What Time Is It There?
(Ni Nei Pien Chi Tien)
Taiwan, Frankreich 2001, 116 Minuten
Regie: Tsai Ming-Liang

Drehbuch: Tsai Ming-Liang, Yang Pi-Ling
Director of Photography: Benoît Delhomme
Montage: Chen Sheng-Chang
Produktionsdesign: Yip Kam Tim

Darsteller: Lee Kang-Sheng (Hsiao Kang), Chen Shiang-Chyi (Shiang-Chyi), Lu Yi-Ching (Hsiao Kangs Mutter), Miao Tien (Hsiao Kangs Vater), Cecilia Yip (Frau in Paris), Jean-Pierre Léaud (Mann am Friedhof), Tsai Guei (Prostituierte), Arthur Nauzyciel (Mann in Telefonzelle), Chen Chao-Yung (Mann in U-Bahn-Station), David Ganansia (Mann im Restaurant)

Brüche

Welche Tragik und Komik zugleich: Der große weiße Fisch im Aquarium von Hsiao Kang (Lee Kang-Sheng) ist das einzige Lebewesen, dem der junge Mann Dinge erzählen kann, über die er sonst niemandem berichten würde. Und nun, nach dem Tod des Vaters (Miao Tien), behauptet Hsiaos Mutter (Lu Yi-Ching), in diesem Fisch sei der Verstorbene wiedergeboren. Von seinem Vater hatte Hsiao nicht viel an Lebensfreude vermittelt bekommen. Jetzt soll der Fisch sein reinkarnierter Vater sein? Eigentlich traut Hsiao seiner verzweifelten Mutter gar nicht, die aus Verzweiflung über den Tod ihres Mannes alles versucht, um ihn wieder zum Leben zu erwecken. Sie verkleistert die Wohnung irgendwo in Taipeh mit Klebeband, damit kein Sonnenlicht hereinscheint. Denn sie meint, der Vater könne Sonnenlicht nicht vertragen. Überall hat sie Kerzen aufgestellt, isst mit dem nicht anwesenden Vater und wehrt jeglichen Versuch ihres Sohnes ab, aus ihrem Trauma zu „steigen“.

Selbst auf der Toilette ist es stockfinster. Hsiao reicht sie eine Kerze, als der auf dem Klo sitzt. Allein dieses Bild – Hsiao auf der Toilette mit Kerze in der Hand, die Verzweiflung und Hilflosigkeit im Blick – deutet auf die gesamte Atmosphäre dieses Films, der weder nur komisch, noch nur tragisch ist, in dem sich in jedem Moment des Geschehens, das hier umgedeutet wird zu eindeutigen und doch so mehrdeutigen Momentaufnahmen, deren Aufeinanderfolge in gewisser Weise beliebig ist, Zeit und Raum zu einem einheitlichen Ganzen, einem Bild verschmelzen, dessen Wirkung und Charakteristik vergleichbar wäre dem Besuch einer Gemäldegalerie. Man schaut. Es ist nicht Sehen, sondern wirklich eher ein Schauen, ein fühlendes Betrachten, ein In-Sich-Aufnehmen von Alltagssituationen, in denen durch das Schauen mehr geschieht, als es die durch die Kamera eingefangenen Momentaufnahmen vordergründig verlauten lassen.

Regisseur Tsai Ming-Liang lässt den Beschauer, sein Publikum, wie durch einen Bilderrahmen blicken. Die Kamera steht zumeist still. Ich dachte an einer Stelle des Films an einen Besuch im Louvre, an Mona Lisa, deren Betrachten – je länger man davor steht – sich verändert. Das Bild bleibt, „wie es ist“, und verändert sich doch in jedem Moment des Schauens. Tsai Ming-Liang lässt die Zeit stillstehen und zugleich fließen, setzt einen Film in Szene, der als Ganzes betrachtet eine zeitlose und raumlose Momentaufnahme darstellt, während sich die einzelnen Momentaufnahmen zu einer Erzählung in Zeit und Raum zusammenfügen.

