Jules und Jim (1962)
Die süße Haut (1964) [folgt]
Fahrenheit 451 (1966)
Zwei Mädchen aus Wales und die Liebe zum Kontinent (1971) [folgt]
Die letzte Metro (1980) [folgt]
Die Frau nebenan (1981)





Jules und Jim
(Jules et Jim)
Frankreich 1962, 105 Minuten
Regie: François Truffaut

Drehbuch: François Truffaut, Jean Gruault, nach dem Roman von Henri-Pierre Roché
Musik: Boris Bassiak, Georges Delerue
Director of Photography: Raoul Coutard
Montage: Claudine Bouché
Produktionsdesign: Fred Capel

Darsteller: Jeanne Moreau (Catherine), Oskar Werner (Jules), Henri Serre (Jim), Vanna Urbino (Gilberte), Boris Bassiak (Albert), Sabine Haudepin (Sabine), Marie Dubois (Thérèse)

Von der Leichtigkeit und Tragik des Seins

„‚Jule et Jim’ wird eine Hymne
auf das Leben und auf den Tod,
die in heiteren und traurigen
Episoden zeigen will, dass eine
Liebesbeziehung außerhalb
des Paares auf die Dauer keine
Chance hat.“ (1)

Leicht, locker, lebenslustig, leger. Alles scheint zu schweben. Man taumelt durch das Leben, als wenn es nichts wäre, ein bestimmtes Nichts, ein Nichts, in dem es nichts Ernstes zu geben scheint, nur das Beschwingte, das Fröhliche, Lustige, der Genuss und die Freude, das leichte Glück und das Heitere. Selbst der Krieg scheint nur eine – wenn auch jahrelange – Unterbrechung des träumerischen Wirklichen. Wer gewonnen habe, sei nicht so wichtig, dass Jules und Jim überlebt hätten, sei viel wichtiger.

Aber nicht nur die Geschichte von Catherine (Jeanne Moreau), Jules (Oskar Werner) und Jim (Henri Serre) scheint dieser Atmosphäre verhaftet; auch die Art und Weise, wie Truffaut diese Geschichte (mit der Handkamera) in Bilder umsetzte, zeugt von einer Leichtigkeit und Beschwingtheit, ja fast Sorglosigkeit, die einen Blick auf die französische Gesellschaft oder zumindest einen Großteil der intellektuellen Nachkriegsgeneration Frankreichs zu öffnen, die sich bezüglich des Kinos als Nouvelle Vague prononciert zu etablieren schien und mit der Namen wie Truffaut, Malle, Godard, Chabrol, Rivette und Rohmer verbunden waren. Und das, obwohl der Film im Frankreich von Anfang des 20. Jahrhunderts bis etwa 1934 spielt.

Paris vor dem ersten Weltkrieg. Der Schriftsteller Jim trifft auf den aus Österreich stammenden Biologen Jules. Die beiden charakterlich so unterschiedlichen jungen Männer freunden sich an. Ein Leben lang werden sie sich mit „Sie“ anreden, was ihrer Freundschaft keinen Abbruch tut, im Gegenteil, was ihre Freundschaft mit der Aura des Ernsthaften umgibt. Jim ist ein „halber“ Beau, ein kultivierter, eleganter Mann, ein Lebemann, der jedoch nicht auf der faulen Haut liegt, sondern schreibt, ein Bonvivant der sympathischen Art, von Frauen angezogen, die ihn wiederum bewundern – ganz der Autor Roché, der die Geschichte seines frühen Erwachsenendaseins erzählt. Jules dagegen, ein bisschen naiv, ein geduldiger Mann, ein sanftmütiger Mensch, in jeder Hinsicht großzügig und verständnisvoll, scheint in Jim einen Freund gefunden zu haben, der ihn ergänzt – vice versa.

Man führt Gespräche, geht Fechten, ergeht sich in flüchtigen Frauenbekanntschaften, während Gilberte (Vanna Urbino) vergeblich bemüht ist, Jim zur Heirat mit ihr zu bewegen. Jules und Jim lernen eines Tages Catherine kennen. Diese Catherine! Ihr Lächeln, ihre Freiheit, ihre Sorglosigkeit, aber auch ihre Zerbrechlichkeit, ihre Intelligenz und Lebenslust. Beide verlieben sich in Catherine, verbringen einige Wochen des Sommers am Meer in einem weiß gestrichenen Feriendomizil, albern herum, haben Spaß – bis der Krieg 1914 Jules und Jim in die verfeindeten Armeen Deutschlands und Frankreichs reißt.

