich wie die Geschichte selbst – versetzt mit Traumszenen (voller Kitsch, wie mit dem Reh, oder voller Wünsche, wie Justins Traum von Rebecca, die auf seinem Bett setzt und fragt: „Fickst du mich jetzt?”), schnellen Schnitten und einer Kamera, die sich immer sehr nah am Objekt und an den einzelnen Charakteren aufhält.

Gelungen.

Wertung: 9 von 10 Punkten.
(27. September 2009)