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Tod in Venedig (Morte a Venezia) Italien, Frankreich 1971, 130 Minuten Regie: Luchino Visconti
Drehbuch: Luchino Visconti, Nicola Badalucco, nach dem Roman „Der Tod in Venedig” von Thomas Mann Musik: Gustav Mahler, Franz Lehár, Modest Mussorgksy, Ludwig van Beethoven Director of Photography: Pasqualino de Santis Montage: Ruggero Mastroianni Produktionsdesign: Ferdinando Scarfiotti
Darsteller: Dirk Bogarde (Gustav von Aschenbach), Romolo Valli (Hotelmanager), Mark Burns (Alfred), Nora Ricci (Gouvernante), Marisa Berenson (Frau von Aschenbach), Carole André (Esmeralda), Bjørn Andresen (Tadzio), Silvana Mangano (Tadzios Mutter), Leslie French (Angestellter im Reisebüro), Franco Fabrizi (Barbier)
Von der Ästhetik des Untergangs
"Wer die Schönheit angeschaut mit Augen, ist dem Tode schon anheim gegeben." aus dem „Tristan” von August von Platen (1796-1835)
Ist Schönheit nur eine Idee oder ist sie dem Reich der Sinne entsprungen? Ist man im Angesicht des Schönen dem Tode nahe oder dem Leben endlich anheim gegeben? Schopenhauer sah in der Kunst die wahre Möglichkeit, dass der Mensch über sich selbst hinaus wachse, seinen Egoismus ablege und am „wahren Leben” teilhabe. Doch zugleich sah er in der ästhetischen Wahrnehmung bloß eine Möglichkeit, kurzfristig dem Schmerz des Lebens zu entrücken. Diese negative Sicht des Lebens ist sicherlich der Epoche geschuldet, einer Epoche des unaufhörlichen Aufstiegs der „Reiche” im Zeitalter des Imperialismus und des damit verbundenen unaufhörlichen Abstiegs des Individuums zu einer bloßen Funktion ideologisch konstruierter Kollektive. Thomas Manns Bruder Heinrich lieferte in seinem Roman „Der Untertan” genau davon ein erschütterndes und zugleich fesselndes Beispiel. Die „Flucht in die Kunst”, die Ästhetik, die „Schönheit schlechthin” ist eine mögliche Variante der Reaktion auf diesen Zeitgeist und seine Deformationen des Individuums wie der Gesellschaft.
Auch wenn Luchino Viscontis filmische Adaption des 1913 veröffentlichten Romans Thomas Manns – der Höhepunkt der sog. Dekadenz-Literatur im Schaffen Manns, dem neben Fontane wohl größten deutschsprachigen Erzähler – in einigen wesentlichen Punkten von der Intention Manns abweicht, ist der entscheidende Unterschied zwischen Roman und Film doch eher der zeitliche. Während der Roman dem Zeitgeist einer untergehenden bürgerlichen Epoche und zugleich eines Wiederaufbäumens dieser Klasse unter anderen Vorzeichen bis hin zum Nationalsozialismus geschuldet ist, inszeniert Visconti seinen Film 1971, und man kann kaum glauben, dass der Film keinen Bezug zu wiederum dieser Epoche haben sollte.
In „Tod in Venedig” setzen Mann wie Visconti deutliche äußere Zeichen des Verfalls, der Dekadenz und des Todes – sei es in dem lachenden alten Geck bei der Ankunft der Hauptfigur des Stückes, dem Musiker und Komponisten Gustav von Aschenbach (dem Komponisten Gustav Mahler nachempfunden), sei es in dem merkwürdigen Gondoliere, der vor der Polizei flüchtet, sei es in dem polnischen Jüngling Tadzio, der für Aschenbach zur „Schönheit schlechthin” wird, sei es in der Cholera in Venedig, den Feuern, die an jeder Ecke brennen, dem zahnlosen Musiker, den Aschenbach anspricht und der ihn verhöhnt usw. Die Kunst wird zum blassen Schimmer, die Ästhetik zur hilflosen Krücke einer untergehenden Epoche – untermalt mit der Musik Gustav Mahlers, die dem Film neben dem Interieur, den Kostümen und der dekadenten Schönheit Venedigs die stimmige Atmosphäre verleiht.