Catherine ist schwanger von Jules, den sie kurz vor Beginn des Krieges heiratet. Jim hatte Jules noch gewarnt. Catherine sei eine Frau, die nie einem Mann allein gehören könne. Doch Jules ist überglücklich, obwohl er jetzt in den Krieg muss.

„Catherine macht alles gründlich,
fast pedantisch. Sie ist kein Mensch;
sie ist eine Naturgewalt und manifestiert
sich nur durch sich selbst. Sie lebt ihr
ureigenes Leben in Klarheit und
in Harmonie und lässt sich nur vom
Gefühl ihrer Unschuld leiten.“
(Jules zu Jim)

1918. Jules und Catherine leben mit ihrer kleinen Tochter Sabine (Sabine Haudepin) in einem Holzhaus im Schwarzwald (gedreht wurde im Elsass). Und eines Tages, nachdem er das Wiedersehen um einige Wochen hinaus gezögert und in dieser Zeit über den vergangenen Krieg geschrieben hatte, besucht Jim Jules und Catherine. Jim merkt schon bald, dass es zwischen den beiden nicht mehr stimmt. Und er erfährt von beiden, dass Catherine für sechs Monate weggelaufen war, mit einem früheren Bekannten, Albert (Boris Bassiak), ein Verhältnis hatte, auch mit anderen Männern. Plötzlich ist sie in Jim verliebt, will von ihm ein Kind. Jim jedoch muss zu seinem Verleger nach Paris zurück. Und als er wieder kommt, ist alles wieder anders.

„Ich verzichte immer mehr auf sie“, sagt Jules, der Jim bittet, Catherine zu heiraten, aber aufzupassen, sie nicht zu verletzen, sie immer zu würdigen. Catherine jedoch scheint mit beiden zu spielen, und mit Albert. Jim kommt zu der Erkenntnis, lieber Gilberte endlich zu heiraten, anstatt vergeblich auf Catherine zu hoffen.

„.. Sie ist eine Königin, Jim. Ich
will ganz offen mit Ihnen sprechen.
Catherine ist keineswegs besonders
hübsch oder intelligent oder ehrlich,
nur, sie ist eine wirkliche Frau.
Und diese Frau haben wir beide.
Sie ist es, die alle Männer begehren.
Warum hat Catherine, die so
umworben wird, uns beiden das
Geschenk ihrer Gegenwart gemacht?
Weil einzig und allein wir sie
vorbehaltlos anerkennen wie eine Königin.“
(Jules zu Jim)

Das Hin und Her, die Wechselhaftigkeit Catherines, ihre Unentschlossenheit wie ihre Entschlossenheit, ihre Verletzlichkeit und ihre Haltlosigkeit führen in eine Tragödie – und Jules bleibt allein zurück, ohne die einzige Frau, die er je geliebt hat, und den einzigen wahren Freund seines Lebens.

Truffaut war von dem Roman Rochés, der stark autobiographische Züge trägt, schon seit Mitte der 50er Jahre fasziniert, konnte sich aber zunächst nicht vorstellen, dass diese Geschichte für das Kino adaptiert werden könne. Später schrieben er und Gruault immer wieder an dem Drehbuch, feilten, änderten, strichen Passagen, machten sich Gedanken über die Besetzung. Und es ist nicht zuletzt Jeanne Moreau selbst gewesen, die Truffaut in seinem Ziel bestärkte, diese Geschichte zu adaptieren.

„Jules et Jim“ war Anfang der 60er Jahre ein gewagtes Unternehmen. Und Truffaut war verwundert, dass der Film von der Zensur freigegeben wurde – wenn auch erst ab 18. Im Gegensatz zum bisherigen (französischen) Mainstream gibt es in „Jules et Jim“ keine Schwarz-Weiß-Malerei in den Figuren, keine moralische oder charakterliche Eindeutigkeit in den Personen. Es geht nicht um eine Frau zwischen zwei Männern, sondern um eine Frau im Verhältnis zu zwei Männern und um deren Freundschaft. Es geht nicht um einen gehörnten Ehemann und einen heimlichen Geliebten, sondern um zwei Männer, deren Freundschaft in beider Liebe zu Catherine eben nicht zerbricht, sondern bis zuletzt aufrecht erhalten bleibt. Wir treffen auf keine „Guten“ und „Bösen“, sondern auf wirkliche Menschen, auf eine gelebte Moral, nicht auf eine aufgesetzte.

