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Voltaire ist schuld (La Faute à Voltaire) Frankreich 2000, 130 Minuten Regie: Abdel Kechiche
Drehbuch: Abdel Kechiche Director of Photography: Dominique Brenguier, Marie Spencer Montage: Anick Baly, Tina Baz, Amina Mazani Produktionsdesign: Quentin Prévost
Darsteller: Sami Bouajila (Jallel), Élodie Bouchez (Lucie), Bruno Lochet (Franck), Aure Atika (Nassera), Virginie Darmon (Leila), Olivier Loustau (Antonio), François Genty (Paul), Sami Zitouni (Nono), Carole Franck (Barbara), Jean-Michel Fête (Philippe), Manuel Le Lièvre (André), Tonio Descanvelle (Fredo)
Jallel, Lucie und die anderen vom Haufen1
Der auf der in Venedig im Jahr 2000 mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnete und jetzt in den Kinos zu sehende Film von Abdel Kechiche (der auch Schauspieler ist und verschiedene Drehbücher schrieb) fand in der Kritik zumeist wohlwollende Zustimmung.
Jallel (Sami Bouajila) kommt aus Tunesien nach Paris. Dort raten ihm Freunde, sich als politisch verfolgter Algerier auszugeben, um überhaupt eine Chance auf Aufenthalt in Frankreich zu haben. Jallel wird von den Behörden angehört, erzählt eine erfundene Geschichte und wird in einem Männerwohnheim untergebracht. Dort lernt er Franck (Bruno Lochet) und Antonio (Olivier Loustau) kennen, die sich fast schon rührend und freundschaftlich um ihn kümmern. Um etwas Geld zu verdienen, verkauft Jallel Obst, dann Rosen in der Metro. In einer Bar lernt er Nassera (Aure Atika) kennen, die eine katastrophale Beziehung hinter sich hat, aus der ein Kind hervorgegangen ist. Nassera ist von Männern enttäuscht, hält auch Jallel auf Abstand. Doch sie lässt sich darauf ein, eine Scheinehe mit ihm einzugehen, um seinen Aufenthalt zu sichern. Jallel, Nassera, Franck, Antonio und die Kollegin von Nassera, Leila (Virginie Darmon), treffen sich vor dem Standesamt. Aber in letzter Sekunde entschließt sich Nassera, heimlich mit ihrem Sohn zu verduften.
Jallel ist völlig deprimiert. Seine Freunde bringen ihn in eine psychiatrische Klinik – mit gefälschten Papieren. Dort lernt er die leicht verwirrte Lucie (Élodie Bouchez) kennen, die – wenn sie Zigaretten hat – Kette raucht, wenn nicht, für ein paar Zigaretten mit jedem Mann ins Bett geht. Lucie ist sehr angetan von Jallel, versucht ihn zu verführen, ohne etwas dafür zu verlangen. Doch Jallel hält Lucie auf Abstand. Sie tut ihm leid, aber er will nichts weiter von ihr.
Als er entlassen wird, steht Lucie plötzlich vor ihm, hängt sich an ihn, will mit ihm schlafen. Jallel hat Mitleid mit ihr, lässt sie die Rosen binden, die er in der Metro verkauft. Je länger die beiden zusammen sind, desto mehr wandelt sich Jallels Mitgefühl zu Lucie in tiefe Zuneigung. Er genießt das Leben mit ihr, mit seinen Freunden Antonio und Franck. Alle zusammen fahren zum Petanque-Spiel ...
„La Faute à Voltaire“ ist kein Film über die „Ausländerproblematik“, kein politischer Film, kein Lehrstück, kein Film voller Mitleid, kein Outsider-Drama. Genau das alles vermeidet Abdel Kechiche, der von seinem Film als einem „reinen Schauspielerfilm“ spricht: „Ich habe das Buch, die Dialoge, die Figuren für die Schauspieler geschrieben. [...] Die Inszenierung sollte ganz einfach sein, niemals auffallen. Nur nicht auf Stil machen! Ich passe die Aufnahme und den Schnitt den Bewegungen der Akteure an. [...] Ich wollte von keiner meiner Figuren, dass sie ein Opfer ist“ (2). Das alles trifft meinem Eindruck nach völlig zu.
Kechiche erzählt!! Und ich kann dies nur als wohltuend empfinden, dass endlich ein Film mal wieder eine Geschichte „einfach“ erzählt – nämlich einen Ausschnitt aus dem Lebens Jallels während seiner Zeit in Paris. Kechiche bezieht keine (politische) Position, er rührt nicht in falschem Mitleid und meist arroganter „Ausländerfreundlichkeit“, sondern entwickelt – völlig unabhängig von Fragen der Herkunft oder sozialen Stellung eine Geschichte aus der Sicht eben seiner Figuren. Die Kamera bewegt sich mit ihnen und nicht gegen jemanden. Die staatlichen Behörden, die Polizei bleiben außen vor, auch wenn sie im Hintergrund „anonym mitgedacht“ werden, auch von Jallel und den anderen. Aber dies eben spielt für ihr Leben nur eine untergeordnete Rolle, auch wenn die Hoffnung auf langfristigen Aufenthalt in Frankreich für Jallel äußerst unrealistisch ist.