Gustav von Aschenbach (Dirk Bogarde) erreicht auf einem Schiff die Lagunenstadt, die sich ihm am Horizont offenbart, eine Stadt, die selbst ein permanenter Ausdruck des Verfalls ist, eine Ikone des Dekadenten, das sich jedoch aufrecht hält, nicht ganz dem Untergang geweiht ist. Aschenbach soll sich auf Anraten der Ärzte hier erholen. In Rückblenden lässt Visconti Teile des Lebens Aschenbachs an uns und ihm vorüberziehen. Unser Blick wird zunehmend im Laufe des Films zum Blick Aschenbachs, eines alternden Musikers, Komponisten und Dirigenten (bei Mann ist er Schriftsteller). Er quartiert sich ein im Hôtel de Bains am Lido, blickt auf den Strand, die Strandkörbe, das Meer. Mit Mantel, gelbem Schal und Hut erreicht er seine Suite, geht hinab in die Hallen des Hotels, setzt sich und beobachtet das Treiben der anderen Gäste. Man redet, lacht, es spielt Musik. Doch Aschenbachs Beobachtungen sind keine der Neugier, des Interesses oder der sonstigen Teilnahme. Aschenbach ist einer Art Melancholie verfallen, einer tiefen Traurigkeit. Und in einer der Rückblenden wird die Ursache dieser Melancholie deutlich. In einem Streit mit seinem Freund Alfred (Mark Burns) heißt es:
Alfried: „Schönheit, Du meinst deine subjektive Vorstellung von Schönheit, die im Geiste lebt?" Aschenbach: „Aber damit bestreitest Du doch die Schaffenskraft des Künstlers aus dem Geiste." Alfried: „Ja, Gustav, genau das bestreite ich." Aschenbach: „Dann müsste nach Deiner Auffassung unsere Arbeit als..." Alfried: „Arbeit sagst Du? Glaubst Du wirklich an Schönheit als Ergebnis von Arbeit?" [...] Alfried: „So wird Schönheit geboren, nur so, spontan, ungeachtet deiner Anstrengungen und meiner. Sie existiert aus sich selbst, unabhängig von unserer Imagination als Künstler."
Doch für Aschenbach ist dies alles unwahr. Er steht vor den Scherben seines Lebens, einer zuletzt erfolglosen Arbeit als Dirigent seiner eigenen Werke, dem Tod seiner kleinen Tochter. Nichts scheint ihm geblieben, der in seiner Arbeit das Schöne schaffen wollte.
Und dann – ja dann sieht er diesen Knaben, mit seinem fast mädchenhaften Gesicht, Tadzio (Bjørn Andresen), einen polnischen Jungen, der mit seiner Mutter (Silvano Mangano), seinen Schwestern und einer Gouvernante (Nora Ricci) im Hotel weilt. Und ab diesem Zeitpunkt gilt Aschenbachs Blick nur noch dieser Fleisch gewordenen Schönheit Tadzios. In ihm sieht er das Ästhetische an sich, die Schönheit per se, ohne sie je greifen zu können, außer in der Phantasie. Nicht nur dies. Der Jüngling antwortet Aschenbach mit seinen Blicken. Das Homoerotische (bei Mann reagiert Tadzio nicht auf Aschenbachs Blicke) in dieser wortlosen, ja „beziehungslosen” Beziehung liegt allein in diesen gegenseitigen Blicken.
Aber es wäre weit gefehlt zu meinen, Aschenbach sei plötzlich homosexuell geworden. Die Aufhebung der Defizite in seinem Leben auf das vermeintlich absolut Schöne in Tadzio ist eine doppelte: Sie ist nicht verursacht durch die Schopenhauersche Sinnlichkeit des Schönen, oder die Alfreds. Sie ist der Versuch, das Vergangene, das Vergängliche aufzuhalten. Aschenbach spiegelt sich in dem Jüngling, versucht „aufzuholen”, was ihm nicht gegönnt war. Zum zweiten manifestiert sich das Schöne nicht in einer Frau – weder in Aschenbachs schöner und begehrenswerter Frau (Marisa Berenson), noch in der schönen Prostituierten Esmeralda (Carole André), die er früher ab und an besuchte (auch dies wird in einer Rückblende gezeigt), sondern in einem jungen Mann, einem Fast-noch-Kind. Damit erklärt sich das Homoerotische aus einer doppelten Entfremdung: Der Aschenbachs vom Sinnlichen (z.B. den Frauen in seinem Leben) und der von seinem eigenen Alter.