Truffaut bewundert diese Catherine, aber eben vor allem, weil Jeanne Moreau sie verkörpert. Er sieht, wohl nicht ganz zu Unrecht, in der Moreau vieles von der Romanfigur und umgekehrt. De Baecque und Toubiana drücken dies in ihrer Truffaut-Biographie so aus: „Durch die Figur der Catherine wird Jeanne Moreau für Truffaut zur Inkarnation der vollendeten Frau – zerbrechlich und verhängnisvoll, intelligent und lebhaft, lustig und tragisch, frei, unabhängig, bis zum Äußersten ihrem sexuellen Begehren folgend.“ (2)

„Jules et Jim“ ist die Geschichte von Glück, Leidenschaft, Liebe und Freundschaft, aber eben auch von Tragik, Abhängigkeit und Tod. Beide Männer sind emotional derartig von Catherine fasziniert, dass sie an dieser Abhängigkeit zugrunde gehen. Allerdings, und das macht den Film zu einem Unikum in seiner Zeit, enthält sich Truffaut jeglicher moralischer Be- oder Verurteilung. Er erzählt, auch mit Hilfe eines Erzählers aus dem Off (der Schauspieler Michel Subor in der Originalversion), aus notwendiger Distanz wie einfühlsamer Nähe zu den drei Hauptfiguren die Geschichte in einem Zeitrahmen von ungefähr 30 Jahren (bis zur im Film in einer Wochenschau gezeigten Bücherverbrennung der Nazis).

„Jetzt war die Angst für Jules zu Ende,
die ihn bedrückte, seit er Catherine
kannte. Angst zunächst, dass sie ihn
betrügen könnte, zuletzt nur noch Angst
vor ihrem Tod. ... In Catherine war Jules
die harte Wirklichkeit begegnet, an der
er zerbrach. Hatte Catherine den Kampf
um des Kampfes willen geliebt? Nein,
gewiss nicht. Aber sie hatte Jules um alles
gebracht: sein Glück, seine Ideale, seine
Liebe. Die Freundschaft zwischen Jules und
Jim hatte in der Liebe keine Entsprechung
gefunden. Sie freuten sich an den Nichtigkeiten
des Lebens und übersahen wohlwollend
die Fehler des anderen. Schon zu Beginn ihrer
Freundschaft gab man ihnen die Spitznamen
Don Quichote und Sancho Pansa.“

„Jules et Jim“ ist eben nicht nur eine bittere Tragödie, sondern zuweilen auch eine leicht sarkastische und selbstironische Komödie. Die Positionierung der Figuren ist nie eindeutig möglich. Sie „schwirren“ durch die Zeit, gruppieren sich um, und nicht zuletzt eine beschwingte Komik ist dafür ab und an verantwortlich, dass der Film nicht zu einer bierernsten Angelegenheit wird – etwa wenn Catherine den beiden Männern erklärt und mit dem Gesicht zeigt, dass sie beschlossen habe, künftig nicht mehr mit einem ernsten Gesicht herumzulaufen, sondern mit einem Lächeln. Sie macht es vor, und fast unmerklich lässt Truffaut u.a. in dieser Szene das Bild kurz anhalten, um Jeanne Moreaus Gesichtsausdruck festzuhalten. Nicht zuletzt rekurrieren Truffaut und die Moreau in dieser Szene auch auf die bisherigen, sehr ernsten Rollen der Moreau.

(1) Aus einem Brief Truffauts an Helen Scott vom 26.9.1960, in: Briefe 1945-1984, Köln 1990, S. 188.
(2) Antoine de Baecque, Serge Toubiana: François Truffaut. Biographie, 2004 (1996), S.291.



Fahrenheit 451
(Fahrenheit 451)
Großbritannien 1966, 112 Minuten
Regie: François Truffaut

Drehbuch: Jean-Louis Richard, François Truffaut, nach dem Roman von Ray Bradbury
Musik: Bernard Herrmann
Director of Photography: Nicolas Roeg
Montage: Thom Noble
Produktionsdesign: Syd Cain, Tony Walton

Darsteller: Oskar Werner (Guy Montag), Julie Christie (Clarisse / Linda Montag), Cyril Cusack (Captain), Anton Diffring (Fabian / Schulleiterin), Jeremy Spenser (Mann mit Apfel), Bee Duffell (Bücherfrau), Alex Scott (Mann „Das Leben des Henry Brulard“), Michael Balfour (Mann „Machiavellis ‘Der Fürst’“), Roma Milne (Clarisses Nachbarin)