Was macht er? Er versucht, sein Leben zu führen, so gut es geht. Er nimmt sein Leben in Paris in die Hand. Jallel ist ein geduldiger, äußerst hilfsbereiter, intelligenter Mensch, der für andere sehr viel Mitgefühl aufbringt und trotzdem sich selbst und anderen Grenzen setzen kann. „Ich wollte Mitgefühl und Verständnis wecken, indem ich eine gewöhnlichere Darstellung wählte, um genau den Schutzschirm zu zerstören, den der politische Diskurs aufbaut, um größere Nähe herzustellen“ (3).
Auf diese Weise ist nicht nur Jallel, sondern sind auch Lucie und die anderen Personen „gestrickt“. Fast hat man manchmal den Eindruck, die Mimen spielten sich selbst. Élodie Bouchez als Lucie z.B. wirkt im ersten Moment wie eine jener Drogenabhängigen, denen man ihre Sucht am Verhalten, am Gesichtsausdruck ansehen kann. Doch ihre Krankheit ist anderer Art. Lucie ist „rückständig“, sie lebt in einer eigenen Welt, ohne jedoch autistisch zu sein. Im Gegenteil: Sie nähert sich anderen (Männern) über ihre Nikotinsucht, sucht letztlich körperliche Nähe, um emotionale Nähe zu finden. Doch dies gelingt ihr nicht, lässt sie oft aggressiv werden. Erst als Jallel auftaucht, weiß sie plötzlich, was sie will, dass er es ist, deren Nähe sie braucht – weil sie ihn sofort liebt. Élodie Bouchez spielt diese Rolle grandios. Sie ist stark, obwohl sie schwach ist oder vielleicht weil sie schwach ist.
Kechiche vermeidet es, ihre Person zu erklären. Auch Jallel und die anderen werden nicht erklärt. Man erfährt über ihre Vergangenheit so gut wie nichts. Kechiche zwingt sein Publikum auf diese Weise, sich mit den Figuren so auseinander zu setzen, wie sie sind, und nicht damit, wie sie geworden sind. Er vermeidet nicht nur Psychologisierung: „Ich wollte nicht in die Falle eines Thesenfilms gehen, der seiner These meist einen schlechten Dienst erweist. Natürlich kann man den Film politisch lesen, aber darin erschöpft sich der Film nicht. Ich wollte mehrere Lektüreniveaus verbinden, damit der Film für viele Deutungen offen bleibt, in einer Weise, die der arabischen Erzählung nahe steht: Eine arabische Erzählung demonstriert in erster Linie die Lust am Erzählen!“ (4)
Und diese Lust am Erzählen korrespondiert mit dem Zwang zur Beschäftigung mit den Personen, anstatt in (politischen oder anderen) Positionen zu verharren und den Zeigefinger zu schwingen. Beispiel: Nassera erscheint als starke, Lucie als schwache Frau. Nassera aber flieht vor der Scheinehe im Brautkleid; sie flieht vor ihren negativen Erfahrungen mit Männern und beraubt sich auf diese Weise einer möglichen positiven. Lucie, in der Psychiatrie, „zurückgeblieben“, ist stärker als Nassera: Sie weiß, was sie will. Sie will raus und sie will Jallel. Sie formuliert, was sie will.
Oder Franck, ein nicht besonders schöner Mann, kein Geld, keine Karriere, Männerwohnheim. Er will die schöne Leila. Er bekommt sie, weil Leila will.
„La Faute à Voltaire“ ist ein Film, der sich nicht auf Positionen zurückzieht. Er greift hinein in die Vitalität seiner Figuren, auf ihre Körper, ihre Empfindungen, wie sie sind und nicht wie sie sein sollen oder erklärt werden könnten. Kechiche filmt in Sympathie zu seinen Figuren. Sie wirken nicht wie Aushängeschilder, weder als gebrandmarkte Outlaws oder Underdogs, noch als Vehikel für irgendein politisches Statement. Ein Film zum Anfühlen, Lachen und Weinen, ein Drama des Leids und der Freude.
Wie Candide von Voltaire wirst Du geschunden und gequält und musst doch erkennen, dass du in der besten aller möglichen Welten lebst – weil es keine andere Welt gibt.
(1) Freie Assoziation nach Pedro Almodóvars Film „Pepi, Luci, Bom und die anderen Mädchen vom Haufen“ (1980). (2) Statements des Regisseurs und der Darsteller (3) Ebd. (4) Ebd.
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