Am Strand, im Fahrstuhl, im Speisesaal, in den Gassen Venedigs – überall hin folgt Aschenbach dem Jungen. Das Glücksgefühl dieses kontemplativen Blicks, dem wir im Laufe des Films mit eigenen Augen immer deutlicher folgen müssen, weil Visconti uns dazu zwingt, paart sich jedoch mit der Qual, dem Leiden. Das Ästhetische, das „reine Schöne”, das „Schöne schlechthin”, was sich für Aschenbach in Tadzio verkörpert, bleibt etwas Unerreichbares, etwas, dem sich sein ganzes Inneres nur unterwerfen kann, ohne es jemals in sich fassen zu können. Selbst eine geplante Flucht Aschenbachs aus Venedig scheitert, weil sein Koffer versehentlich in einen falschen Zug gebracht worden war. Und genau hier schon scheint es, als ob unsichtbare Kräfte Aschenbach zwingen wollen, in Venedig zu bleiben, während sein eigenes Inneres ihn selbst dazu zu zwingen scheint. Er kehrt zurück.
Und je mehr er sich der Kontemplation des Schönen hingibt, desto deutlicher werden die Zeichen des Verfalls. Während in Venedig, in dem die Menschen vom Scirocco, einem heißen Wind, der durch die Feuchtigkeit eine unerträgliche Schwüle erzeugt, geplagt werden, und während sich die Anzeichen mehren, dass sich Cholera in der Stadt breit macht, verfällt auch Aschenbach zusehends körperlich. Wie eine Karikatur seiner selbst sieht er aus, als er sich von einem Barbier (Franco Fabrizi) die Haar schwärzen, das Gesicht weißen und die Lippen rot anmalen lässt. Immer gleicher wird er dem zahnlosen Musiker, der auf einem Fest im Hotel gespielt hatte, und dem Greis zu Anfang des Films auf dem Schiff. Er nimmt nicht einmal wahr, dass die Touristen zusehends die Stadt verlassen.
Aschenbach wankt durch die Stadt, kann sich kaum noch auf den Beinen halten, kehrt in das Hotel zurück, in dem sich auch die polnische Familie von Tadzio zur Abreise fertig macht. Der Tod steht ihm bereits im Gesicht. Ein letztes Mal sieht er den Jungen, der im Wasser steht und auf das Meer blickt. Aschenbach, kaum noch in der Lage zu gehen, sitzt da in seinem Liegestuhl, die schwarze Farbe läuft ihm von den Haaren ins Gesicht. Er greift verzweifelt und ohnmächtig nach Tadzio – und ohne wirklichen Kampf gegen den Tod stirbt er. Er sackt in sich zusammen, nicht nur müde des Lebens, sondern nicht wissend, was das Leben denn nun eigentlich war. Nur diese Idee der Schönheit ist ihm geblieben – unnahbar und unerreichbar.
An einer Stelle kommt die Quintessenz dieser Geschichte deutlich zum Ausdruck. Zu Alfred sagt Aschenbach:
„Ich entsinne mich, dass wir so ein Stundenglas auch in meinem Elternhaus hatten. Die Verengung, durch die der [...] Sand rinnt, ist so haardünn, dass es zuerst scheint, als ob der Sand im oberen Hohlraum gar nicht abnehme. Nur ganz zuletzt scheint es schnell zu gehen und schnell gegangen zu sein, nahe dem Ende zu. Aber das ist so lange hin, dass es des daran Denkens nicht wert ist. Und im letzten Augenblick ist keine Zeit mehr, da bleibt uns keine Zeit mehr zum Nachdenken." (Aschenbach zu Alfred)
Visconti setzt hiermit einen deutlichen Akzent. Man könnte auch sagen: Die Weigerung oder Unfähigkeit, die eigene Vergänglichkeit „frühzeitig” in das eigene Denken und Fühlen aufzunehmen, führt zu der Situation im Stundenglas, wenn der letzte Sand keine Zeit mehr lässt, das Versäumte nachzuholen. In dieser Situation befindet sich Aschenbach, der von Dirk Bogarde in exzellenter Weise gespielt wird. Er verlagert – zu spät, weil kurz vor seinem Tod – die Einbeziehung seiner eigenen Vergänglichkeit in die „reine” Kontemplation, repräsentiert durch das Bild des Jünglings, nicht durch Tadzio selbst, den Aschenbach und wir ja im Grunde gar nicht kennen. Aschenbach spiegelt sich in Tadzio, das heißt in dieser „reinen Schönheit” sieht er – unbewusst – das eigene Versäumnis, weil er sein Alter und seine Vergänglichkeit nicht wirklich verstehen kann – auch wenn er im Grunde vor dem Tod kapituliert. Und es ist diese Kapitulation vor dem Tod, die wie nichts anderes das Versäumnis verdeutlicht.
