Whale Rider
(Whale Rider)
Neuseeland, Deutschland 2002, 105 Minuten
Regie: Niki Caro

Drehbuch: Niki Caro, nach einem Roman von Witi Ihimaera
Musik: Lisa Gerrard
Director of Photography: Leon Narbey
Montage: David Coulson
Produktionsdesign: Grant Major, Grace Mok

Darsteller: Keisha Castle-Hughes (Paikea „Pai“ Apirana), Rawiri Paratene (Koro), Vicky Haughton (Nanny Flowers), Cliff Curtis (Porourangi), Grant Roa (Onkel Rawiri), Mana Taumaunu (Hemi), Rachel House (Shilo), Taungaroa Emile (Willie), Tammy Davis (Dog), Mabel Wharekawa (Maka), Rawinia Clarke (Miro), Tahei Simpson (Miss Parata)

Als der Wal das Leben brachte ...

Legenden mussten in traditionellen Gesellschaften die zumeist strenge soziale Hierarchie und Struktur aufrechterhalten, weil eben auch die folgenden Generationen in solchen Strukturen leben sollten. Kinder, die wild und unbändig ihre Welt zu erkunden suchen, müssen in die Grenzen des eigenen Gemeinwesens verwiesen werden. Eine mehr oder weniger ausgewogene Mischung aus Eigenerfahrung und Erziehung soll sie in die entsprechenden Hierarchien und Strukturen einbetten. Man weiß, dass es auch für die so genannten modernen Gesellschaften etliche Legendenbildungen gibt, mit dem Unterschied, dass diese Legenden zumeist kurzlebiger und vielfältiger, oft komplizierter Gesellschaft konstituieren (können und sollen). „Die Stunde Null“, „Das Wirtschaftswunder“, „1968“, „1989“ (die schlimmste und zugleich erbärmlichste Legende hier: „Der Kanzler der Einheit“) – das alles sind keine klassischen Legenden, die sich zumeist auf eine Erzählung beschränken, aus der sich ein Stamm in seiner Lebensweise legitimiert. Im Prinzip waren diese Legendenbildungen ehrlicher als die zumeist kurzlebigen, umstrittenen, zum Teil peinlichen (Kohl-Einheit) modernen Legenden.

Den traditionellen sozialstiftenden Legenden kommt aber in bezug auf den Erzählstrang – im Gegensatz zum Märchen, das die phantastisch aufgeladene Geschichte vom Erwachsenwerden erzählt – oft (wenn auch nicht immer) etwas Realistisches zu, etwas Glaubhaftes, etwas, das geschehen sein könnte, wenn auch vielleicht nicht so, wie die Erzählung es vorgibt. „Atanarjuat – die Legende vom schnellen Läufer“ (2002) ist eine solche filmisch umgesetzte Legende – ein Streifen, der viel zu wenig beachtet wurde. Die neuseeländische Regisseurin Niki Caro („Sehnsucht und Erinnerung“, 1997) hat jetzt für das Kino den Roman eines Maori-Schriftstellers, Witi Ihimaera, adaptiert. Ihimaera schrieb diesen Roman, weil seine Töchter sich beschwert hatten, in den anderen Maori-Geschichten wären immer nur Jungen als Helden.

Die Besetzung des Films ist bis in die Nebenrollen exzellent. Aber besonders hervorheben muss man Keisha Castle-Hughes, die spielt, als hätte sie nie etwas anderes getan.

Im Mittelpunkt von „Whale Rider“ steht eine sozialstiftende Legende und ein 12-jähriges Mädchen. Die Legende besagt, dass die heute lebenden Einwohner, Maoris, in Whangara an der neuseeländischen Ostküste von einem Mann namens Paikea abstammen, der über den Pazifik aus Hawaiki (1) auf einem Wal hierhin gekommen sei. Koro (Rawiri Paratene) ist Oberhaupt der Maori in Whangara. Sein Sohn Porourangi (Cliff Curtis) hatte vor zwölf Jahren seine Frau verloren, die bei der Geburt beider Zwillinge zusammen mit dem männlichen Baby gestorben war. Nur die Tochter Paikea, genannt Pai (Keisha Castle-Hughes) hatte überlebt – zur Enttäuschung von Koro, der von Porourangi einen männlichen Nachfolger als Oberhaupt erwartet hatte.