„Ni Nei Pien Chi Tien“ ist eine Familiengeschichte, in der Tsai Ming-Liang sozusagen „anthropologische Konstanten“, Leben, Tod, Liebe, Sehnsucht, Sexualität, Verzweiflung, Enttäuschung usw., im Verhältnis von drei, nein eigentlich vier Personen – Vater, Mutter, Sohn, „Tochter“ – „durchspielt“. Hsiao Kang verkauft in Taipeh Uhren. Der Tod des Vaters und die Begegnung mit der jungen Frau Shiang-Chyi sind die Initialzündungen, von denen aus Tsai Ming-Liang das Geschehen entrollt. Shiang-Chyi ist auf dem Weg nach Paris und will eine Uhr, die sowohl die Zeit in Taipeh, als auch die in Paris anzeigt. Die einzige Uhr, die ihr gefällt, ist die, die Hsiao Kang am Handgelenk trägt. Nach anfänglichem Zögern verkauft er Shiang-Chyi diese Uhr.

Für Hsiao Kang bedeutet die Begegnung mit Shiang-Chyi angesichts der emotionalen Enge, die durch den Tod des Vaters und das Trauma der Mutter entstanden sind, dass er ab nun alle seine Hoffnungen und Sehnsüchte auf Shiang-Chyi projiziert. Er hat sich in die junge Frau, die er nur zweimal flüchtig an seinem Stand getroffen hat, verliebt – was immer das auch unter solchen Umständen bedeuten mag. Er stellt alle Uhren, die ihm „über den Weg laufen“ auf Pariser Zeit, zum Beispiel in einem Uhrengeschäft, und selbst die Uhr an einem großen Gebäude.

Warum Shiang-Chyi nach Paris gefahren ist, bleibt im Verschwommenen. Sie fährt Metro, betrinkt sich, sitzt in einem Café, wandert durch die Stadt, ohne erkennbares Ziel. Alle drei – Mutter, Sohn, Shiang-Chyi – glauben für einen Moment, in der Sexualität Befreiung aus ihrer Einsamkeit zu finden. Shiang-Chyi lernt eine junge Frau aus Hongkong kennen (Cecilia Yip), Hsiao Kangs Mutter masturbiert, als sie an ihren verstorbenen Mann denkt, und Hsiao Kang selbst hat im Auto Sex mit einer Prostituierten (Tsai Guei). Zugleich sind diese drei parallelen Erfahrungen Ausdruck des Scheiterns, der Einsamkeit zu entrinnen und Zuneigung zu finden.

Die Parallelität des Geschehens hat dabei oft geheimnisvolle, fast schicksalhafte, ja mystische Züge, etwa wenn Hsiao Kang eines Nachts Truffauts „Sie küssten und sie schlugen ihn“ anschaut (die Szene, in der Jean-Pierre Leaud ziellos durch Paris läuft), während Shiang-Chyi auf einem Pariser Friedhof auf einer Parkbank einem Mann begegnet, der sich als Jean-Pierre vorstellt, Jean-Pierre Leaud, der Hauptdarsteller in Truffauts Film. Auch Shiang-Chyi projiziert ihre Sehnsüchte: auf Hsiao Kang, sucht in ihrer Handtasche nach dessen Telefonnummer, und Jean-Pierre schreibt ihr die seine auf einen Zettel und übergibt diesen mit einem Lächeln der jungen Frau – auf dem Friedhof, auf dem – so vermutet Roger Ebert in seiner Besprechung des Films – wahrscheinlich Truffaut begraben liegt, der für Leauds Schauspielerkarriere eine enorme Bedeutung hatte.

„Ni Nei Pien Chi Tien“ ist die Geschichte dreier Personen, die nur in der Phantasie wirklich zusammentreffen. Denn in ihren tatsächlichen Begegnungen verbleibt etwas Sporadisches, Unbedeutendes, Flüchtiges, Unauflösbares, Gebrochenes. So realistisch einzelne Szenen, die Bilder der beiden Städte, die anderen vorbeieilenden Personen auch wirken, so traumwandlerisch fühlt man sich durch Inszenierung und Kamera geführt. Es ist eine selten gesehene Poesie, die „Ni Nei Pien Chi Tien“ beflügelt, und der Schluss des Films hält eine Überraschung parat, die das Unsichere, Geheimnisvolle, Verwirrende und Mangelhafte im Leben der drei Hauptfiguren zusätzlich betont.