Während Alfred darauf beharrte, dass Schönheit etwas Sinnliches ist und Schopenhauer im Ästhetischen nur eine kurze „Flucht” vor dem schmerzlichen Willen zum Leben sah, betrachtete Aschenbach nur in seiner Arbeit die Quelle alles Ästhetischen – ein fataler Irrglaube, an dem er scheiterte. Hier – in dieser Konstellation – kommt aber auch Viscontis überaus pessimistische Sicht bezüglich der Zeit, in der der Film entstand, zum Ausdruck.
Die Vergänglichkeit und damit die Zeit – nicht mit Zeit im Sinne von Uhrzeit zu verwechseln – sind für Visconti nicht in das „moderne” Denken einbezogen – im Gegenteil. Dieses Denken scheint zeitlos, scheinbar vom Tod abgekoppelt. Der Künstler, und damit auch Visconti selbst (der bei der Aufführung seines Films „Rocco und seine Brüder” ebenso ausgepfiffen wurde wie Aschenbach nach einem seiner Konzerte), steht dieser Situation in einem zugleich erhabenen wie fatalistischen Sinn gegenüber. Visconti „weiß” aber – was fast alle seine Filme nach der neorealistischen Phase auszeichnet – vom Untergang der Epochen, ja er „sieht” ständig dieses Verfallende, weil er „zeitlich” denkt und empfindet. Visconti „denkt” diesen Widerspruch in seinen „Helden”, die allesamt wissen oder zumindest ahnen, dass sie ihrer Zeit längst entwachsen sind, weil ihre Epoche selbst zu verfallen droht. In „Morte a Venezia” schaut Aschenbach auf das, was um ihn herum passiert, wie auf ein Gemälde, in dem sich die Personen zwar bewegen, aber dennoch für ihn in einer prachtvollen, farbenfrohen Statik verharren. Die Zeit scheint nur auf ihn zu wirken. Und diese Zeit ist letztlich der eigene Tod.
Aus diesem Widerspruch zwischen Denken und Empfinden als Ausdruck des Werdens und Vergehens (Aschenbach, Visconti) und dem Sein als etwas Starrem entsteht eine eigentümliche Kombination aus Untergang und Übergang. Auch wenn Viscontis Aschenbach am Ende willenlos stirbt, so doch „nur”, weil ihm bewusst geworden ist, dass er dem Verfall „da draußen” und dem eigenen Verfall nicht entgehen kann. Den Übergang kann Aschenbach nur in dem Jüngling Tadzio wahrnehmen, aber eben in der eingeschränkten Weise einer Art vergötterten, absoluten Schönheit. Er kann das Vergangene nicht festhalten und der Übergang zu einer nächsten Epoche ist ihm versperrt. Der Tod erscheint als einzige Möglichkeit, sich diesem inneren Konflikt zu entziehen – der Übergang ist nur möglich für ihn als Übergang ins Jenseits.
Während der alte Fürst in Viscontis „Der Leopard” um den nicht zu verhindernden Verfall der alten süditalienischen Gesellschaft im 19. Jahrhundert weiß und erhobenen Hauptes den Wandel anerkennt, pragmatisch denkt, „entlässt” Visconti Aschenbach in den Tod, weil Aschenbach keinen anderen Ausweg für sich erkennen kann. Und trotzdem hat Visconti für beide, den Fürsten wie den Komponisten, mehr Sympathie als für alle anderen Figuren seiner Filme.
Natürlich ist Dirk Bogarde (1921-1999) der manifest gewordene Aschenbach, ein Schauspieler, den man nicht überschätzen kann.
© Bilder: Warner Bros. Screenshots von der DVD.
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