Das Paradoxe des Totalitären

Eine triste, graue und kalte Szenerie in einer nicht allzu fernen Zukunft entfaltet sich vor unseren Augen. Menschen in einer Schwebebahn, schweigend, ins Nichts blickend. Die Häuser, die sie bewohnen, die Städte, in denen sie leben, ähneln bis aufs Haar der Gegenwart der 60er Jahre. So farblos wie das Grau dieser Architektur ist die soziale Architektur, die nur durch ein grelles, fast beißendes, brennendes Rot durchbrochen wird – das Rot der Feuerwehr, das wiederum durch das Schwarz der Kleidung der Feuerwehrleute kontrastiert wird. Diese Feuerwehr hat nicht die Aufgabe, Brände zu löschen, sondern zu legen. Die Häuser werden schon seit Jahren brandsicher gebaut. Sie werden bis in alle Ewigkeit stehen, nur, dass Ewigkeit und Gegenwart zu einem einzigen verschmolzen sind. Die Feuerwehr ist eine paramilitärische Einheit, nennt sich Fahrenheit 451, weil Papier bei dieser Temperatur (ca. 232? Celsius) verbrennt. Die Verbreitung, der Besitz und vor allem das Lesen von Büchern ist unter Strafe verboten.

Die soziale Architektur, die Truffaut uns in diesem 1966 gedrehten Film zeigt, ist aber durch weit mehr als dieses Verbot gekennzeichnet. Der Captain der Feuerwehr (Cyril Cusack) bringt es auf den Punkt. Alle sollen gleich sein, was bedeutet: Jeder Individualismus ist verboten. Die Bücher stehen im Zentrum des Kampfs gegen den Individualismus, weil sich in ihnen die Autoren über andere erhöhen, sich in den Mittelpunkt stellen, besser erscheinen wollen als andere usw. Phantasieren, Träumen, Philosophieren, ja Kultur als solche sind ausgelöscht – im wahrsten Sinn des Wortes.

Montag (Oskar Werner) ist seit fünf Jahren bei der Feuerwehr. Sein Leben ist ein Pendeln zwischen seinem feuerfesten Haus und seinen feurigen Einsätzen, „vermittelt” durch die Schwebebahn des Schweigens. Seine Frau Linda (Julie Christie) verbringt den Tag – vollgestopft mit Drogen – vor einer überdimensionalen Bildwand, über die das staatlich gelenkte Fernsehen einerseits Propaganda gegen den Fluch der Bücher betreibt, andererseits durch niveaulose Spielchen die Betrachter davon ablenkt, über sich selbst und die Gesellschaft nachzudenken. Die Erinnerung ist in dieser Gesellschaft ebenso ausgelöscht wie die Zeit, die still zu stehen scheint. Linda hat vergessen, wann sie und Montag sich kennenlernten. Für die Funktionsweise dieser totalitären Gesellschaft ist Erinnerung nicht nur nicht notwendig, sondern lebensgefährlich.

Montag ist ein stiller Mensch, was seinem Captain an ihm gefällt. Denken und Reden hat sich funktionalisiert: man lebt nicht, man existiert. Das Ich und das Du sind zu einem „Man” verkommen. Für die totalitären Machthaber, die im Film unsichtbar bleiben, ist der Kampf ihrer Feuerwehr gegen Menschen, die noch Bücher besitzen, ein Kampf gegen die Restbestände einer veralteten Gesellschaft. Der Krieg der Nationen scheint gebannt; der Krieg gegen die Unverbesserlichen ist der Endkampf bis zum Endsieg einer verflachten, öden sozialen Architektur.

Montag trifft auf eine Nachbarin, Clarisse (ebenfalls Julie Christie), die ihn in ein Gespräch verwickelt, das so ganz anderes ausdrückt als das Mechanische in der „Sprache” zwischen ihm und seiner Frau. Clarisse fragt Montag, ob er die Bücher lesen würde, bevor er sie verbrennt. Clarisse ist lebendig, und sie lockt das Lebendige in Montag, sie provoziert sein Herz, seinen Verstand, seine Phantasie. Montag hortet heimlich Bücher. Jetzt fängt er an zu lesen, erst stockend, dann immer flüssiger, laut liest er sich vor, dann wieder leise. Er verschlingt ein Buch nach dem anderen – und muss bei einem Einsatz zusehen, wie eine ältere Frau (Bee Duffell) sich lieber mit ihren Tausenden von Büchern im eigenen Haus verbrennen lässt, als ohne ihre Bücher weiter zu leben.