Koro hält als Oberhaupt der Maori die Tradition aufrecht, zumindest versucht er es. Doch selbst seine Frau Nanny Flowers (Vicky Haughton) sagt ihm häufig deutlich ihre Meinung, wenn Koro Porourangi oder Pai schlecht behandelt. Koro ist kein schlechter Mensch; er liebt seine Frau, seinen Sohn und Pai, die bei ihren Großeltern lebt, während ihr Vater nach ihrer Geburt nach Europa gegangen war. Der Tod seiner Frau hatte ihm schwer zugesetzt, ebenso aber, dass Koro mehr um den bei der Geburt verstorbenen Sohn trauerte als um Porourangis Frau. Porourangi ist Künstler, hat u.a. in Deutschland etliche Ausstellungen und heiratet dort eine Frau, wird Vater. Ab und zu kehrt er in seine Heimat zurück, um seine Eltern und vor allem Pai zu besuchen, der er absichtlich den Namen des Walreiters gegeben hatte.

Pai scheint ihm nicht übel zu nehmen, dass er sich überwiegend im Ausland aufhält. Sie ist erst zwölf, aber sie scheint mehr zu wissen und zu spüren als alle in ihrer Familie, einschließlich Koros.

Der Film schildert den Konflikt zwischen Tradition und modernem Leben – aber nicht, indem Niki Caro einen unüberwindlichen Widerspruch zwischen beiden behauptet. Sie lässt Pai und Koro lernen bzw. voneinander lernen. Koro sucht verzweifelt nach einem Nachfolger als Stammesoberhaupt, lässt die Jungen des Ortes antreten, um ihnen die Gebräuche und überlieferten Kampftechniken beizubringen. Pai will daran teilnehmen, wird jedoch barsch von Koro zurückgewiesen. Nanny Flowers sorgt dafür, dass Pai heimlich von ihrem Onkel ausgebildet wird. Pai will den Konflikt austragen. Als ihr Vater vorschlägt, sie solle mit ihm nach Europa kommen, stimmt sie zwar zunächst zu, entscheidet sich dann aber doch zum Bleiben. Pai ist es, die das Wahrzeichen des Häuptlings vom Meeresgrund holt, die in den Kämpfen mit den Jungens am besten aussieht.

Pai kann – im Gegensatz zu Koro – die Gesänge der Wale hören und mit ihnen „sprechen“, sie rufen. Als man eines Tages tatsächlich am Strand ein Dutzend Wale findet, besteht die Gefahr, dass sie alle sterben. Aber sie überleben. Denn Pai weiß, was zu tun ist – nicht nur für die Wale, sondern auch für die Menschen in Whangara ...

Pai ist ein Mädchen, wie man es nicht nur in Whangara treffen mag; doch zugleich ist sie eben auch Bewahrerin der alten Legende. Nur ihre Großmutter erkennt die emotionale Kraft, die in Pai steckt, in ihrem ganzen Ausmaß. Niki Caro gelingt eine erstaunliche Verbindung zwischen modernem Leben und lebendinger Legende, gerade und vor allem in der Figur der Pai. Pai interpretiert die Legende der Maori neu – nicht durch Worte, pädagogische Erzählung, Druck oder offenen Widerstand. Nein, durch integratives Verhalten und die Kraft, so zu handeln, wie sie es empfindet. Das Leben der Maori von Whangara kommt aus dem Wasser. Der Wal hat es gebracht, aber er hat Mann und Frau gebracht. Die Legende spricht nur von Paikea, dem Mann, und dem männlichen Prinzip. Pai sorgt dafür, dass den Maori und vor allem Koro bewusst wird, dass der Wal auch die Frau an Land gespült hat. Wie sie das bewerkstelligt, sei hier nicht verraten, gehört zu den überraschenden Momenten des Films. „Whale Rider“ ist trotzdem kein Film, der den Feminismus auf seine Fahnen geschrieben hat. Pai gelingt nämlich etwas sehr Bedeutendes. Sie lässt Koro und die anderen spüren, was Nanny Flowers längst weiß: Dass in jedem Mensch das männliche und weibliche Prinzip (oder wie man das immer nennen will) steckt und das sich beide Prinzipien ergänzen, ergänzen sollten, um Frieden und Glück zu finden, und dass das Wasser, aus dem das Leben kommt, nicht nur männliches Leben gebracht hat. „Whale Rider“ ist auch kein Erziehungsfilm. Denn Pai ist es fremd, ihren Großvater zu erziehen. Sie will, dass er etwas spürt, fühlt, empfindet, in seinem Herzen trägt, was er bislang ausgesperrt hatte. Und dabei hat sie einen guten Ansatzpunkt. Koro liebt seine Enkelin.

So legendenhaft manches in „Whale Rider“ aussehen mag, so realistisch ist der Film eben doch. Und nach allem hat er wahrlich nicht nur eine tiefere Bedeutung für Neuseeland, die Maoris oder die Menschen in Whangara.

(1) Wo das sagenumwobene Hawaiki liegt? Vgl. z.B. "The Journey to Aotearoa"