Montag hat gelernt, sich zu beherrschen. Beherrschung macht vor allem das aus, was als Gleichmacherei – hehres, unverrückbares Ziel dieser Gesellschaft – in die Köpfe eingetrichtert wird. Tote Lebende rasen hinter den Büchern und ihren Besitzern her. Der Tod verfolgt das Lebendige. Montag bleibt gelassen, nur einmal rastet er aus, als er seine Frau und ihre drei Freundinnen in Langeweile und Eintönigkeit vorfindet, vor der Leinwand im Wohnzimmer. Montag hat die Furcht verloren, liest ihnen vor aus einem Buch und erreicht, dass eine der Freundinnen zu weinen beginnt. Weinen aber ist nicht erlaubt, ebenfalls Ausdruck von Egoismus, der verpönt ist. Montag riskiert sein Leben, weil er endlich spürt zu leben. Montag hat Angst, weil er wieder träumen kann. Er träumt und sieht Clarisse, diese lebendige, spürbare „alternative“ Verdopplung seiner Frau, die als Lehrerin für untauglich erklärt wurde, weil sie den Kindern Emotionen vermittelte, er träumt von ihr einen Alptraum: Sie verbrennt statt der Bücherfrau. Montag beginnt zu fühlen und zu ahnen, was Zuneigung ist, und Angst und Schmerz.

Draußen herrschen Verrat, Denunziation und Devotismus – die wirklichen Säulen der totalitären Strukturen. Fabian (Anton Diffring), Montags Kollege, will die Beförderung, die der Captain zunächst Montag versprach. Will er sie, muss er herausfinden, was man Montag anhängen kann. Als Montag mit Clarisse zur Schule geht, um zu erfahren, warum man sie entlassen hat, schaut aus einem Fenster das böse Gesicht der Schulleiterin (ebenfalls gespielt von Anton Diffring) heraus. Montags Frau verrät ihren Mann an die Feuerwehr; sie kann nicht leben, sie will nur existieren.

Truffauts „Fahrenheit 451” kann man sicherlich auf verschiedene Weise lesen, sicher als Kritik am Totalitarismus, sicherlich als Plädoyer für individuelle Freiheit und subjektives Eigenhaben. Der Film ist jedoch mehr. Dass ausgerechnet Bücher verpönt sind und verbrannt werden, ist kein Zufall. Sie sind zum einen Ausdruck dieses subjektiven Eigenhabens und an der „Konstitution” von Erinnerung, also Gedächtnis, also Subjektivität, also Geschichte, also Tradition, also Revolte, ergo Phantasie, ergo Kommunikation, ergo Emotionalität ... beteiligt. Mehr noch: Sie sind als Vergegenständlichung der verbalen Seite des Kommunikativen Korrektiv des Visuellen – vice versa übrigens. Das Gesehene muss durch den Betrachter verbal zerlegt und neu zusammengesetzt werden, um es begreifen zu können und die kritische Distanz zu ermöglichen. Umgekehrt: Das Verbale als kommunikativer Raum bedarf der visuellen Vorstellung(skraft), um es sich eben vor-stellen zu können, es vor sich zu stellen als Bild. Jeder der einen Roman liest, macht sich eigene Bilder zu Personen, Raum, Zeit und Handlung des Beschriebenen. Er montiert Bilder. Wieder umgekehrt: Jeder, der etwas bewusst sieht und emotional in sich aufnimmt, differenziert das Gesehene in Worten, vielleicht erst in der Erinnerung an das vormalig Gesehene, beispielsweise an Urlaubserlebnisse, Kinofilme oder eine Beerdigung und ihren Ablauf. Jedenfalls sollte es so sein. Was, wenn es nicht so ist, was, wenn einem der visuelle oder verbale Zugriff auf die eigene Subjektivität, deren gesellschaftliche Konnotationen und ihre konstitutiven Elemente verweigert wird?

Wir können dies selbst überprüfen. Denn in unserer Alltagsroutine verlieren Bilder ihren Wert, wenn wir beispielsweise jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit oder in die Stadt dieselben Dinge „sehen”. Sie werden zur Routine, nicht mehr „hinterfragt”. Möglicherweise sehen wir auf einem dieser Wege etwas, was gar nicht mehr da ist, weil wir das erinnerte Bild derartig verinnerlicht haben, dass wir es noch wahrnehmen, wenn der Gegenstand gar nicht mehr vorhanden ist. Wird, wie im Film, dem verbalen Diskurs der Garaus gemacht, verlieren die Bilder ihren Stellenwert, das Visuelle seine Kraft, weil es zum monotonen Selbstverständlichen – zum toten Bild – einer sozialen Architektur geworden ist, in der Entwicklung, das heißt das Ent-Wickeln subjektiven Eigenhabens nicht mehr möglich ist. Stillstand. Totalitäre Gesellschaften sind, nicht nur von ihrer Ideologie her, tote Gesellschaften und Gesellschaften von Quasi-Toten. Allerdings gebärt jede Ideologie und erst recht jeder Versuch, die gesellschaftliche Praxis nach ihr auszurichten, notwendigerweise Widerstand, weil derlei Praxis dem Menschen wesentliches nimmt.

Truffaut geht daher konsequent einen Schritt weiter. Er zeigt die Rebellen, die Zuflucht in die Wälder nehmen, in ihrem Versuch, das Verbale als konstitutiven Ausdruck sozialer Vitalität wiederherzustellen, indem sie den Inhalt von Büchern auswendig lernen, um sie dann zu verbrennen und dadurch das Risiko der Verfolgung zu minimieren. Rebellion erscheint hier als Kehrseite des Totalitarismus. Das Subjekt wird, indem es sich ganz auf das Verbale konzentriert, andererseits zum Bewahrer des Verlorenen, Gefährdeten, Verfolgten, des der Vernichtung anheim Gegebenen – und wird dadurch paradoxerweise zur Kehrseite des Totalitären. Foucault benannte dieses Paradoxon, indem er schrieb, Macht sei weniger Ausdruck der Unterdrückung durch eine herrschende Klasse als vielmehr das Zentrum, um das sich eine Gesellschaft gruppiere. Zur Macht gehört die Ohnmacht wie der Teufel zum Weihwasser oder das Gute zum Bösen.

Damit allerdings sind auch die Perspektiven der Büchermenschen begrenzt – eben durch das Totalitäre auf der anderen Seite. Man kann es auch anders formulieren. Solange der (nicht nur im Film gezeigte) Widerstand sich in Formen äußert, die durch das Totalitäre hervorgerufen werden, bleibt das Totalitäre bestehen, selbst dann, wenn es in der gerade bestehenden Form fällt. Die Folgen der Oktoberrevolution sind ein beredtes Beispiel dafür. Lenin und seine Nachfolger blieben dem Denken des Industrialismus und der politischen Diktatur verhaftet; sie reproduzierten sie in anderer Form, obwohl sie sich als Repräsentanten einer ganz anderen Welt verkauften.

Das Graue und Triste der sozialen Architektur, in der Montag seine Arbeit verrichtet, findet eine merkwürdige Entsprechung bei den durch den Wald wandelnden Büchermenschen, die mit nichts anderem mehr beschäftigt sind, als ihre Bücher auswendig zu lernen. Ein hoffnungsloses Leben. Sie laufen aneinander vorbei; trotzdem erscheinen sie befreit, glücklich, friedlich, phantasievoll zu sein. Aber haben sie eine Perspektive?

Der unvergessene Oskar Werner (1922-1984, u.a. „Jules und Jim“), und Julie Christie (u.a. „Doktor Schiwago“, 1965) glänzen in ihren fein aufeinander abgestimmten Rollen. Die exzellente Vorlage Bradburys, die Musik Bernard Herrmanns (der zuvor mit Alfred Hitchcock gearbeitet hatte, aber auch mit Orson Welles), die oft leicht grotesk wirkende Art der Inszenierung Truffauts und ein der Gegenwart (der 60er Jahre) weitgehend angepasstes Produktionsdesign machen „Fahrenheit 451“ für mich zu einem Klassiker des Sciencefiction.



Weitere Filme von Truffaut:
Der Antoine-Doinel-Zyklus:

“Sie küssten und sie schlugen ihn” (1959)
“Liebe mit Zwanzig: Antoine und Colette” (1962)
“Geraubte Küsse” (1968)
“Tisch und Bett” (1970)
“Liebe auf der Flucht” (1979)

“Schießen Sie auf den Pianisten” (1960)
 

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